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Landgericht Stuttgart: Ablehnung einer Berufsunfähigkeitsrente nach PTBS durch die Allianz trotz positiver Entscheidung des eigenen Gutachters war rechtswidrig; Umorganisation war ebenfalls nicht zumutbar.

Urteil Landgericht Stuttgart v. 04.08.2020, Az. 16 O 369/17

(die Entscheidung ist hier nur auszugsweise wiedergegeben)

Der Kläger macht gegen die Beklagte Ansprüche auf Zahlung einer monatlichen Rente, Rückerstattung geleisteter Beiträge und Freistellung von der Beitragszahlungspflicht aus einer Berufsunfähigkeitszusatzversicherung geltend. Der Versicherungsvertrag sieht für den Fall einer Berufsunfähigkeit von mindestens 50 % die Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente in Höhe von monatlich 1.554,80 Euro und die Befreiung von der Beitragszahlungspflicht für die Rentenversicherung und die Berufsunfähigkeitszusatzversicherung vor. Der Kläger war zuletzt selbständig als Glasbläser tätig; er ist Meister im Glasapparatebau. In den Jahren 2006 bis 2008 erzielte der Kläger durchschnittliche jährliche Einkünfte in Höhe von 43.369,51 Euro. Am 18.09.2008 übersah und erfasste ein Autofahrer den mit dem Rad fahrenden 14-jährigen Sohn des Klägers, wodurch jener tödliche Schädelverletzungen erlitt. Der Kläger fand seinen Sohn unmittelbar nach dem Unfall tödlich verletzt auf der Straße. Durch diesen Schicksalsschlag entwickelte der Kläger eine posttraumatische Belastungsstörung, wobei deren Ausprägung und Auswirkung auf die berufliche Leistungsfähigkeit des Klägers zwischen den Parteien streitig ist.

Mit Leistungsantrag vom 25.05.2013 (Anlage K 4) zeigte der Kläger gegenüber der Beklagten den Eintritt bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit an und machte Ansprüche aus der Berufsunfähigkeitszusatzversicherung geltend. Daraufhin beauftragte die Beklagte den Psychiater Prof. Dr. Dose mit der Einholung eines psychiatrischen Gutachtens. Prof. Dr. Dose kam in seinem Gutachten vom 14.02.2014 (Anlage K 5) und in seiner schriftlichen Stellungnahme vom 18.03.2014 (Anlage K 6) jeweils zum Ergebnis, dass der Kläger aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung ( PTBS ) ab Mai 2013 nicht mehr in der Lage war, seinen Beruf als technischer Glasapparatebläser zu mindestens 50 % auszuüben. Wegen der genauen Feststellungen des Prof. Dr. Dose wird auf die Anlagen K 5 und K 6 verwiesen. Mit Schreiben vom 08.10.2014 (Anlage K 7) lehnte die Beklagte die Versicherungsleistungen ab. Sie begründete dies damit, dass eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit erst im Mai 2013 eingetreten sei. Zu diesem Zeitpunkt habe der Kläger jedoch seine Tätigkeit als selbstständiger Glasbläser bereits vier Jahre nicht mehr ausgeübt.

Der Kläger trägt im Wesentlichen vor, er habe im Rahmen seiner bis zum 18.09.2008 ausgeübten selbstständigen Tätigkeit als Glasapparatebläser komplexe Glasapparaturen für Wissenschaft und Forschung in der chemischen Industrie hergestellt und komplizierte Laborglasapparate repariert. Zu jener Zeit habe er keine Angestellten gehabt. Er sei am 18.09.2008 oder später voraussichtlich mindestens drei Jahre, jedenfalls aber am 18.03.2009 oder später tatsächlich sechs Monate ununterbrochen infolge einer posttraumatischen Belastungsstörung außerstande gewesen, seine zuletzt ausgeübte berufliche Tätigkeit als selbständiger Glasapparatebläser zu mindestens 50 % auszuüben. Nach dem 18.09.2008 habe er die Herstellung und die Reparatur komplexer Glasapparaturen eingestellt. Stattdessen habe er fortan nur noch künstlerische Glasgegenstände und Gebrauchsglas (z.B. Trinkgläser oder Karaffen) hergestellt. Dabei stelle der Beruf des technischen Glasapparatebläsers andere Anforderungen an ihn als derjenige des Kunstglasbläsers. Beim Beruf des Glasapparatebläsers und beim Beruf des Kunstglasbläsers handele es sich jeweils um eigenständige Ausbildungsberufe. Wegen der Einzelheiten des klägerischen Vortrags zu Umfang und Ausgestaltung seiner zuletzt ausgeübten beruflichen Tätigkeit sowie zu den behaupteten Auswirkungen seiner posttraumatischen Belastungsstörung auf seine berufliche Leistungsfähigkeit wird auf die Seiten 5 bis 13 der Klageschrift (BI. 5 ff. d. A.) verwiesen.

Der Kläger ist der Ansicht, er habe gegen die Beklagte Ansprüche auf Rentenzahlungen und auf Beitragsbefreiung seit dem 01.10.2008. Er sei seit dem 18.09.2008 bedingungsgemäß berufsunfähig gewesen. Eine Umorganisation seines Betriebs sei ihm aus wirtschaftlichen Gründen nicht zumutbar.

Die Beklagte bestreitet den Umfang und die Ausgestaltung der beruflichen Tätigkeiten des Klägers vor und nach dem 18.09.2008 mit Nichtwissen. Zudem bestreitet sie die vom Kläger behaupteten gesundheitlichen Beschwerden mit Nichtwissen. Ferner bestreitet die Beklagte mit Nichtwissen, dass sich die Erkrankung des Klägers negativ auf dessen Fähigkeit, komplizierte technische Glasapparate herzustellen, ausgewirkt habe.

Die Beklagte ist der Ansicht, beim Kläger liege keine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit vor. Er sei im Mai 2013 bereits seit mehr als vier Jahren als künstlerischer Glasbläser" tätig gewesen, weshalb diese Tätigkeit für die Frage der Berufsunfähigkeit auch maßgeblich sei.

Die Kammer hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin F.. Ferner hat die Kammer gemäß Beweisbeschluss vom 03.08.2018 (BI. 170 ff. d. A.), gemäß Beweisbeschluss vom 03.12.2018 (BI. 219 ff. d. A.) und gemäß Beweisbeschluss vom 09.01.2020 (81. 278 ff. d. A.) Beweis erhoben durch die Einholung von Sachverständigengutachten. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 18.05.2018 (BI. 153 ff. d. A.) sowie auf das schriftliche Gutachten des berufskundlichen Sachverständigen Kunze vom 01.11.2018 (BI. 177 ff. d. A.), das schriftliche Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen Dr. Segmiller vom 23.10.2019 (BI. 239 ff. d. A.) und auf das schriftliche Ergänzungsgutachten des Sachverständigen Dr. Segmiller vom 29.04.2020 (BI. 285 ff. d. A.} Bezug genommen. Mit Beschluss vom 07.07.2020 hat die Kammer mit Zustimmung der Parteien beschlossen, gemäß § 128 Abs. 2 ZPO ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden (BI. 309 ff. d. A.).

Enscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig und weitgehend begründet.

1. Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch gemäß § 172 Abs. 1 WG i.V.m. §§ 1 Abs. 1, 2 Abs. 1- BB-BUZ auf Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente und Erstattung von geleisteten Versicherungsbeiträgen.
a) Nach der durchgeführten Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger jedenfalls seit dem 18.12.2008 zu mindestens 50 % berufsunfähig im Sinne der Versicherungsbedingungen gewesen ist.
aa) Nach § 2 Abs. 1 BB-BUZ liegt Berufsunfähigkeit vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich mindestens drei Jahre außerstande sein wird, ihren Beruf (bei Selbständigen auch nach einer zumutbaren Umorganisation des Betriebes) auszuüben und sie auch keine andere Tätigkeit ausübt, die ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht.
bb) Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Nach der durchgeführten Beweisaufnahme ist die Kammer davon überzeugt, dass der Kläger jedenfalls seit dem 18.12.2008 aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung zu mehr als 50 % außerstande war, seiner zuletzt ausgeübten beruflichen Tätigkeit als Glasapparatebläser nachzugehen.
(1) Abzustellen war hier auf die zuletzt ausgeübte Tätigkeit des Klägers als technischer Glasapparatebläser mit einem geringen Betätigungsfeld als Kunstglasbläser. Dabei ist die Kammer nach der durchgeführten Beweisaufnahme davon überzeugt, dass der Kläger durchschnittlich zehn Stunden am Tag an sechs Tagen in der Woche komplexe Glasapparaturen für Wissenschaft und Forschung in der chemischen Industrie herstellte und komplizierte Laborglasapparate reparierte. Die Zeugin F. hat Art und Umfang der Tätigkeit des Klägers bestätigt. Sie hat sachlich, frei von Widersprüchen und nachvollziehbar bekundet, der Kläger habe zu 80 % bis 90 % für die Chemie gearbeitet, der Rest sei Kunst gewesen. Dabei habe der Kläger „wahnsinnig viel gearbeitet, teilweise auch nachts" und „oft [auch) samstags und sonntags." Die vom Kläger behauptete Wochenarbeitszeit von 70 Stunden halte sie .,für realistisch" (BI. 154 f. d. A.). Das Gericht hält die Angaben der Zeugin für glaubhaft. Insbesondere spricht für den Umfang der Tätigkeit des Klägers, dass dieser zu jener Zeit den glaubhaften Angaben der Zeugin Franz zufolge keine Angestellten hatte und damit sämtliche in seinem Betrieb anfallenden Tätigkeiten selbst ausüben musste.
(2) Der Kläger war jedenfalls seit dem 18.12.2008 aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung zu mehr als 50 % außerstande, seiner zuletzt ausgeübten beruflichen Tätigkeit als technischer Glasapparatebläser nachzugehen. Dies steht nach der durchgeführten Beweisaufnahme zur Überzeugung der Kammer fest.
(a) Aus dem nachvollziehbaren und überzeugenden schriftlichen Gutachten des psychiatrischen Sachverständigen Dr. Segmiller vom 23.10.2019 nebst schriftlichem Ergänzungsgutachten vom 29.04.2020 ergibt sich aus Sicht der Kammer mit hinreichender Sicherheit, dass der Kläger jedenfalls seit dem 18.12.2008 an einer posttraumatischen Belastungsstörung litt, aufgrund,-.. welcher er nicht mehr in der Lage war, seiner zuletzt ausgeübten beruflichen Tätigkeit als Glasapparatebläser zu mindestens 50 % nachzugehen. Der Sachverständige Dr. Segmiller hat sich zur Begründung seiner diesbezüglichen Feststellungen neben den eigenen Untersuchungen des Klägers insbesondere auf den Bericht der Inntal Klinik aus dem Jahr 2011 gestützt, der aus Sicht des Sachverständigen eindeutig und ohne Zweifel belegt, dass für das zuletzt ausgeübte Tätigkeitsbild noch 2011 massive Störungen der beruflichen Leistungsfähigkeit des Klägers bestanden. Ferner verweist der Sachverständige Dr. Segmiller auf testpsychologische Untersuchungsergebnisse, nach denen beim Kläger keine Hinweise auf eine Simulation oder Aggravation festgestellt werden konnten.
Ferner stützt sich der Sachverständige Dr. Segmiller auf die Feststellungen des von der Beklagten beauftragten Privatgutachters Prof. Dr. Dose, der ebenfalls zum Ergebnis kommt, dass der Kläger aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung ab Mai 2013 nicht mehr in der Lage war, seinen Beruf als technischer Glasapparatebläser zu mindestens 50 % auszuüben. Soweit sich die Feststellungen des Prof. Dr. Dose nur auf den Zeitraum ab Mai 2013 beziehen, hat der Sachverständige Dr. Segmiller nachvollziehbar ausgeführt, dass hier gleichwohl wenige Wochen nach dem Unfallereignis, jedenfalls aber ab dem 18.03.2009 von einer ununterbrochenen Einschränkung der beruflichen Leistungsfähigkeit des Klägers von mindestens 50 % auszugehen sei. Es widerspreche dem Verlauf von posttraumatischen Belastungsstörungen vollkommen, dass noch im Jahr 2011 erhebliche dokumentierte Symptome aufflammen. Im Gegensatz zu einer reinen Depression, die phasenweise verlaufe, sei bei posttraumatischen Belastungsstörungen eine solche drastische Phasenbegrenzung klar zu verneinen. Vielmehr sei davon auszugehen, dass bereits wenige Wochen nach dem Unfallereignis die medizinischen Voraussetzungen einer Berufsunfähigkeit vorlagen und bis heute fortbestehen. Allerdings könne der genaue Beginn nicht exakt eingegrenzt werden; vielmehr müssten die Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung einige Zeit bestehen, um sich negativ auf das Leistungsvermögen auszuwirken. Der Sachverständige Dr. Segmiller schätzt diesen Zeitraum „unter Berücksichtigung der Aktenlage, der eigenen Angaben [des Klägers] und des allgemeine-psychiatrischen Wissens [sie]" auf etwa drei Monate (BI. 265 d. A.).
(b) Die Kammer ist von der Richtigkeit der Ausführungen des Sachverständigen Dr. Segmiller überzeugt. Die fachliche Einschätzung des Sachverständigen Dr. Segmiller deckt sich insbesondere mit den Feststellungen des Privatgutachters Prof. Dr. Dose, der beim Kläger ebenfalls eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit festgestellt hat. Nach den plausiblen Schilderungen des Sachverständigen Dr. Segmiller ist auch davon auszugehen, dass sich die beim Kläger vorliegende posttraumatische Belastungsstörung ab dem 18.12.2008 so auf dessen berufliche Leistungsfähigkeit auswirkte, dass jene zu mindestens 50 % eingeschränkt war. Die diesbezügliche Schätzung des Sachverständigen Dr. Segmiller nebst nachvollziehbarer Erläuterung reicht der Kammer aus, um eine am 18.12.2008 beginnende Berufsunfähigkeit mit der im Rahmen des § 286 ZPO erforderlichen Sicherheit anzunehmen.
(3) Ein früherer Eintritt der Berufsunfähigkeit lässt sich indes nicht mit der im Rahmen des § 286 ZPO erforderlichen Sicherheit feststellen. Insoweit hat der Kläger den ihm obliegenden Beweis nicht erbracht. Der Sachverständige Dr. Segmiller hat hierzu ausgeführt, dass sich aufgrund der verstrichenen Dauer der genaue Beginn der bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit nicht genau bestimmen ließe und damit die klägerische Behauptung einer seit dem 18.09.2008 vorliegenden Berufsunfähigkeit insoweit nicht bestätigt. Auch sprechen keine ausreichenden sonstigen Anhaltspunkte für einen früheren Eintritt der Berufsunfähigkeit, zumal unmittelbar nach dem Unfall keine aussagekräftigen medizinischen Befunde gestellt wurden. Vielmehr spricht nach den Ausführungen des Sachverständigen einiges dafür, dass sich die posttraumatische Belastungsstörung erst nach einer gewissen Zeit so stark auf sein berufliches Leistungsvermögen ausgewirkt hat, dass von einer bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit ausgegangen werden kann.
(4) Vor dem Hintergrund der vom Kläger vollständig nachvollziehbar beschriebenen und vom Sachverständigen vollumfänglich bestätigten Auswirkungen seiner Erkrankung kommt auch keine Umorganisation des Betriebs in Betracht.
(a) Zwar ist die bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit nicht gegeben, wenn die versicherte Person nach Eintritt der Berufsunfähigkeit als Selbständiger mit Weisungs- und Direktionsbefugnis nach wirtschaftlich angemessener Umorganisation innerhalb des Betriebes weiter tätig sein könnte (vgl. OLG Hamm, Urt. v. 26.09.2012 -1-20 U 23/12, juris Rn. 55). Dabei hat der mitarbeitende Betriebsinhaber dazulegen und erforderlichenfalls zu beweisen, dass ihm auch eine zumutbare Betriebsorganisation keine von ihm gesundheitlich zu bewältigenden Betätigungsmöglichkeiten eröffnen könnte, die die bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit ausschließen. Allerdings steht die Möglichkeit einer Umorganisation der bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit nur entgegen, wenn sie dem klagenden Betriebsinhaber nach den konkreten Umständen des jeweiligen Einzelfalls zugemutet werden kann. Hiervon kann insbesondere dann nicht ausgegangen werden, wenn er, etwa aufgrund der Einstellung zusätzlicher Arbeitskräfte, auf Dauer ins Gewicht fallende Einkommenseinbußen zu befürchten hätte (Saarländisches OLG Saarbrücken, Urt. v. 27.03.2019 - 5 U 44/17, juris Rn. 76 f.; BGH, Urt. v. 12.06.1996 - IV ZR 117/95, juris Rn. 28).
(b) Im vorliegenden Fall ist dem Kläger eine Umorganisation seines Betriebs unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten nicht zumutbar. Der Kläger hat nachvollziehbar vorgetragen, dass er sein Tätigkeitsfeld nach dem Unfall geändert habe und als Kunstglasbläser tätig gewesen sei. Dass diese Umorganisation tatsächlich wie vom Kläger behauptet stattgefunden hat, steht nach der durchgeführten Beweisaufnahme fest. Die Zeugin F. hat glaubhaft bestätigt, der Kläger habe nach dem Unfall „umgestellt auf Kunst" (BI. 154 d. A.). Etwa ein halbes Jahr nach dem Unfall habe der Kläger „dann nur noch Kunstgegenstände produziert" (BI. 155 d. A.). Die Kammer hält auch diesen Teil der Aussage der Zeugin Franz für glaubhaft.
Die Umorganisation des klägerischen Betriebs hat jedoch zu einem deutlichen Rückgang der Einkünfte des Klägers geführt und ist deshalb wirtschaftlich nicht zumutbar. So erzielt der Kläger in den Jahren 2006 bis 2008 noch durchschnittliche Einkünfte in Höhe von 43.369,51 Euro, während seine Einkünfte in den Jahren 2009 bis 2015 (d.h. nach der Umorganisation) bei durchschnittlich 16.895,00 Euro lagen. Dies Entspricht einem Rückgang von 62 %. Weitere Möglichkeiten einer betrieblichen Umorganisation sind hier weder vorgetragen noch ersichtlich. Denn es handelte sich beim Betrieb des Klägers im Jahr 2008 um einen inhabergeführten Betrieb ohne Mitarbeiter, weshalb etwa eine schwerpunktmäßige Befassung mit Verwaltungsaufgaben nicht in Betracht kommt.
(5) Die Beklagte kann den Kläger auch nicht nach § 2 Abs. 1 BB-BUZ bzw. nach § 2 Abs. 3 BB­BZU auf eine andere Tätigkeit verweisen.
a) Nach den Versicherungsbedingungen liegt keine Berufsunfähigkeit vor, wenn die versicherte Person eine andere Tätigkeit ausübt, die ihrer bisherigen Lebensstellung entspricht. Dabei kann dahinstehen, ob der Kläger seit dem Unfall eine Tätigkeit als Kunstglasbläser ausübt. Denn jedenfalls entspricht diese Tätigkeit nicht seiner bisherigen Lebensstellung. Die bisherige Lebensstellung wird vor allem durch die zuletzt ausgeübte Tätigkeit geprägt. Ihre Berücksichtigung sondert Tätigkeiten aus, deren Ausübung deutlich geringere Fähigkeiten und Erfahrung erfordert als der bisherige Beruf. Die Lebensstellung des Versicherten wird also von der Qualifikation seiner Erwerbstätigkeit bestimmt, die sich wiederum daran orientiert, welche Kenntnisse und Erfahrungen die ordnungsgemäße und sachgerechte Ausübung der Tätigkeit voraussetzt. Eine Vergleichstätigkeit ist dann gefunden, wenn die neue Erwerbstätigkeit keine deutlich geringeren Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert und in ihrer Vergütung sowie in ihrer sozialen Wertschätzung nicht spürbar unter das Niveau des bislang ausgeübten Berufs absinkt (st. Rspr., vgl. BGH, Urt. v. 21.04.2010- IV ZR 8/08, juris Rn. 11; BGH, Urt. v. 20.12.2017-IV ZR 11/16, juris Rn. 10; jeweils m.w.N.).
(b) Selbst wenn man hier unterstellt, dass der Kläger seit dem Unfallereignis eine Tätigkeit als Kunstglasbläser ausübt, entspricht diese Tätigkeit - insbesondere im Hinblick auf die zu erfüllenden Anforderungen, Qualifikation und die Vergütung - nicht seiner bisherigen Lebensstellung, die durch seinen zuletzt ausgeübten Beruf als Glasapparatebläser geprägt ist. Der Beruf des Glasapparatebläsers stellt insgesamt höhere Anforderungen an den Kläger als derjenige des Kunstglasbläsers. Dies steht zur Überzeugung der Kammer nach der durchgeführten Beweisaufnahme fest. Bei der Fertigung von technischen Glasapparaturen, die im naturwissenschaftlichen Bereich eingesetzt werden, bestehen nach den nachvollziehbaren Ausführungen des berufskundlichen Sachverständigen Kunze insbesondere höchste Anforderungen an Funktion, Maßhaltigkeit, Passgenauigkeit und Materialeigenschaften. Demgegenüber sollten kunsthandwerkliche bzw. künstlerische Glasprodukte auch den Vorgaben an äußere Form, Proportionen, Funktion, Farbgebung oder Größe entsprechen (BI. 179 d. A.). Bei technischen Glasprodukten führen bereits kleinste Abweichungen zur Unbrauchbarkeit, während bei bestimmten künstlerischen Glasprodukten weniger präzise gearbeitet werden muss und Nachbesserungen möglich sind (BI. 183 f. d. A.).Zudem stellt eine rein künstlerische Tätigkeit geringere Anforderungen an die berufliche Qualifikation als der Beruf des technischen Glasapparatebläsers. Bei der Tätigkeit als Kunstglasbläser handelt es sich um einen eigenständigen Ausbildungsberuf, bei dem - ebenso wie beim Beruf des Glasapparatebläsers - zur Betriebsführung und Selbständigkeit grundsätzlich Meisterzwang besteht. Dies gilt allerdings ausweislich der Ausführungen des Sachverständigen Kunze nicht für rein künstlerische Tätigkeiten. Der Kläger übt vorliegend eine rein künstlerische Tätigkeit aus. Ferner ist hier zu berücksichtigen, dass die Tätigkeit als Kunstglasbläser im Falle des Klägers über einen repräsentativen Zeitraum von mehreren Jahren hinweg zu signifikanten Einkommenseinbußen von etwa 62 % geführt hat.

Anmerkung Rechtsanwalt Dr. Büchner

Bemerkenswert an der Entscheidung ist v.a., dass die Allianz Lebensversicherung das Votum ihres eigenen Gutachters ignorierte und die Leistungen vollständig ablehnte. Zwar hatte der von der Allianz beauftragte Gutachter ein späteres Leistungsdatum gesehen als letztlich der gerichtliche Sachverständige, welcher unseren Mandanten von Beginn an als berufsunfähig ansah. Aber auch zu dem späteren Leistungsdatum, welches der eigene Gutachter vorschlug, wollte man sich nicht durchringen. Angesichts des zugrundeliegenden dramatischen Geschehens eine fachlich aber auch menschlich nicht nachvollziehbare Entscheidung, welche uns in einer solchen Form bisher auch nicht untergekommen war.

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