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SG Altenburg: Ein GdB von 60 wegen einer chronischen PTBS, nebst rezidivierender depressiver Episode und Schmerzstörung ist auch dann gerechtfertigt, wenn der Kläger in seiner Freizeit gelegentlich Bühnenauftritte als Schlagersänger wahrnimmt.

Urteil Sozialgericht Altenburg vom 27.01.2023, Az. S 19 SB 101/22

Der Kläger stellte am 04.11.2020 einen Erstantrag nach dem Schwerbehindertenrecht wegen orthopädischer Beeinträchtigungen, einer chronischen Schmerzstörung und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Der Beklagte (Versorgungsamt) holte Befundberichte ein und setzte den GdB mit Bescheid vom 23.06.2021 auf 40 fest. Dagegen erhob der Kläger Widerspruch, der mit Widerspruchsbescheid vom 17.01.2022 zurückgewiesen wurde. Der Bewertung liegen folgende Einzel-GdB zugrunde:

1. Psychische Störungen, chronisches Schmerzsyndrom, GdB 40

2. Funktionsbehinderung der Lendenwirbelsäule, GdB 20

3. follikuläre Dermatitis, Rosazea, GdB 10

Am 26.01.2022 hat der Kläger Klage erhoben. Die Einzel-GdB werden für zu niedrig gehalten. Der Beklagte habe die negativen Wechselwirkungen der somatischen und psychischen Erkrankung nicht umfassend gewürdigt. Das Gericht hat Befundberichte bei der Psychiaterin Dr. H. eingeholt, dem Dermatologen Dr. R., dem Hausarzt Dr. K. und einen Bericht des Klinikums D.  Der Gutachter Dr. P. hat im Auftrag des Gerichts das psychiatrische Gutachten vom 30.08.2022 vorgelegt und auf seinem Fachgebiet einen GdB von 70 empfohlen.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom. 23.06.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17.01.2022 zu verurteilen, den GdB des Klägers auf mind. 50 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte hat angesichts des Gutachtens auf die regionale Präsenz des Klägers durch diverse Gesangsauftritte, dokumentiert durch entsprechendes Werbematerial und den Intemetauftritt des Klägers, hingewiesen. Die hierzu vom Kläger abgegebene Einlassung hat dem Facharzt für Allgemein- und Arbeitsmedizin Dr. K. vorgelegen, der für den Beklagten die versorgungsmedizische Stellungnahme vom 12.12.2022 abgegeben und die bisherigen GdB für korrekt gehalten hat.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des weiteren Vortrages der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte des Beklagten so­wie auf die Sitzungsniederschrift vom 27.01.2023 Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet.

Der Bescheid des Beklagten vom 23.06.2021 i.G.d. Widerspruchsbescheides vom 17.01.2022 ist rechtwidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 54 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsge­setz (SGG).

Nach § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen behindert, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand ab weicht Die Auswirkungen auf die Teilhabe in der Gesellschaft sind nach § 152 Abs. 1 Satz 5 SGB IX abgestuft als Grad der Behinderung in Zehnergraden von 10 bis 100 festzustellen. Eine Feststellung ist nach Satz 6 nur zu treffen, wenn ein GdB von wenigstens 20 vorliegt.

Für die Beurteilung des Ausmaßes der Funktionseinschränkung gelten gemäß § 241 Abs. 5 SGB IX die Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG) in der Anlage zu § 2 der Versor­gungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I S. 2412) im Geset­zesrang (BSG, Urteil vom 24.10.2019 - B 9 SB 1/18 R, Rn. 12 a.E., juris).

Nach den VG Teil A: Allgemeine Grundsätze, Abschnitt 2 d) sind die in der GdS-Tabelle (GdS -Grad der Schädigungsfolgen) aufgeführten Werte aus langer Erfahrung gewonnen und stellen altersunabhängige (auch trainingsunabhängige) Mittelwerte dar. Je nach Einzelfall kann von den Tabellenwerten mit einer die besonderen Gegebenheiten darstellenden Begründung abgewichen werden. Nach der Vorbemerkung zu der genannten Regelung wird einheitlich die Abkürzung GdS benutzt, wenn mit dem Grad der Behinderung und dem Grad der Schädigungsfolgen das Maß für die Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft gemeint ist.

Die Bemessung des GdB ist nach der ständigen Rechtsprechung des BSG in drei Schritten vorzunehmen und grundsätzlich tatrichterliche Aufgabe, wobei das Gericht nur bei der Feststellung der einzelnen nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen (1. Schritt) ausschließlich ärztliches Fachwissen heranziehen muss. Bei der Bemessung der Einzel-GdB (2. Schritt) und des Gesamt-GdB (3. Schritt) kommt es indessen nach § 152 SGB IX maßgebend auf die Auswirkungen der Gesundheitsstörungen auf die Teilnahme am Leben in der Gesellschaft an. Bei diesem 2. und 3. Verfahrensschritt hat das Tatsachengericht über die medizinisch zu beurteilenden Verhältnisse hinaus weitere Umstände auf gesamtgesellschaftlichem Gebiet zu berücksichtigen (BSG, Beschluss vom 22. Dezember 2017 - B 9 SB 68/17 B Beschluss vom 15. Mai 2017. - B 9 SB 8/17 B-Juris).

Die anspruchsbegründenden Tatsachen sind nach den allgemeinen Grundsätzen des sozialge­richtlichen Verfahrens im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG, Urteil vom 15. Dezember 1999, Az. B 9 VS 2/98 R, juris), d.h. es ist erforderlich, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Ur­teil vom 28. Juni 2000, Az. B 9 VG 3/99 R, juris).

Ausgehend hiervon hat die Klage Erfolg.

1. Wirbelsäule

Der GdB für angeborene und erworbene Schäden an den Haltungs- und Bewegungsorganen wird entscheidend bestimmt durch die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen (Bewe­gungsbehinderung, Minderbelastbarkeit) und die Mitbeteiligung anderer Organsysteme. Die üblicherweise auftretenden Beschwerden sind dabei mitberücksichtigt. Mit Bild gebenden Ver­fahren festgestellte Veränderungen (z. B. degenerativer Art) allein rechtfertigen noch nicht die Annahme eines GdB. Ebenso kann die Tatsache, dass eine Operation an einer Gliedmaße oder an der Wirbelsäule (z. B. Meniskusoperation, Bandscheibenoperation, Synovialektomie) durch-geführt wurde, für sich allein nicht die Annahme eines GdB begründen, Teil B Nr. 18.1 VG.

Explizit bei Wirbelsäulenschäden ergibt sich nach Teil B Nr. 18.9 VG der GdB primär aus dem Ausmaß der Bewegungseinschränkung, der Wirbelsäulenverformung und -instabilität sowie aus der Anzahl der betroffenen Wirbelsäulenabschnitte. Im Einzelnen ist bei Wirbelsäulenschä­den mit geringen funktionellen Auswirkungen ein GdB von 10 vorgesehen, im Fall mittelgradiger funktioneller Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt von 20. Erst bei schweren funktionellen Auswirkungen in einem Wirbelsäulenabschnitt wird ein GdB von 30 erreicht, bei mittelgradigen bis schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten von 30 bis zu 40 und bei besonders schweren Auswirkungen von 50 bis max. 100.

Die Bewertung mit einem GdB von 20 wurde nicht bzw. nicht durch substantiierten Vortrag in Frage gestellt. Der Gutachter hat bei der Untersuchung des Klägers eine uneingeschränkte Beweglichkeit ohne Druck- oder Klopfschmerz befundet, ansonsten lediglich einen paravertebralen Hartspann bds. der Lendenwirbelsäule. Bildgebend waren in Bereich der Lendenwirbelsäule Degenerationszeichen festgestellt worden. Der Gutachter verweist in diesem Zusammenhang auf Verdeutlichungsanzeichen i.R.d. körperlichen Untersuchung und hält die Schmerzangaben für nur bedingt objektivierbar bzw. nicht erkennbar. Mangels behinderungswirksamer Funktionsstörungen ist daher der GdB von 20 nicht zu rechtfertigen. Die Schmerzsymptomatik geht mit dem organischen Befund nicht konform und ist somit vielmehr im Bereich somatischer Beschwerden, d.h. im Zusammenhang mit der psychischen Problematik zu bewerten.

2. Depression

Die VG sehen für „Neurosen, Persönlichkeitsstörungen, Folgen psychischer Traumen“ bei leichteren psychovegetativen oder psychischen Störungen einen GdB von 0 - 20, bei stärker behindernden Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit (z. B. ausgeprägtere depressive, hypochondrische, asthenische oder phobische Störungen, Entwicklungen mit Krankheitswert, somatoforme Störungen) einen GdB von 30 - 40 vor. Liegen schwere Störungen (z. B. schwere Zwangskrankheit) mit mittelgradigen sozialen Anpas­sungsschwierigkeiten vor, beträgt der GdB 50 - 70; bei schweren sozialen Anpassungsschwie­rigkeiten 80 - 100 (Teil B, Nr. 3.7 VG).

Beim Gutachter hat der Kläger seine persönliche Situation geschildert und ihn belastende, ins­besondere familiäre Umstände. Er habe immer viel gearbeitet, sei ein „Macher“ gewesen und habe in seiner Event-Firma mehrere Mitarbeiter beschäftigt. Die Firma existiere noch, habe aber keine Mitarbeiter mehr. Gegenwärtig beziehe er eine Erwerbsunfähigkeitsrente.

Ergänzend hat der Kläger in der mündlichen Verhandlung erklärt, der Rückgang seiner ge­schäftlichen Tätigkeit sei zum einen auf die Corona-Epidemie zurückzuführen, zum anderen auf seine gesundheitliche Situation, wegen derer er nicht mehr in der Lage gewesen sei, die Firma im bisherigen Umfang zu führen. Die Anzahl seiner musikalischen Auftritte liege noch bei 5 Prozent dessen, was er sonst gemacht habe.

Zum Tagesablauf befragt, erklärte der Kläger beim Gutachter, er bringe seinen Sohn zur Schule und versinke, zu Hause angekommen, in Selbstmitleid. Er gehe in die Firma auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo jedoch keiner mehr sei, sitze dort eine Zeitlang, gehe dann wieder nach Hause. Mitunter gehe er morgens auch in den Garten, einmal pro Woche auch zur Physiotherapie. Gegen 14.00 Uhr hole er seinen Sohn wieder ab, mache mit ihm die Hausaufgaben, versuche mit ihm zu spielen, was mitunter nur bedingt gelinge. Er könne sich an nichts mehr recht freuen, sei innerlich leer und freudlos. Seine Frau komme gegen 16.30 Uhr von der Arbeit, kümmere sich dann um das Abendessen. Er selbst schaffe letztlich nichts mehr, nicht einmal die einfachen Dinge im Haushalt. Meist gehe er mit seinem Sohn gegen 20.00 Uhr ins Bett, obwohl er nicht einschlafen könne. Seine Frau habe aktuell Probleme mit seiner Wehleidigkeit und versuche ihn, zu motivieren, schaffe es jedoch nicht. Auch habe er den Kontakt zu anderen Menschen abgebrochen und habe kaum noch Freunde.

Die gedrückte Stimmung sei 2019 aufgetreten. Er leide an Flashbacks und Intrusionen, verbunden mit Ängsten, Unruhe, Herzrasen und Schweißausbrüchen. In der mündlichen Verhandlung ergänzte er, Auslöser sei damals ein erneuter epileptischer Anfall seines jüngeren Sohnes gewesen. Er sei dann rastlos und getrieben, was ihn sehr erschöpfe. Er fühle sich wertlos, verspüre Resignation und Hilflosigkeit, grüble viel. Er leide unter ausgeprägter Energielosigkeit bzw. Antriebsmangel und könne sich seinen aktuellen Zustand nicht erklären. Er schlafe schlecht, leide unter Alpträumen. Hinzu kämen seit 2011 massive Schmerzen im Bereich der Lendenwirbelsäule, die in beide Schienbeine ausstrahlten. Neu sei ein Dauerschmerz in den Gelenken, insbesondere der Hände/Finger. Die Schmerzen bewertete er mit einem Grad von 8 (auf einer Skala von 1-10) bzw. auf 9-10 in Ruhe. Seit längerer Zeit nehme er tags das Präparat Palexia, nachts zwei andere Präparate. Damit könne er „zumindest annährend leben“.

Der Gutachter notiert glaubhafte Konzentrations- und Aufmerksamkeitsstörungen und beobachtete eine gedrückte, nachdenkliche Stimmungslage. Zwar sei der Verdacht auf eine Aggra­vationstendenz aufgekommen; dies wertet der Gutachter als motiviert durch das Gefühl, sonst kein Gehör zu finden. Der Gutachter diagnostiziert eine chronische posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), eine rezidivierende depressive Episode, aktuell schwergradig und eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren. Er vermutet eine Komorbidität i.R.d. posttraumatischen Belastungsstörung, welche die chronische Schmerzstörung akzentuiert bzw. diese erst ausgelöst habe. Eine organische Ursache der Schmerzstörung sei nicht erkennbar. Angesichts der Entwicklung seit 2018/2019 sei es trotz therapeutischer Maßnahmen zu keiner Auflösung der Belastungsstörung gekommen und es bestehe die Gefahr der Chronifizierung bzw. andauernder Persönlichkeitsänderung. Weiterhin bestehe vermutlich eine Opiatabhängigkeit. Da sich der Kläger nicht mehr in der Lage sehe, seiner Berufstätigkeit nachzugehen, bestehe auch ein sozialer Rückzug.

Den GdB bewertet der Gutachter insgesamt mit 70. Diese Einschätzung liegt am oberen Rand der Empfehlungen zu mittelgradigen sozialen Anpassungsstörung bzw. am Rand zu einer schweren Persönlichkeitsstörung. Die Kammer schließt sich nach eigener Prüfung dem Gutachten an, das schlüssig, nachvollziehbar und mit der Befundlage vereinbar ist, allerdings mit der Einschränkung, dass lediglich ein GdB von 60 für leidensgerecht gehalten wird.

Die vom Beklagten präsentierte versorgungsmedizinische Stellungnahme bestätigt zunächst die Feststellungen des Gutachters in Bezug auf orthopädische Beschwerden, die auch er nicht objekti­vieren konnte. Die Schmerzsymptomatik hat der Versorgungsmediziner dem Teil-GdB für die seelische Störung zugeordnet, was die Kammer ebenfalls für zutreffend hält. Insoweit hat auch der Gutachter keine Anhebung des GdB von 70 vorgenommen.

Bzgl. der seelischen Störung hat sich Dr. K. auf den Bericht des Universitätsklinikums Jena vom 31.05.2022 bezogen, aus dem sich ergibt, dass die Behandlung auf 4 Konsultationen im Jahr beschränkt werde. Auch habe der Kläger das schon Anfang 2021' ausgesprochene Angebot einer Reha abgelehnt. Dr. K. vermisst weitere Nachfragen des Gutachters zum Sachverhalt, verneint angesichts der musikalischen Präsenz des Klägers eine soziale Isolation und hält mangels sozialer Anpassungsstörungen einen GdB von 40 weiter für gerechtfertigt. Ein GdB von 70 hält aus seiner Sicht dem Vergleich mit anderen Behinderungen dieses Grades nicht Stand.

Der Gutachter hat dazu ergänzend Stellung genommen und an seiner Bewertung festgehalten. Er verweist auf die durchgeführten Testverfahren und die Diagnosefindung auf Grundlage des ICD-10.

Die Kammer hat sich nach Prüfung der Aktenlage der Einschätzung des Gutachters im Wesent­lichen angeschlossen. Abgesehen davon, dass sich der Versorgungsmediziner nicht auf eine persönliche Untersuchung des Klägers stützen und auch keine abschließende Einschätzung ab­geben konnte, weil er weitere Ermittlungen für notwendig hält, hat der Gutachter in seiner er­gänzenden Stellungnahme zutreffend darauf hingewiesen, dass gerade in der Musikszene die Anzahl nachweisbarer Auftritte keine Rückschlüsse auf den Grad einer psychiatrischen Erkran­kung zulässt. In diesem Zusammenhang hat er auch darauf aufmerksam gemacht, dass der Kläger wahrscheinlich mittlerweile an einer Opiatabhängigkeit leidet, die ihm Bühnenauftritte erst ermöglicht. Der Kläger selbst hat dazu erklärt, von der Anzahl seiner ursprünglichen Auftritte sei nur ein Bruchteil übriggeblieben; diese könne er nur unter Verwendung starker Schmerzmittel realisieren. Nach einem Auftritt sei er körperlich total am Ende und brauche Tage, um sich zu regenerieren. Im Vergleich zu einem normalen Arbeitsalltag sei der geringe Zeitaufwand für die wenigen Auftritte zu sehen. Aus dieser Einlassung wird erkennbar, dass der Kläger mit den verbliebenen Auftritten eine gewisse Normalität aufrechterhält und davon auch psychisch profitiert. In diesem Zusammenhang ist nicht zu verkennen, dass es sich bei der musikalischen Tätigkeit des Klägers um seine Berufsausübung handelt, die seinem Lebensunterhalt dient und aufgrund die der gesundheitlichen Umstände bereits auf ein Mindestmaß reduziert wurde.

Allerdings ist in den aktenkundigen Befundunterlagen durchweg keine schwergradige Episode zu entnehmen. In dem Bericht des Städtischen Klinikums Dessau/Neurochirurgie vom 05.10.2020, 23.12.2020, 10.02.2021 wiederholen sich textbausteinartig die Schilderungen des Klägers, die dieser auch beim Gutachter vorgetragen hat, darunter die seit 2018 bestehenden Flashbacks, die permanente Anspannung, Grübelneigung und Existenzangst. Er hat dort erklärt, zum Ausgleichseiner Beschwerden helfe ihm das aktive Gitarren- und Klavierspiel sowie das Singen. Die 'Klink hat - fachfremd - eine mittelgradige depressive Episode seit 2018 angenommen, eine posttraumatische Belastungsstörung und eine chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren.

Die Psychiaterin Dr. H. vom Universitätsklinikum Jena berichtet, der Kläger befinde sich seit dem 11.06.2019 bei ihr in Behandlung, also etwa seit der Zeit, die der Kläger mit dem Beginn der hier streitigen psychischen Symptomatik verbindet. Am 07.12.2020 wurde neben der chronischen Schmerzstörung und einer kombinierten Persönlichkeitsstörung eine depressive Störung als mittelgradige Episode diagnostiziert; der Kläger hatte dort weitgehend die gleichen Umstände und Beschwerden dargestellt wie beim Gutachter. Am 10.02.2021 und am 01.06.2021 war bei identischem Sachverhalt die depressive Störung weiterhin als mittelgradige Episode diagnostiziert worden. Am 31.05.2022 wurde eine rezidive depressive Störung mit gegenwärtig leichter Episode mit somatischen Symptomen diagnostiziert.

Diese Unterlagen stellen die Schlussfolgerungen des Gutachters nicht grundlegend in Frage, sondern basieren auf Feststellungen, die im mitgeteilten Umfang deutlich hinter der Exploration durch den Gutachter Zurückbleiben. Der Gutachter konnte seine Empfehlungen daher auch erst ab seiner Begutachtung abgegeben. Gleichwohl überwiegt in den Berichten die Bewertung als mittelgradige Störung, wie sie im Empfehlungsrahmen für einen GdB von 50 bis 70 vorausge­setzt wird. Mittlere soziale Anpassungsstörungen werden in Nr. 3.5.1 VG im Zusammenhang mit tiefgreifenden Entwicklungsstörungen definiert und bezeichnen hier die Situation, „wenn die Integration in Lebensbereiche nicht ohne umfassende Unterstützung“ möglich ist. Die berufliche, durch Präsenz in der Öffentlichkeit gekennzeichnete Tätigkeit des Klägers ist fast vollständig zum Erliegen gekommen und seine sozialen Kontakte hat er nach glaubhafter Darstellung ebenfalls deutlich eingeschränkt. Der Gutachter geht daher zutreffend von einem sozialen Rückzug aus. Der Kläger ist aber immerhin noch in der Lage, einige Auftritte zu bewältigen und das Haus zu verlassen, weshalb es nicht gerechtfertigt wäre, den Empfehlungsrahmen voll auszuschöpfen.

Da sich die Symptomatik nicht auf den psychischen Aspekt beschränkt, sondern eine chronische Schmerzstörung vorliegt, die offenbar psychosomatisch bedingt ist und die Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit des Klägers behinderungsrelevant einschränkt, ist die Kammer zu der Überzeugung gelangt, dass der GdB im Mittelfeld der Empfehlung die Behinderung des Klägers leidensgerecht abbildet.

Dem Klagebegehren war deshalb insoweit stattzugeben, als der GdB ab Begutachtung mit 60 festzusetzen ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Anmerkung Rechtsanwalt Dr. Büchner:

Der vorgestellte Fall ist insofern bemerkenswert, als das örtlich zuständige Versorgungsamt im Verfahren nicht unerheblichen Aufwand betrieb, um unserem Mandanten – welcher als ehemaliger Berufsmusiker auch aktuell noch einige Bühnenauftritte realisierte – zu unterstellen, er simuliere seine Erkrankung.

Das Gericht, welches ein psychiatrisches Gutachten durch den Chefarzt einer psychiatrischen Fachklinik einholte, der bei unserem Mandanten letztlich einen GdB von 70 als gerechtfertigt ansah, hat den Gutachter im Nachgang mit dem Vorwurf Versorgungsamtes konfrontiert. Der Gutachter blieb jedoch bei seiner Einschätzung und sah in den gelegentlichen Auftritten keinen Widerspruch zu den vorher festgestellten Diagnosen und Einschränkungen.

Letztlich urteilte das Sozialgericht einen Grad der Behinderung von 60 aus und blieb dabei über dem von uns beantragten GdB von mindestens 50. Zu Recht ließ es sich nicht von den "Ermittlungen" der Sachbearbeiter des Versorgungsamtes in Bezug auf die Bühnenauftritte des Klägers beeindrucken und stellte die Beurteilung und Einordnung des Freizeitverhaltens unseres Mandanten allein in das Ermessen des beauftragten medizinischen Sachverständigen.


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