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SG Aachen: Eine Erhöhung des GdB kommt in Betracht, wenn die tatsächlich vorhandenen körperlichen Störungen im Rahmen einer depressiven bzw. ängstlichen "Fehlverarbeitung" subjektiv stärker empfunden werden.

Rechtfertigen die Bewegungsmaße als Ausdruck der Bewegungseinschränkungen im Knie nur einen GdB von 20, kann dennoch ein höherer GdB in Betracht kommen, wenn die tatsächlich vorhandenen körperlichen Störungen im Rahmen einer depressiven bzw. ängstlichen "Fehlverarbeitung" subjektiv stärker empfunden werden, als dies aufgrund der objektivierbaren Befunde zu erwarten ist.

Sozialgericht Aachen - S 12 SB 541/15 - Urteil vom 14.06.2016

Zwischen den Beteiligten ist die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) streitig.

Mit Bescheid vom 24.10.2013 stellte der Beklagte aufgrund einer Funktionseinschränkung des Blutes, einer seelischen Beeinträchtigung, einer Funktionseinschränkung der unteren Extremitäten, einer Funktionseinschränkung der Verdauungsorgane, einer Funktionseinschränkung der Wirbelsäule, einer Funktionseinschränkung der oberen Extremitäten und einer Funktionseinschränkung von Herz und Kreislauf einen GdB von 40 fest. Der hiergegen von der Klägerin eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid vom 30.01.2014 als unbegründet zurückgewiesen.

Am 17.11.2014 stellte die Klägerin einen Antrag auf Feststellung eines höheren GdB sowie des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens G. Die Klägerin reichte eine ärztliche Bescheinigung über eine Arbeitsmedizinische Vorsorgeuntersuchung der Betriebsärzte des Luisenhospitals B. zu den Akten. Der Beklagte holte darüber hinaus Befundberichte des Allgemeinmediziners Dr. C., des Orthopäden Dr. M. und der Anästhesiologin Dr. W. ein und wertete diese Unterlagen, zusammen mit einem Arztbericht des Marienhospitals B., radiologischen Berichten, einem Arztbericht der Abteilung Transfusionsmedizin, Hämotherapie und Hämostaseologie der Universitätsklinikums E. und einem Arztbericht des Neurologen Prof. Dr. X. durch seinen ärztlichen Dienst aus. Dieser kam zu der Einschätzung der GdB der Klägerin sei weiterhin mit 40 zutreffend bewertet. Wesentliche Veränderungen seien nicht objektiviert.

Mit Bescheid vom 23.01.2015 lehnte der Beklagte die Feststellung eines höheren GdB sowie die Zuerkennung der Merkzeichens G ab.

Hiergegen legte die Klägerin, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, am 16.02.2016 Widerspruch ein. Die Klägerin sei nicht in der Lage nennenswerte Strecken zu gehen, es komme zu zeitweisem Stolpern und einer Peronaeus-Lähmung. Die Klägerin müsse immer wechselnde Körperschonhaltungen einnehmen. Es sei ihr nicht möglich nennenswert über 15 Minuten zu gehen, zu sitzen oder zu stehen. Sportliche Aktivitäten wie früher (Radfahren und Schwimmen) seien nicht mehr möglich. Die Klägerin reichte im Nachgang einen Arztbericht des Orthopäden Dr. M. vom 17.04.2015 und ein Gutachten des Dr. T. für die Deutsche Rentenversicherung Bund vom 28.02.2015 zu den Akten.

Nach Stellungnahme des ärztlichen Dienstes wies die Bezirksregierung Münster mit Widerspruchsbescheid vom 22.06.2015 den Widerspruch als unbegründet zurück.

Hiergegen richtet sich die Klägerin mit ihrer am 01.07.2015 erhobenen Klage.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung von Befundberichten des Neurologen und Speziellen Schmerztherapeuten Prof. Dr. X., des Orthopäden Dr. M. und der Anästhesiologin Dr. W. sowie eines orthopädischen Gutachtens des Dr. E. und eines nervenärztlichen Gutachtens des Dr. E., nebst ergänzender Stellungnahmen.

Am 14.06.2016 hat ein Termin zur mündlichen Verhandlung stattgefunden.

Die Klägerin hat, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 23.01.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.06.2015 zu verurteilen, einen GdB von 50 bei der Klägerin festzustellen sowie seine Hinzuziehung im Vorverfahren für erforderlich zu erklären

Der Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein Vorbringen aus dem Verwaltungs- Widerspruchsverfahren und nimmt insbesondere Bezug auf die Ausführungen des Gutachters Dr. E ...

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die beigezogene Verwaltungsakte des Beklagten sowie die Gerichtsakte Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.

 

Entscheidungsgründe:

Die zulässige Klage ist unbegründet. Die Klägerin ist durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) beschwert. Ihr steht derzeit kein höherer GdB als 40 zu.

Nach § 2 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion oder geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach 10er Graden abgestuft dargestellt. Bei dem Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wird nach § 69 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.

Die Bemessung des Gesamt-GdB hat dabei in mehreren Schritten zu erfolgen und ist tatrichterliche Aufgabe (BSG Beschluss vom 09.12.2010 - B 9 SB 35/10 B = juris Rn. 5 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).

Zunächst sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinn von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX und die daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. Sodann sind diese den in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. Schließlich ist unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen in einer Gesamtschau der Gesamt-GdB zu bilden (BSG Urteil vom 30.09.2009 - B 9 SB 4/08 R = juris Rn. 18 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32). Nach Teil A Ziffer 3 der Anlage zu § 2 der aufgrund § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erlassenen Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (BGBl. I 2008, S. 2412 - Versorgungsmedizin-Verordnung) vom 10.12.2008 (Versorgungsmedizinische Grundsätze), die wegen § 69 Abs. 1, Satz 4 SGB IX auch im Schwerbehindertenrecht zur Anwendung kommt, sind zur Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung rechnerische Methoden, insbesondere eine Addition der Einzelgrade der Behinderung, nicht zulässig. Vielmehr ist bei der Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzelgrad der Behinderung bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad der Behinderung 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Hierbei ist gemäß Teil A Ziffer 3 lit. d) ee) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu beachten, dass leichtere Gesundheitsstörungen mit einem Einzelgrad der Behinderung von 10 nicht zu einer Erhöhung des Gesamtgrades der Behinderung führen, selbst wenn mehrere dieser leichteren Behinderungen kumulativ nebeneinander vorliegen. Auch bei Leiden mit einem Einzelgrad der Behinderung von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine Zunahme des Gesamtausmaßes der Behinderung zu schließen. Schließlich sind bei der Festlegung des Gesamt-GdB zudem die Auswirkungen im konkreten Fall mit denjenigen zu vergleichen, für die in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen feste GdB-Werte angegeben sind (BSG Urteil vom 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R = juris Rn. 25; vgl. auch Teil A Ziffer 3 lit. b) Versorgungsmedizinische Grundsätze).

Die anspruchsbegründenden Tatsachen sind, dies gilt nach allgemeinen Grundsätzen des sozialgerichtlichen Verfahrens auch im Schwerbehindertenrecht grundsätzlich im Vollbeweis, d.h. mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, nachzuweisen (vgl. BSG Urteil vom 15.12.1999 - B 9 VS 2/98 R = juris Rn. 14; Bayerisches LSG Urteil vom 18.06.2013 - L 15 BL 6/10 = juris Rn. 67 ff.; Bayerisches LSG Urteil vom 05.02.2013 - L 15 SB 23/10= juris). Für diesen Beweisgrad ist es zwar nicht notwendig, dass die erforderlichen Tatsachen mit absoluter Gewissheit feststehen. Ausreichend, aber auch erforderlich ist indessen ein so hoher Grad der Wahrscheinlichkeit, dass bei Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein vernünftiger, den Sachverhalt überschauender Mensch mehr am Vorliegen der Tatsachen zweifelt (vgl. BSG, Urteil vom 28.06.2000 - B 9 VG 3/99 R = juris Rn. 11), d.h. dass die Wahrscheinlichkeit an Sicherheit grenzt (vgl. BSG, Urteil vom 05.05.1993 - 9/9a RV 1/92 = juris Rn. 14). Lässt sich der Vollbeweis nicht führen, geht die Nichterweislichkeit einer Tatsache zu Lasten dessen, der sich zur Begründung seines Anspruchs oder rechtlichen Handelns auf ihr Vorliegen stützen.

Im vorliegenden Fall steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass die bei der Klägerin vorliegenden gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht die Feststellung eines GdB von mehr als 40 rechtfertigen. Die Klägerin leidet zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung unter
1. Funktionsstörungen des linken Kniegelenks
2. Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule
3. Funktionseinschränkung der linken Schulter
4. Funktionseinschränkung beider Hände
5. einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig leichte Episode
6. einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren
7. Genmutation der Prothrombins mit der Notwendigkeit einer gerinnungshemmenden Medikation
8. Funktionseinschränkungen der Verdauungsorgane
9. Funktionseinschränkungen von Herz und Kreislauf .

Das Vorliegen dieser Gesundheitsbeeinträchtigungen steht nach Auffassung der Kammer aufgrund der im Verwaltungs- und Klageverfahren eingeholten Befund- und Arztberichte, sowie der Gutachten des Dr. E. und des Dr. E. fest. Die Feststellungen beruhen auf umfangreichen Untersuchungen eines erfahrenen Orthopäden sowie Neurologen und Psychiaters, die unter Einsatz von diversen Hilfsmitteln durchgeführt worden sind. Die Kammer hat keinen Anlass an der Richtigkeit der in dem Gutachten erhobenen medizinischen Befunde und gestellten Diagnosen zu zweifeln. Die Beteiligten haben auch keine substantiierten Einwände gegen die medizinischen Feststellungen erhoben. Lediglich die sozialmedizinische Bewertung ist bis zuletzt umstritten geblieben. Soweit die Klägerin ausgeführt hat, das Gutachten des Dr. E. sei hinsichtlich der Durchführung der Elektroneurographie nicht lege artis erstellt worden, teilt die Kammer die Auffassung nicht. Die Klägerin hatte offenbar bei der Untersuchung den Eindruck gewonnen, diese sei so lange und so intensiv gemacht worden, bis ein "wunschgemäßes" Ergebnis erzielt worden sei. Der Kammervorsitzende hatte bereits schriftsätzlich darauf hingewiesen, dass ihm nicht klar sei, was ein "wunschgemäßes" Ergebnis sein solle. Auch die Kammer teilt die Auffassung, dass das Gutachten des Dr. E. zutreffend erstellt wurde und sich um höchstmögliche Objektivität bemüht. Die vom Gutachter in seiner ergänzenden Stellungnahme beschriebene Durchführung der Elektroneurographie ist nach Auffassung der Kammer lege artis gewesen und die hierdurch gewonnenen Erkenntnisse sind vollumfänglich verwertbar. Soweit die Klägerin hier einen anderen Eindruck gewonnen haben sollte, mag dies daran liegen, dass sie - trotz medizinischer Vorbildung als Krankenschwester - offensichtlich mit dem Prozedere der Messung weder vertraut war noch dieses zutreffend einschätzen konnte.

Für das Funktionssystem der unteren Extremitäten ist gemäß Teil B Ziffer 18.14 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein GdB von 30 in Ansatz zu bringen. Nach den Feststellungen des Gutachters Dr. E. zeigte sich im linken Knie ein unüberwindbares Streckdefizit von 20° bei maximaler Beugefähigkeit von 100°, wobei die maximalen Bewegungsausschläge als schmerzhaft angegeben wurden. Das rechte Kniegelenk war weitgehend altersentsprechend normgerecht. Betrachtet man die Vorgaben der Versorgungsmedizinischen Grundsätze so sind einseitige Bewegungseinschränkungen im Knie (0°/10°/90°) mit 20 und (0°/30°/90°) mit 30 zu bewerten. Diese Werte machen deutlich, dass die reinen Bewegungseinschränkungen hier mit einem GdB von 20 zu bewerten wären. Gemäß Teil A Ziffer 2 lit. i) berücksichtigen die in den GdB-Tabellen niedergelegten Werte bereits die üblichen seelischen Begleiterscheinungen. Gemäß Teil 18.1 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze sind außergewöhnliche Schmerzen ggf. zusätzlich zu bewerten. Auf Grundlage der durchgeführten Ermittlungen steht zur Überzeugung der Kammer fest, dass "außergewöhnliche" Schmerzen bei der Klägerin vor dem Hintergrund der nachgewiesenen Behandlungsintervalle und der verordneten Schmerzmedikation nicht zu berücksichtigen sind. Es ist aber - dies steht aufgrund der eingeholten Befundberichte der Anästhesiologin der Klägerin und des Gutachters Dr. E. für die Kammer fest - das Vorliegen einer chronischen Schmerzstörung bei der Klägerin zu beurteilen. Die Klägerin empfindet tatsächlich vorhandene körperliche Störungen im Rahmen einer depressiven bzw. ängstlichen "Fehlverarbeitung" subjektiv stärker, als dies aufgrund der objektivierbaren Befunde zu erwarten wäre. Berücksichtigt man dies mit, so kann - in Übereinstimmung mit den beiden Gutachtern Dr. E. und Dr. E. ein GdB von 30 in Ansatz gebracht werden, wenngleich dies nach Auffassung der Kammer durchaus wohlwollend erscheint. Weitere Beeinträchtigungen im Bereich der unteren Extremitäten, die einen höheren GdB zu rechtfertigen geeignet wären sind nicht objektiviert.

Für das Funktionssystem der Wirbelsäule ist gemäß Teil B Ziffer 18.9 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein GdB von 10 in Ansatz zu bringen. Dr. E. beschreibt bei der Oberkörpervorneigung einen Finger-Boden-Abstand von 15 cm. Die Oberkörperrückneigung beschreibt der Gutachter mit 0°/10° und damit als gering endgradig eingeschränkt, die Oberkörperseitneigung war rechts/links jeweils soweit möglich, dass die Fingerspitzen 5 cm oberhalb der Kniegalten positioniert waren. Das Schober’sche Zeichen wurde mit 9/10/15 cm bestimmt. Die maximalen Bewegungsausschläge wurden nicht als schmerzhaft beschrieben. Die Brustwirbelsäule war im Sitzen fast bis zur Lotrechten aufzurichten und deutlich nach vorne zu runden. Das Ott’sche Zeichen war mit 30/33 cm zu bestimmen (vgl. zu den Werten nach Schober und Ott, Wülker (Hrsg.), Orthopädie und Unfallchirurgie, 2. Aufl. 2010, S. 224). Im Bereich der Halswirbelsäule war das Drehen mit 70°/0°/70° und das Neigen mit 30°/0°/30° möglich, wobei die maximalen Bewegungsausschläge als schmerzhaft angegeben wurden. Es zeigte sich hiernach eine leichte Einschränkung der Beweglichkeit der Halswirbelsäule. Hinsichtlich der Lenden- und Brustwirbelsäule fanden sich keine entscheidenden Beeinträchtigungen (vgl. zu den Bewegungsausmaßen der Wirbelsäule allgemein Grifka/Krämer, Orthopädische Unfallchirurgie, 9. Aufl. 2013, S. 157 f.; Thomann/Schröter/Grosser, Orthopädisch-unfallchirurgische Begutachtung, 2009, S. 17). Bei leichten Beeinträchtigungen in einem Wirbelsäulenabschnitt ist ein höherer GdB nicht zu rechtfertigen.

Für die oberen Extremitäten ist gemäß Teil B Ziffer 18.13. der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein GdB von ebenfalls 10 in Ansatz zu bringen. Die Klägerin klagt über Beeinträchtigungen insbesondere im Bereich der Schultern. Die Klägerin konnte Schürzen- und Nackengriff bis zur gegenüberliegenden Fingerspitzenberührung zeigen, wobei links die endgradigen Bewegungsausschläge als schmerzhaft angegeben wurden. Die Überprüfung der Beweglichkeit der Schultergelenke nach Neutral-Null ergab für den rechten Arm bei der Ab-/Adduktion 130°/0°/20° und für den linken Arm 110°/0°/20°. Die Bewegung rückwärts/vorwärts wurde rechts mit 30°/0°/160° und links mit 30°/0°/150° (vgl. zur normgerechten Beweglichkeit des Schultergelenks, Buckup/Buckup, Klinische Tests an Knochen, Gelenken und Muskeln, 5. Aufl. 2012, S 95). Unter Berücksichtigung der letztlich nur geringgradigen Bewegungsminderung auch des linken Schultergelenks - ein GdB von 20 kommt insoweit erst bei einer eingeschränkten Armhebung bis 90° in Betracht - ist für die Schultern ein GdB von höchstens 10 in Ansatz zu bringen. Die Beweglichkeit der Ellenbogengelenke zeigte sich altersentsprechend normgerecht (vgl. dazu Neurath/Lohse, Anamnese und klinische Untersuchung, 3. Aufl. 2010, S 322 ff.). Im Bereich beider Hände war eine unvollständige Streckfähigkeit des V. Fingers (Minderung um 10°) festzustellen. Vor dem Hintergrund, dass der Faustschluss indes komplett war und die Übungen "Klavierspielen", Einschrauben einer Glühbirne" sowie der Pinzettengriff vollständig gezeigt werden konnten, kommt eine Erhöhung des GdB hier nicht in Betracht.

Für das Funktionssystem Gehirn einschließlich Psyche ist insgesamt ein GdB von 30 in Ansatz zu bringen, der soeben erreicht wird. Nach den Feststellungen des Gutachters Dr. E. leidet die Klägerin unter einer rezidivierenden depressiven Störung, wobei derzeit eine leichte Episode feststellbar war (ICD 10 F 33.0 G). Die Klägerin war zeitlich, örtlich, zur Person und zur Situation ausreichend orientiert, Hinweise auf eine Störung der Wahrnehmung oder der Aufmerksamkeit fanden sich nicht, der Gedankengang war formal geordnet und inhaltlich unauffällig. Es zeigten sich weder Störungen in der Konzentrationsfähigkeit noch in Bezug auf Merkfähigkeit und Gedächtnis. Anhaltspunkte für eine depressive Symptomatik gaben indes ein vermindertes psychomotorisches Ausdrucksverhalten und die deprimierte, traurige, lustlose Grundstimmung der Klägerin, die Aspekte von Interessenlosigkeit aufwies. Es war auch die emotionale Ausdrucks- und Schwingungsfähigkeit leicht eingeengt mit bestehenden Insuffizienzgefühlen und Gefühlen von Wertlosigkeit. Phobische Ängste, Zwangsgedanken und Misstrauen fanden sich nicht; der Antrieb war arm. Ausgehend von diesem klinischen Bild wirken auch die Ergebnisse der testpsychologischen Untersuchungen stimmig, wobei insoweit Diskrepanzen in der Fremdbeurteilung (Montgomery-Asberg-Depressionsskala: leichte Depressivität) und der Selbstbeurteilung (Beck-Depressions-Inventar: deutliche Depressivität) auffielen. Unter Berücksichtigung der klinischen Feststellungen sowie dem von der Klägerin beschriebenen Aktivitäts- und Funktionsniveau ist nach Auffassung der Kammer - mit dem erfahrenen Gutachter - von einer derzeit eher leichteren depressiven Phase auszugehen. Eine zielgerichtete pharmakologische Behandlung findet ebensowenig statt wie eine leitliniengerechte Psychotherapie oder psychiatrische Behandlung.

Bei einer Depression handelt es sich nach allgemeiner psychiatrischer Nomenklatur - worauf Dr. E. zutreffend hinweist - um eine affektive Störung (vgl. etwa Nedopil/Müller, Forensische Psychiatrie, 4. Aufl. 2012, S. 193 ff.; Schneider/Weber-Papen, Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in 5 Tagen, 2010, S. 116 ff.). Diese sind terminologisch auch von dem Begriff der "affektiven Psychosen" umfasst, den Teil B Ziffer 3.6 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze benennt. Bei der Klägerin ist hier ein Bewertungsspielraum von 30 bis 50 eröffnet. Unter Berücksichtigung der (fehlenden) leitliniengerechten Behandlung und der Tatsache, dass die Klägerin in der Lage war und ist, sich selbst zu versorgen, Einschränkungen in der Körperpflege, Kleidung, und der Sorge für Ernährung und Gesundheit nicht vorhanden sind, sie mit anderen Personen zielgerichtet kommunizieren und soziale Beziehungen aufbauen und unterhalten kann, ihren Tag strukturieren und weitgehend entsprechend handeln kann ist - auch wenn die Kammer nicht verkennt, dass hier gewisse Einschränkungen bestehen - hier davon auszugehen, dass der Bewertungsspielraum nur soeben eröffnet ist. Stationäre oder teilstationäre Behandlungen waren nicht erforderlich. In diesem Zusammenhang mitberücksichtigt sind auch die Beeinträchtigungen durch die bei der Klägerin bestehenden chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren besteht (ICD 10 F 45.41 G). Eine Höherbewertung der psychischen Beeinträchtigungen bei der Klägerin kommt vor dem Hintergrund der sich aus den Gutachten ergebenden Sozial- und Aktivitätsniveau und der durchgeführten Behandlungen und Medikation nicht in Betracht.

Bei der Klägerin ist zudem eine Thrombophilie aufgrund einer heterozygoten Prothrombin-G20120A-Mutation (D68.5 G) festgestellt. Aufgrund dieser Genmutation ist das Thromboserisiko bei der Klägerin maßgeblich erhöht (vgl. dazu etwa Pötzsch/Madlener, Gerinnungskonsil, 2002, S. 105 f - auch zur Prävalenz; Diener, Schlaganfall, 2004, S. 270; Schaaf/Zschoke, Basiswissen Humangenetik, 2. Aufl. 2013, S. 219). Bei der Klägerin ist es in der Vergangenheit auch bereits zu entsprechenden Thrombosen mit anschließender Lungenembolie (2003) gekommen. Sie nimmt als Blutverdünner Marcumar®. Die Überwachung der Blutgerinnung ("sog. INR - International Normalized Ratio) übernimmt die Klägerin in Eigenregie unter Zuhilfenahme des CoaguCheck®. Gemäß Teil B Ziffer 16 richtet sich die Höhe des GdB bei Krankheiten des Blutes nach der Schwere der hämatologischen Veränderungen, den Organfunktionsstörungen, nach dem Rückwirkungen auf andere Organe, nach den Auswirkungen auf den Allgemeinzustand und der Häufigkeit von Infektionen. Nach Einschätzung der Kammer kommt es bei der Thrombophilie - wie allgemein im Rahmen des Schwerbehindertenrechts - vor allem auf die Auswirkungen der erhöhten Thromboseneigung bzw. der gerinnungshemmenden Therapie an. Daneben mögen auch die Verortung und etwaigen Auswirkungen bereits eingetretener Thrombosen eine Rolle spielen. Ein Vergleich mit den Vorgaben bei einer essentiellen Thrombozythämie nach Teil B Ziffer 16.5.6. welche ebenfalls das Thromboserisiko steigert, macht deutlich, dass die bloße Behandlungsbedürftigkeit (in jenem Fall freilich nicht mit Antikoagulantien sondern mit Thrombozytenaggregationshemmern) für sich lediglich einen GdB von 10 rechtfertigt. Auch aus Teil B Ziffer 16.10 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ergibt sich, dass die Behandlung mit Antikoagulantien bereits bei der Grunderkrankung (wie etwa auch der Thrombophilie) berücksichtigt ist. Im vorliegenden Fall sind aber mit Ausnahme der notwendigen Kontrolle und den der ggf. im Alltag erforderlichen Sorgfalt im Hinblick auf die Antikoagulationstherapie für die Kammer besondere Beeinträchtigungen aufgrund der vorliegenden Befunde, Gutachten und anamnestischen Angaben der Klägerin nicht erkennbar. Nach Auffassung der Kammer mag insoweit weiterhin ein GdB von 20 in Ansatz gebracht werden, der indes nur soeben erreicht wird (vgl. zur Frage des GdB bei Thrombophilie auch LSG Sachsen-Anhalt Urteil vom 26.03.2016 - L 7 SB 4/09 = juris - heterozygoter Homocysteingenmutationsdefekt).

Für das Funktionssystem der Verdauungsorgane ist die bei der Klägerin bestehende chronische Entzündung der Bauchspeicheldrüse (chronische Pankreatitis) zu berücksichtigen. Da bei der Klägerin eine Beeinträchtigung des Kräfte- und Ernährungszustandes bislang nicht objektiviert ist, kommt - auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Klägerin eine Therapie mit Pankreatin (Kreon®) durchführt - gemäß Teil B Ziffer 10.3.6 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein GdB von mehr als 10 keinesfalls in Betracht. Für das Funktionssystem Herz und Kreislauf ist gemäß Teil B Ziffer 9 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein eigenständiger GdB nicht gerechtfertigt. Die hier insoweit bestehenden Restbeeinträchtigungen sind bereits bei der Bewertung des Funktionssystems Blut zutreffend berücksichtigt worden.

Wesentliche weitere gesundheitliche Beeinträchtigungen, die einen GdB bedingen könnten sind nicht objektiviert.

Vor diesem Hintergrund ist bei der Klägerin gemäß § 69 Abs. 3 SGB IX in Verbindung mit Teil A Nr. 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze ein Gesamt-GdB von 40 zu bilden.

§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX schreibt vor, bei Vorliegen mehrerer Teilhabebeeinträchtigungen den Grad der Behinderungen nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzusetzen. Der maßgebliche Gesamt-GdB ergibt sich dabei aus der Zusammenschau aller Funktionsbeeinträchtigungen. Er ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung der Sachverständigengutachten sowie der versorgungsmedizinischen Grundsätze in freier richterlicher Beweiswürdigung nach natürlicher, wirklichkeitsorientierter und funktionaler Betrachtungsweise festzustellen (LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11 = juris Rn. 42 unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 9/97 R = juris Rn. 10 m.w.N.). Dabei ist zu berücksichtigen, ob die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen, sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen (BSG Urteil vom 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R = juris).

Im Vordergrund stehen vorliegend die Beeinträchtigungen im Zusammenhang mit den schmerzhaften Einschränkungen der Funktionsfähigkeit der unteren Extremitäten der Klägerin. Diese bedingen - wie oben ausgeführt - einen GdB von 30, wobei bereits darauf hingewiesen wurde, dass dieser GdB letztlich nur vor dem Hintergrund der zusätzlich zu bewertenden chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren überhaupt in Betracht kommt. Erhöhend wirken sich in diesem Zusammenhang noch die psychischen Beeinträchtigungen im Sinne der rezidivierenden depressiven Erkrankung aus. Auch hier ist freilich zu berücksichtigen, dass erhebliche Überschneidungen zu dem erhöhten Schmerzerleben bestehen, welches bereits mit in dem GdB von 30 für die unteren Extremitäten mit berücksichtigt worden sind. Hier erscheint ein GdB von 40 nach Auffassung der Kammer insgesamt als nur soeben erreicht ist. Auch wenn man nun den GdB für die Thrombophilie mit (soeben) 20 in Ansatz bringt, so kommt nach Auffassung der Kammer ein GdB von mehr als 40 vorliegend derzeit nicht in Betracht.

Die Feststellung eines GdB von 50 scheidet nach obigen Ausführungen aus. Die objektivierten Beeinträchtigungen der Klägerin lassen sich nicht gemäß Teil A Nr. 3 lit. b) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze mit einem einzelnen Gesundheitsschaden vergleichen, für den die Versorgungsmedizinischen Grundsätze einen festen GdB-Wert von 50 angeben (vgl. hierzu auch LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 - L 13 SB 127/11 = juris Rn. 49 ff. unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BSG und den hierzu vertretenen Meinungsstand in der Literatur). Insbesondere lassen sich Beeinträchtigungen vergleichbar einer Versteifung großer Teile der Wirbelsäule, anhaltende Ruhigstellung durch Rumpforthesen die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst, schwere Skoliose (ab ca. 70° nach Cobb), oder aber einer Versteifung des Hüftgelenks in ungünstiger Stellung oder dem Verlust eines Beins im Unterschenkel bei dem Kläger nicht feststellen. Auch ist keine Vergleichbarkeit mit den Fallgruppen mittelgradiger Auswirkungen einer rheumatoiden Arthritis gegeben.

Die begehrte Zuerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft kommt damit derzeit nicht in Betracht.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG.

 


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