SG Kiel: Unfallkasse Nord muss wegen Verschlimmerung von Unfallfolgen nach Commotio cerebri und Schädel-Hirn-Trauma (SHT) die Verletztenrente von MdE 50% auf 80% erhöhen!
Sozialgericht Kiel, Urteil vom 20.02.2015 – S 3 U 52/12
1. Sachverhalt
Unser Mandant hatte im Jahr 1987 bei einem gesetzlich versicherten Verkehrsunfall eine Commotio cerebri (Schädel-Hirn-Trauma 1. Grades, Gehirnerschütterung) sowie ein schweres Schleudertrauma der Halswirbelsäule erlitten. Wegen der hieraus resultierenden Funktionsbeeinträchtigungen im Sinne von Muskelverspannungen, einer fixierten Steifhaltung des Kopfes und der Halswirbelsäule sowie Verkürzung der tiefen Halsmuskeln und erheblicher Schmerzzustände gewährte die Unfallkasse Kiel im Jahr 1990 eine Verletztenrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 50%.
Nachfolgend kam es bei unserem Mandanten zu einer Instabilität der Halswirbelsäule mit der Notwendigkeit einer Versteifungsoperation der HWS vom Hinterhaupt bis zum 3. Halswirbelkörper (C 0 bis C 3). Aufgrund eines Materialbruchs war sodann eine erneute und weiterreichende Versteifungsoperation notwendig.
Im Oktober 2008 wurden von den untersuchenden Ärzten im Berufsgenossenschaftlichen Klinikum Hamburg sodann folgende Diagnosen gestellt:
· gebrochene einliegende okzipitale Abstützplatten Occiput HWK 3,
· hochgradige Spinalkanalstenose HWK 3 bis HWK 6 mit Betonung HWK 4/5 und Myelopathie,
· Blasenlähmung vom Typ der teilenthemmten Blase (Reflexblase) entsprechend dem Schädigungsbild einer supranuklearen Läsion.
Eine Erhöhung der MdE ergebe sich daraus aber nicht.
Im Dezember 2009 beantragten wir für unseren Mandanten aufgrund der Verschlimmerung der Unfallfolgen die Zahlung einer Verletztenrente nach einer höheren MdE als nur 50%. Insbesondere wegen der nunmehr eingetretenen Inkontinenz sowie der neurologischen Defizite mit Spastik und Gleichgewichtsstörungen war die Bewertung der MdE mit nur 50% keinesfalls mehr angemessen.
Der von der UK Nord beauftragte Gutachter, Professor Dr. med. Wolfgang Rüther, Direktor der Klinik für Orthopädie, Klinikum Bad Bramstedt, kam in seinem orthopädischen Gutachten zu dem Ergebnis, dass sich die Funktionsbeeinträchtigungen aufgrund der weiteren Veränderungen an der HWS und der Ausbildung einer zervikalen Myelopathie verschlimmert haben und seit etwa Juni 2008 mit einer MdE von 60% zu bemessen seien.
Die Veränderungen an der HWS und die zervikale Myelopathie seien jedoch nur zu 50% als Unfallfolge zu bewerten, im Übrigen als unfallunabhängig. Aus diesem Grund könne der allein unfallabhängige Verschlimmerungsgrad mit nur 5% bewertet werden.
Hier ist zu berücksichtigen, dass eine Verschlimmerung im Sinne des § 48 Abs. 1 SGB X (Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung bei Änderung der Verhältnisse) nur dann zu einer Erhöhung der Verletztenrente führt, wenn sie mehr als fünf Prozent beträgt.
Mit dieser Begründung hat die Unfallkasse sodann eine Rentenerhöhung mit Bescheid von 21.07.2011 – und nachfolgend mit Widerspruchsbescheid vom 22.05.2012 - auch abgelehnt.
Anfang 2012 musste unser Mandant wegen des gebrochenen HWS-Gestänges und zur Vermeidung eines weiteren Voranschreitens der neurologischen Beeinträchtigungen nochmals eine äußerst komplizierte und risikoreiche Versteifungsoperation an der HWS mit Laminektomie HWK 6 und HWK 7 durchführen lassen.
2. Entscheidung des Sozialgerichts Kiel
Im sich anschließenden Klageverfahren legten wir gegenüber dem Sozialgericht Kiel dar, dass Prof. Dr. Rüther bei weitem nicht alle bei unserem Mandanten bestehende Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigt und die MdE-Bewertung ohne konkrete Bezugnahme auf die Einschätzungsempfehlungen der gesetzlichen Unfallversicherung vorgenommen hat.
Sodann führten wir ausführlich sämtliche Funktionsstörungen unseres Mandanten auf und bewerteten diese unter konkreter Bezugnahme auf die aktuelle Begutachtungsliteratur.
Schließlich wiesen wir nach, das Prof. Dr. Rüther – und ihm folgend die Unfallkasse Nord in ihren streitgegenständlichen Bescheiden – bei Ansatz einer nur 50% Kausalität von einem fehlerhaften, im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung nicht anwendbaren Kausalitätsbegriff ausgegangen sind. Bei der erforderlichen Anwendung der Theorie der rechtlich wesentlichen Bedingung ist ein 50%iger Verursachungsbeitrag als rechtlich wesentliche Ursache anzusehen und deshalb von einer ungeteilten, mithin 100%igen Kausalität auszugehen.
Nach den Bewertungskriterien der gesetzlichen Unfallversicherung kann es mehrere rechtlich wesentliche Mitursachen geben. Sozialrechtlich ist allein relevant, ob das Unfallereignis wesentlich war. Ob eine konkurrierende Ursache es war, ist unerheblich. Wesentlich ist nicht gleichzusetzen mit „gleichwertig" oder „annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die anderen Ursachen keine überragende Bedeutung haben.
Diesen Ausführungen schloss sich das Sozialgericht Kiel vollumfänglich an.
Mit Urteil vom 20.02.2015 – S 3 U 52/12 hob es den Bescheid vom 21.07.2011 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22.05.2012 auf und verurteilte die Unfallkasse Nord, unserem Mandanten für den Zeitraum 11.12.2009 bis 14.05.2012 eine Verletztenrente nach einer MdE von 70% und ab dem 15.05.2012 eine Verletztenrente nach einer MdE von 80% zu zahlen.
Hierbei stützte es sich auf die Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen in seinem ausführlichen Gutachten und seiner Anhörung im Beweistermin.
In seinen Entscheidungsgründen führte das Gericht aus:
„Zusammenfassend liegt im Falle des Klägers eine unvollständige Halsmarkschädigung mit mäßigen motorischen und sensiblen Defiziten sowie eine Blasenentleerungsstörung zusätzlich zu den an der Halswirbelsäule eingetretenen Einsteifungsoperationen vor, die bis zum Zeitpunkt der zweiten Versteifungsoperation mit einer MdE 70 von Hundert zu bewerten ist (s. Schonberger Mertens Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 8. Auflage, S. 475).
Durch die Operation im Mai 2012 kam es zu einer weiteren Verschlimmerung der Unfallfolgen in Gestalt einer Tetraspastik mit ausgeprägter Teillähmung beider Arme und beider Beine, zusätzlich zu der Blasenentleerungsstörung durch die unvollständige Halsmarkschädigung. Die hierfür gemäß Erfahrungswerten vorgesehene MdE beträgt seither 80 von Hundert.
Die Kammer folgt bei dieser Einschätzung dem Gutachten des Priv. Doz. Dr. B., welches sie für schlüssig und überzeugend hält. Die Kammer hatte deshalb keine Bedenken, das Gut-achten seiner Urteilsfindung zugrunde zu legen. Soweit die Beklagte sich auf die Ausführungen von Professor Dr. Rüthers stützt, gibt die Kammer zu bedenken, dass dieser offensichtlich die im Unfallversicherungsrecht geltenden Kausalitätsmaßstäbe nicht korrekt angewendet hat: Prof. Dr. Rüther lehnt einen Zusammenhang zwischen dem Unfallereignis und den Verschleißveränderungen an der unteren Halswirbelsäule mit der Begründung ab, der Verursachungsbeitrag betrage „nur“ 50 Prozent. Eine solche teilbare Kausalität ist jedoch dem Unfallversicherungsrecht fremd. Vielmehr ist bei Vorliegen konkurrierender Ursachen wertend zu ermitteln, ob dem Unfallereignis nach den oben dargelegten Grundsätzen die Bedeutung einer wesentlichen Ursache zukommt.
Folgt man Krasney (in Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, § 8 SGB VII Rn. 14), der bezüglich der prozentualen Wertigkeit mehrerer Ursachen die Faustregel aufgestellt hat, eine Bedingung sei jedenfalls dann als rechtlich wesentlich anzusehen, wenn sie mindestens einen Wert von einem Drittel aller sonst zu berücksichtigen Umstande erreicht hat, reicht im Übrigen ein Verursachungsbeitrag von 50 Prozent aus, um dem Unfall die Bedeutung einer wesentliche Ursache zukommen zu lassen.
Aus den dargelegten Gründen ist der Klage in vollem Umfang stattzugeben.“
3. Anmerkung von Rechtsanwalt Klaus Junghans
Wenn es um die Gewährung einer (höheren) Verletztenrente aufgrund mehrerer unfallbedingter Funktionsstörungen geht, werden bei der MdE-Bewertung durch die Leistungsträger der gesetzlichen Unfallversicherung und die von ihnen beauftragten Gutachter nicht selten mehrere bedeutsame Funktionsstörungen außeracht gelassen. Zudem werden die anerkannten Gesundheitsstörungen häufig nicht korrekt anhand konkreter Bezugnahme auf die Erfahrungswerte der gesetzlichen Unfallversicherung bewertet.
Bei Kausalitätsfragen ist sowohl den Gutachtern als auch den zuständigen Sachbearbeitern der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen fast regelmäßig die im Recht der gesetzlichen Unfallversicherung anzuwendende Theorie der rechtlich wesentlichen Bedingung nicht geläufig.
Hiernach sind als kausal und rechtserheblich solche Ursachen anzusehen, die wegen ihrer besonderen Beziehung zum Erfolg zu dessen Eintritt wesentlich mitgewirkt haben. Welche Ursache wesentlich ist und welche nicht, muss aus der Auffassung des praktischen Lebens über die besondere Beziehung der Ursache zum Eintritt des Erfolgs bzw. Gesundheitsschadens abgeleitet werden.
Bei der wertenden Entscheidung über die Wesentlichkeit einer Ursache muss berücksichtigt werden, dass es durchaus mehrere rechtlich wesentliche Ursachen für bestehende Gesundheitsstörungen geben kann: sowohl unfallbedingte als auch nicht unfallbedingte. Sozialrechtlich ist allein relevant, ob das Unfallereignis wesentlich war. Ob eine konkurrierende Ursache es war, ist unerheblich. „Wesentlich" ist nicht gleichzusetzen mit „gleichwertig" oder „annähernd gleichwertig". Auch eine nicht annähernd gleichwertige, sondern rechnerisch verhältnismäßig niedriger zu bewertende Ursache kann für den Erfolg rechtlich wesentlich sein, solange die anderen Ursachen keine überragende Bedeutung haben.
Ab welcher prozentualen Wertigkeit eine Bedingung rechtlich wesentlich angesehen muss, ist umstritten und hängt immer auch vom Einzelfall ab. Dabei dürfte nach der Rechtsprechung und Literatur eine Bedingung (Ursache), die mindestens den Wert von einem Drittel aller sonst zu berücksichtigenden Umstände (konkurrierende Ursachen) erreicht, als rechtlich wesentlich anzusehen sein. Aber selbst bei einem unfallbedingten Verursachungsanteil von nur 10% und im Bereich von 10% bis zu einem Drittel kann im konkreten Einzelfall noch eine 100%ige Kausalität angenommen werden. In jedem Fall ist besonders sorgsam zu prüfen, ob der Kausalzusammenhang von Unfallgeschehen und Erstschaden bzw. Erstschaden und Funktionsstörungen zu bejahen ist. Diese für den Unfallgeschädigten häufig vorteilhaften Kausalitätskriterien werden leider auch von den Sozialgerichten häufig unberücksichtigt gelassen und die Klage allein aus diesem Grund rechtsfehlerhaft abgewiesen.
Im vorliegenden Fall konnte mit dem gerichtlichen Sachverständigengutachten das Vorliegen von der UK Nord nicht berücksichtigter Funktionsbeeinträchtigung und eine hieraus folgende MdE von 80% beweisen werden. Zudem konnte aufgrund rechtlicher Ausführungen erreicht werden, dass bei der Bewertung des Ursachenzusammenhangs vom korrekten Kausalitätsbegriff ausgegangen und damit die Kausalität hinsichtlich sämtlicher Gesundheitsstörungen vollumfänglich bejahrt wurde.
Aufgrund des erfolgreichen Klageverfahrens konnte die Verletztenrente unseres Mandanten auf einen Betrag von monatlich 2.300,00 € erhöht werden. Der von der Unfallkasse Nord gezahlte Nachzahlungsbetrag betrug 49.193,66 €.