Sozialgericht Frankfurt (Oder): Berufsgenossenschaft für Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege (BGW) muss Bandscheibenvorfall L 5 / S 1 als Unfallfolge bei Krankenschwester anerkennen!
Urteil SG Frankfurt/Oder v. 27.04.2016, Az. 18 U 120/10 (nicht rechtskräftig)
Das Sozialgericht Frankfurt (Oder) hat entschieden, dass bei einem massiven Unfallereignis, auch wenn keine erheblichen Begleitverletzungen auftraten, die Berufsgenossenschaft BGW bei einer Krankenschwester ihren Bandscheibenvorfall an der Lendenwirbelsäule als unfallbedingt anerkennen muss.
Unsere Mandantin war als gelernte Krankenschwester in der häuslichen Krankenpflege tätig. Im September 2006 fuhr sie zur Versorgung eines ihrer neuen Patienten. Dieser war 120 kg schwer, aufgrund eines Schlaganfalls halbseitig gelähmt, saß im Rollstuhl und litt außerdem an einer Sprachstörung. Die Mandantin musste ihrem Patienten beim Toilettengang behilflich sein. Als sie ihm wieder in den Rollstuhl half und dazu in gebückter Haltung stand, sackte er aufgrund eines Krampfanfalls plötzlich in sich zusammen und sie musste ihn unverhofft auffangen, wobei ihr sofort massive Schmerzen in die untere Wirbelsäule einschossen und sie daraufhin den Dienst beenden musste. Etwas später strahlten die Schmerzen auch in das linke Bein aus.
Ein fünf Tage später aufgrund der Beschwerden durchgeführtes MRT zeigte einen Bandscheibenvorfall auf der Höhe LWK 5/SWK 1 (unteres Segment der Lendenwirbelsäule/oberstes Segment der Kreuzwirbelsäule)
Die Berufsgenossenschaft BGW lehnte nach medizinischer Begutachtung die Anerkennung des Bandscheibenvorfalls als Unfallfolge ab. Allenfalls habe es eine vorübergehende Verschlimmerung eines bereits vorbestehenden Bandscheibenschadens gegeben.
Unfallfolgen seien jedoch zum Ende des Jahres 2006 (also nach gut drei Monaten) ausgeheilt gewesen, ab diesem Zeitpunkt hätte keine unfallbedingte Notwendigkeit der Heilbehandlung bestanden.
Hiergegen erhoben wir Klage vor dem Sozialgericht Frankfurt/Oder.
Das Gericht holte von Amts wegen und auf unseren Antrag zwei medizinische Sachverständigengutachten ein, eines von einem Chirurg und Unfallchirurgen/Orthopäden und eines von einem Neurochirurgen.
In einem Punkt kamen beide Gutachten zu einem im wesentlichen gleichen Ergebnis, dem sich das Gericht denn auch anschloss:
Der Bandscheibenvorfall im Segment L5 / S1 und die hieraus resultierende Störung der sensiblen Nerven wie auch das hieraus resultierende lumbosakrale Radikulärsyndrom (Schmerzen im Bereich des unteren Rückens/Kreuz) seien auf das Unfallereignis vom September 2006 als wesentliche Teilursache - neben den unstreitig ebenfalls vorhandenen degenerativen Schädigungen der Wirbelsäule insbesondere in den knöchernen Strukturen in diesem Bereich - zurückzuführen.
Entscheidend war für das Gericht hierbei der Unfallhergang. Das Unfallereignis mit der Notwendigkeit des „Auffangens“ eines ca. 120 kg wiegenden Patienten aus einer vornübergebeugten Stellung heraus sei „sicher geeignet einen Bandscheibenvorfall hervorzurufen“. Dieses gelte – so das Gericht – hier „umso mehr“, als die Klägerin über eine degenerativ vorgeschädigte Wirbelsäulenstruktur in diesem Bereich verfügte, „wobei die Klägerin im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung mit dem Gesundheitszustand geschützt ist, in dem sie sich zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls befand“. Wobei aber, so das Gericht weiter, „die degenerativen Vorschäden auch nicht derart ausgeprägt waren, dass sie in wertender Betrachtung der Kammer als alleinige Ursache für das Entstehen des Bandscheibenvorfalls als wesentliche Ursache anzusehen wären. Dieses wäre nur dann gerechtfertigt, wenn es nachweislich bereits eine leicht anzusprechende Schadensanlage gegeben hätte, die durch jede alltäglich Belastung in etwa in der gleichen Zeit zu einem vergleichbaren Gesundheitsschaden der Klägerin geführt hätte“. Dieses sei nach den übereinstimmenden Feststellungen der Gutachter aber nicht zu unterstellen. Die seit dem Unfall fortdauernden Beschwerden seien auch unfallbedingt behandlungsbedürftig, entschied das Gericht, womit es dem von uns benannten neurochirurgischen Sachverständigen folgte. Damit muss die Berufsgenossenschaft auch für die Behandlungskosten der Mandantin wegen ihrer Beschwerden aufgrund des Bandscheibenvorfalls aufkommen.
Anmerkung RA Kohn:
Bandscheibenvorfälle sind häufig und werden oft nach Unfällen festgestellt, bei denen der Betroffene Kreuzschmerzen empfindet. Die Anerkennung der Unfallbedingtheit eines Bandscheibenvorfalls ist aber äußerst schwierig. Die Berufsgenossenschaften widersetzen sich dem stets vehement, allzu oft erfolgreich. Auch in unserem Fall hat die Berufsgenossenschaft BGW bis zum Schluss behauptet, der Bandscheibenvorfall der Mandantin sei vorbestehend gewesen. Das ist auch das Ergebnis vieler Sachverständigengutachten zu dieser Thematik. Oft werden begleitende knöcherne Verletzungen (also Brüche) als Anerkennungsvoraussetzung verlangt und behauptet, bei gesunden Strukturen wäre ein „isolierter“ Bandscheibenvorfall (also einer ohne knöcherne Begleitverletzungen) nicht möglich. Gleichzeitig unterliegen die Bandscheiben nach medizinischer Lehrmeinung in der Regel bereits ab jungen Jahren der Degeneration. Hieraus wird dann oft geschlussfolgert, dass der Bandscheibenvorfall bereits vor dem Unfall dagewesen wäre, unbemerkt bis zum Unfall. Ähnliches hat in diesem Verfahren auch immer wieder die BGW behauptet.
Tatsächlich kommt es bei der Prüfung nur darauf an, ob:
· Ein geeignetes Unfallereignis vorlag
· Unmittelbar nach dem Unfall einschlägige Beschwerden/Beeinträchtigungen vorlagen
· Vor dem Unfall Beschwerdefreiheit bzw. zumindest Beschwerdearmut bestand
Zutreffend hat das Sozialgericht erkannt, dass gewisse vorbestehende degenerative Veränderungen keineswegs zwingend gegen den Unfallzusammenhang sprechen. Der Unfall muss in der gesetzlichen Unfallversicherung nicht die alleinige, sondern „nur“ die wesentliche Ursache sein. Außerdem ist man im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung stets mit dem Gesundheitszustand geschützt, in dem man sich zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls befand. Wenn also die Bandscheiben bzw. die Wirbelsäule zum Unfallzeitpunkt nicht mehr ganz „gesund“ waren und man deshalb anfälliger für (weitere) Schädigungen ist als ein „Gesunder“, kann das für die Annahme des Unfallzusammenhangs sprechen.
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