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LG Landshut: Bayern-Versicherung muss Berufsunfähigkeit wegen fehlenden Verschuldens des VN - trotz Ausschlussfrist - rückwirkend anderkennen. Prof. Winterer und Dr. Göhringer durch Gerichtsgutachter widerlegt.

Urteil Landgericht Landshut v. 14.03.2023, Az. 72 O 3607/20

Die Parteien streiten um Leistungen aus einer Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung.

Der Kläger unterhält seit dem 01.05.1997 eine Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung zur Lebensversicherung. Dem Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherungsvertrag liegen die „Besondere Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung" der Beklagten zugrunde. Im Vertrag ist weiter eine monatliche Berufsunfähigkeitsrente ab 01.05.2018 in Höhe von 722,96 Euro vereinbart.

Mit E-Mail seiner Versicherungsvertreterin vom 02.11.2018 machte der Kläger bei der Beklagten erstmals Versicherungsleistungen wegen eingetretener Berufsunfähigkeit geltend. Im Rahmen der Leistungsprüfung beauftragte die Beklagte den Psychiater Prof. Dr. Winterer und den Psychologen Dr. Göhringer aus dem Gutachteninstitut „IMB Interdisziplinäre Medizinische Begutachtungen" mit der Prüfung der Berufsunfähigkeit des Klägers. Auf Grundlage der Gutachten Prof. Dr. Winterer vom 13.09.2019 und Dr. Göhringer vom 13.09.2019 erklärte die Beklagte mit Schreiben vom 27.09.2019 eine Leistungsablehnung.

Der Kläger behauptet. seit Ende des Jahres 2017 lägen bei ihm gesundheitliche Beschwerden und Beeinträchtigungen in Form von völliger Erschöpfung, Antriebslosigkeit, Kraft- und Lustlosigkeit, ständiger Müdigkeit, Deprimiertheit, Niedergeschlagenheit, massiven Ein- und Durchschlafstörungen, hoher emotionaler Anspannung, Traurigkeit, Interessenverlust, Gefühlen der Hoffnungslosigkeit und der Perspektivlosigkeit vor. Er leide an einem Gefühl der Nutzlosigkeit und starken Selbstzweifeln. Er habe Angst mit anderen Menschen in Kontakt zu treten und erleide Panikattacken, Herzrasen und Schweißausbrüche. Sozial lebe er zurückgezogen.

Der Kläger behauptet weiter, aufgrund seiner psychischen Erkrankungen in Form von Depression, Angststörung und sozialer Phobie läge bei ihm seit 03.05.2018 eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit vor. Ihm sei aufgrund seiner psychischen Erkrankungen ein Grad der Behinderung (GdB) von 40 zuerkannt worden.

Seine in gesunden Tagen zuletzt ausgeübte Tätigkeit als Verkäufer und Kundenberater in einem Baumarkt habe einen Umfang von 7,5 Arbeitsstunden an 5 Tagen die Woche eingenommen.

Der Kläger meint, die Leistungsablehnung der Beklagten könne keinen Bestand haben. Er habe einen Anspruch auf Rentenzahlungen und auf Prämienrückzahlung bzw. - . befreiung seit dem 01.06.2018. Ein teilweiser Anspruchsverlust für den Zeitraum von Juni bis November 2018 sei nicht anzunehmen, da ihn kein Verschulden an der Anmeldung seiner am 03.05.2018 eingetretenen Berufsunfähigkeit erst im November 2018 treffe.

Die Beklagte bestreitet, das Tätigkeitsbild und die bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit des Klägers.

Die Beklagte ist der Rechtsauffassung, ein klägerischer Anspruch auf Beitragsbefreiung und Rente käme jedenfalls frühestens ab Dezember 2018 in Betracht. Der Antrag des Klägers sei auf den 12.12.2018 datiert. Gemäß § 1 Abs.3 S.2 BB-BUZ entstehe ein Anspruch damit erst mit Beginn des Monats der schriftlichen Mitteilung, mithin Dezember 2018. Weiter bestünde auch kein Anspruch auf Befreiung von Beiträgen ab 01.12.2020. Überschusszuweisungen erfolgten nicht monatlich, vielmehr werde eine Verteilung der Überschussanteile jährlich jeweils am Ende des Versicherungsjahres vorgenommen.

 

Der Kläger wurde durch das Gericht im Rahmen des Hauptverhandlungstermins am 02.06.2022 informatorisch angehört. Weiter hat das Gericht in diesem Termin auch Beweis erhoben durch Einvernahme des Zeugen H.

Mit Beweisbeschluss vom 15.07.2022 hat das Gericht schließlich den Sachverständigen Dr. K. mit der Erstellung eines Sachverständigengutachtens beauftragt. Dieses wurde durch den Sachverständigen datiert auf den 03.11.2022 abgefasst und ging am 07.11.2022 bei Gericht ein.

 

Entscheidungsgründe

Die Klage erwies sich als überwiegend begründet.

Der Versicherungsfall ist eingetreten. Der zwischen den Parteien im Mai 1997 geschlossene Ver­sicherungsvertrag verpflichtet die Beklagte dem Grunde nach zu den beantragten Leistungen. Der Kläger hat vorliegend insoweit zur Überzeugung des Gerichts bewiesen, dass er seit 03.05.2018 zu (mindestens) 50 % nicht mehr in der Lage ist, seinem zuletzt ausgeübten Beruf als Verkäufer in einem Baumarkt auszuüben.

Nach § 2 (1) der „Besonderen Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung" liegt vollständige Berufsunfähigkeit vor, wenn der Versicherte infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, voraussichtlich dauernd außerstande ist, seinen Beruf oder eine andere Tätigkeit auszuüben, die aufgrund seiner Kenntnisse und Fähigkeiten ausgeübt werden kann und seiner bisherigen Lebensstellung entspricht.

Bei der Ermittlung bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit ist grundsätzlich die letzte konkrete Be­rufsausübung des Versicherten maßgebend, so wie sie in gesunden Tagen ausgestaltet war, d.h. solange seine Leistungsfähigkeit noch nicht beeinträchtigt war. Der Versicherte muss zu dieser konkreten beruflichen Tätigkeit in einem Ausmaß nicht mehr imstande sein, dass nach den Versicherungsbedingungen ein Rentenanspruch begründet wird. Dies muss der Versicherungsnehmer darlegen und beweisen (vgl. BGH, Urteil vom 26.02.2003 - IV ZR 238/01; BGH, Hinweisbeschluss vom 11.07. 2012- IV ZR 5/11 ).

Unter Zugrundelegung der Ausführungen des Klägers zur Ausgestaltung seiner bisherigen berufli­chen Tätigkeit steht für das Gericht aufgrund der überzeugenden Feststellungen des gerichtlich bestellten Sachverständigen Dr. K. fest, dass der Kläger seit 03.05.2018 zu mindestens 50 % außerstande war seinen bisherigen Beruf auszuüben:

Der Sachverständige hat in seinem schriftlichen Gutachten vom 03.11.2022 nach Untersuchung des Klägers am 06.10.2022 und Würdigung der als Anlagen vorgelegten medizinischen Dokumente hierbei zunächst ausgeführt, dass der Kläger an einer chronifizierten mittelschweren bis schweren Depression auf der Basis einer Persönlichkeitsstörung, einer komplexen Angsterkrankung sowie einem leichten Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom im Erwachsenenalter leide. Das psychische und psychosomatische Funktionsniveau des Klägers sei hierbei nach Darlegung des Sachverständigen in hohem Maße reduziert. Hochgradig beeinträchtigt seien weiter die Stressresistenz, die Frustrationstoleranz und die Anpassungs- und Umstellungsfähigkeit. Der Kläger könne sich nach den Ausführungen des Sachverständigen nur noch sehr eingeschränkt in den Arbeitsprozess integrieren, die Fähigkeit, sich an Regeln zu halten, Termine ver­abredungsgemäß wahrzunehmen und sich in Organisationsabläufe einzufügen, sei hochgradig reduziert, dies gelte auch für die Planung und Strukturierung von Aufgaben. Die Flexibilität sei ebenfalls hochgradig beeinträchtigt, ebenso die Anwendung fachlicher Kompetenz. Zwar habe der Kläger keine primären kognitiven Defizite, gleichwohl sei aber aus Sicht des Sachverständigen die Fähigkeit, zu entscheiden, zu handeln und zu planen durch die Depression und die Angstsymptomatik hochgradig beeinträchtigt, da das gesamte Denken und der Tagesablauf von diesen seelischen Störungen bestimmt werde. Das Durchhaltevermögen zeige ebenso deutliche Einbußen. Der Kläger könne sich nicht mehr für seine Belange einsetzen. Im interpersonellen Kontakt sei der Kläger gehemmt und introvertiert, sodass die Gruppenfähigkeit darunter leide. Auch die Fähigkeit, sich aufzuraffen, sei deutlich betroffen. Der Tatbestand der kumulierenden Funktionsstörung sei gegeben. Der Sachverständige kommt im Rahmen seiner gutachterlichen Ausführungen sodann weiter zu dem Ergebnis, dass die von ihm beschriebenen seelischen Erkrankungen auf der Funktionsebene zu einer gegenseitig besonders nachteiligen Auswirkung führen. Durch die bestehende Persönlichkeitsstörung und die komplexe Angstsymptomatik könne der Kläger innerseelisch die depressiven Symptome nicht überwinden. Die auffällige Selbst- und Weltsicht und die Angsterkrankung würden hierbei zu einer Chronifizierung des depressiven Bildes führen. Aufgrund des zentralen Aspekts des direkten Kundenkontakts im Rahmen der zuletzt ausgeübten Tätigkeit des Klägers zeige sich hier eine hochgradige Einschränkung des psychi­schen und psychosomatischen Funktionsniveaus, so dass der Grad der Berufsunfähigkeit auf über 80 % einzustufen sei. Dieser Grad der Berufsunfähigkeit bestehe hierbei nach den Ausführungen des Sachverständigen ununterbrochen seit 03.05.2018. Es handelt sich um einen chronifizierten Krankheitsverlauf. Auch in Anbetracht der psychiatrischen Komorbidität könne man mit einer Besserung der dargelegten Funktionsstörungen nicht mehr rechnen. Da zentrale Anteile der Persönlichkeit durch die seelische Erkrankung betroffen seien, finde sich ebenfalls eine krankheitsbedingte Einbuße der Willens- und Motivationsstruktur.

Die Ausführungen des Sachverständigen Dr. K. sind insgesamt vollständig, verständlich, nachvollziehbar und in allen Punkten medizinisch überzeugend. Es sind für das Gericht keine Anhaltspunkte ersichtlich, an der Sachkunde des Sachverständigen oder an der Richtigkeit der von ihm getroffenen Feststellungen zu zweifeln. Das Gericht schließt sich daher der zutref­fenden Einschätzung des Sachverständigen vollumfänglich an und macht sich diese zu Eigen.

 

Gemäß § 1 ( 1) b) der „Besonderen Bedingungen für die Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung" besteht ein Anspruch des Klägers auf Zahlung einer Berufsunfähigkeitsrente, die ausweislich des Nachtrags zum Versicherungsschein vom 22.03.2018 ab 01.05.2018 mit 722,96 Euro monatlich versichert ist. Gemäß § 1 (3) dieser Bedingungen entsteht der Anspruch auf Beitragsbefreiung und Rente sodann mit Ablauf des Monats, in dem die Berufsunfähigkeit eingetreten ist. Wird die Berufsunfähigkeit später als drei Monate nach ihrem Eintritt schriftlich mitgeteilt, so entsteht der Anspruch auf die Versicherungsleistungen erst mit Beginn des Monats der schriftlichen Mitteilung.

Eine solche Regelung, die durchgreifenden - insbesondere AGB-rechtlichen - Bedenken nicht begegnet, begründet nach der gefestigten höchstrichterlichen Rechtsprechung, der sich das Gericht anschließt, keine - bei Eintritt des Versicherungsfalls vom Versicherungsnehmer zu erfüllende vertragliche Obliegenheit, sondern enthält eine Ausschlussfrist, die regelmäßig objektiv eine verlässliche zeitliche Begrenzung der Leistungspflicht des Versicherers bezweckt, um diesem die alsbaldige Prüfung und zuverlässige Feststellung der geltend gemachten Berufsunfähigkeit zu ermöglichen, ihm rasch Klarheit über seine Leistungspflicht zu verschaffen und sicherzustellen, dass er nicht für - möglicherweise lange Zeit - vor dem Fristablauf begründete, jedoch zunächst unbekannt gebliebene Ansprüche einstehen muss, deren Ausmaß beträchtlich sein kann und bei denen die Sachaufklärung, speziell hinsichtlich der gesundheitlichen Verhältnisse des Versicher­ten und deren Auswirkungen auf dessen berufliche Tätigkeit, schon durch Zeitablauf prinzipiell schwieriger wird (vgl. etwa BGH, Urteil vom 02.11.1994 - IV ZR 324/-93). Auf die Versäumung der Anzeigefrist kann sich der Versicherer nach Treu und Glauben grundsätzlich nur dann nicht berufen, wenn den Versicherungsnehmer - was dieser zu beweisen hat - daran keinerlei Verschulden trifft, etwa weil er von dem Eintritt eines Zustands, der die Bejahung bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit rechtfertigt, unverschuldet nichts wusste; prinzipiell ist allerdings schon einfache Fahrlässigkeit schädlich (vgl. OLG Brandenburg, Urteil vom 04.04.2013 - 1 U 94/-12 mwN).

Entgegen der von der Beklagten vertretenen Auffassung ist das Gericht mit der erforderlichen Sicherheit davon überzeugt, dass der Kläger im Zeitraum zwischen dem 03.05.2018 und seinem Anspruchsschreiben vom 02.11.2018 vom Bestehen einer voraussichtlich dauernden Berufsunfähigkeit im Sinne der Versicherungsbedingungen keine Kenntnis hatte und ihn an dieser Nichtkenntnis auch kein Verschulden trifft.

Seine Überzeugung schöpft das Gericht hierbei aus den Angaben des Klägers im Rahmen der in­formatorischen Anhörung am 02.06.2022. Der Kläger gab insoweit für das Gericht glaubhaft und nachvollziehbar an, erstmals im Gespräch mit seiner Versicherungsmaklerin der Sparkasse auf eine möglicherweise bei ihm eingetretene Berufsunfähigkeit und einen hieraus resultierenden Anspruch aus seiner Berufsunfähigkeits-Zusatzversicherung aufmerksam gemacht worden zu sein. Angesprochen auf seine seit 03.05.2018 fortdauernde Krankschreibung gab der Kläger an, sich nicht über die Auswirkungen seiner Erkrankung auf seine Berufsfähigkeit bewusst gewesen zu sein, sondern stets an eine Rückkehr in den Berufsalltag - entsprechend des konkreten Vorbilds seines Vaters - geglaubt zu haben. Dies erscheint dem Gericht auch deswegen überzeugend, weil der Kläger im Rahmen seiner Anhörung sogar angab, im Jahr 2019 nochmals einen Wiedereintritt in die Berufstätigkeit in Form einer Anstellung als Hausmeister versucht zu haben.

Die Beklagte hat daher rückwirkend ab 01.06.2018 Leistungen aus der Berufsunfähigkeits-Zusatz­versicherung an den Kläger zu erbringen.

Anmerkung Rechtsanwalt Dr. Büchner:

Das von uns erstrittene Urteil ist insofern bemerkenswert, als das Landgericht Landshut unserem Vortrag auch dahingehend gefolgt ist, dass unser Mandant seine Berufsunfähigkeit unverschuldet verspätet geltend gemacht hat. Viele ältere Bedingungswerke enthalten nämlich sog. Ausschlussklauseln, nach denen Leistungen maximal drei Monate rückwirkend beantragt werden können, auch wenn der Leistungsfall ggf. bereits weiter zurückliegt.

So lag der Fall auch hier: Unser Mandant war sich jedoch nicht darüber im Klaren, dass er berufsunfähig ist und hat aus diesem Grunde zunächst keine Leistungen beantragt, vielmehr war er bemüht, wieder zurück ins Berufsleben zu finden. Erst als offenbar wurde, dass das nicht gelingt, ist er von dritter Seite darauf aufmerksam gemacht worden, dass ggf. ein Anspruch besteht.

 

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