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LG Berlin (./. Cosmos Direkt) – Gerichtsgutachter widerlegt Versicherungsgutachter Prof. Stevens: krankheitsbedingte Beschwerdeverdeutlichung ist weder Aggravation noch Simulation!

Einmal mehr wurde ein BU-Gutachten von Prof. Dr. Andreas Stevens durch den gerichtlichen Sachverständigen im Prozess widerlegt.

Landgericht Berlin, Urteil vom 29.05.2015 – 23 O 236/13

1. Betont und verdeutlicht der Versicherte psychische Beschwerden, ist ihm das nicht als Aggravation oder gar Simulation vorwerfbar, wenn diese Übertreibungen als Elemente einer histrionischen Persönlichkeitsstörung und damit als Teil des vorhandenen Krankheitsbildes zu bewerten sind.

2. Testpsychologische (Zusatz)Untersuchungen sind nicht zielführend und daher nicht veranlasst, wenn es um die Beurteilung in der Vergangenheit liegender Gesundheitszustände geht.

3. Allein der Umstand, dass der gerichtlich beauftragte medizinische Sachverständige, der die mindestens 50%ige Berufsunfähigkeit des Versicherten zu einem Zeitpunkt in der Vergangenheit bestätigt, im Zeitpunkt seiner Untersuchung stärkere psychische Beeinträchtigungen des Versicherten nicht mehr feststellen kann, führt nicht automatisch zum Ende der Leistungspflicht des Versicherers. Vielmehr muss sich der Versicherer durch ausdrücklichen Vortrag im Prozess auf die Gesundheitsverbesserung und auf den dadurch bedingten Wegfall der mindestens 50%igen Berufsunfähigkeit des Versicherten berufen.

1. Sachverhalt

Unsere Mandantin war bei der Cosmos Lebensversicherungs-AG gegen Berufsunfähigkeit versichert. Nach den Versicherungsbedingungen des Versicherungsvertrages liegt eine Berufsunfähigkeit vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, bereits sechs Monate ununterbrochen außerstande gewesen ist oder nach ärztlicher Prognose voraussichtlich sechs Monate ununterbrochen außerstande sein wird, ihren Beruf zu mindestens 50% auszuüben. Ihre berufliche Tätigkeit als angestellte Hausverwalterin konnte unsere Mandantin wegen diverser körperlicher und psychischer Beschwerden seit Oktober 2010 nicht mehr ausüben und war seitdem durchgehend arbeitsunfähig krankgeschrieben. In der Zeit von Januar bis April 2011 unterzog sie sich wegen einer depressiven Symptomatik einer teilstationären Behandlung in einer psychiatrischen Tagesklinik und ab Juni 2011 einer ambulanten Psychotherapie. Im Oktober 2011 begehrte unsere Mandantin von der Cosmos Lebensversicherungs-AG die Gewährung von Versicherungsleistungen (Rentenzahlung und Befreiung von den Versicherungsprämien) mit der Angabe, sie sei seit Oktober 2010 nicht mehr in der Lage, ihre berufliche Tätigkeit auszuüben. Im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung Bund erstellte der Arzt für Neurologie und Psychiatrie Dr. med. Zetzmann zum Zustand unserer Mandantin im April 2012 ein Gutachten, in dem er zu dem Ergebnis gelangte, dass unsere Mandantin mindestens für die Dauer eines Jahres nicht dazu in der Lage sein werde, sich auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt durchzusetzen. Die Deutsche Rentenversicherung Bund anerkannte unserer Mandantin daraufhin eine Rente wegen voller Erwerbsminderung. Die Cosmos Lebensversicherungs-AG war dennoch nicht von der mindestens 50%igen Berufsunfähigkeit unserer Mandantin zu überzeugen und holte ein neurologisch-psychiatrisches Gutachten des bei Versicherern sehr geschätzten Herrn Prof. Dr. med. Andreas Stevens ( Medizinisches Begutachtungsinstitut Tübingen ) ein. Wie bei diesem Arzt nicht anders zu erwarten kam er für die Cosmos Lebensversicherungs-AG interessengerecht in seinem Gutachten zu dem Ergebnis, die von unserer Mandantin geschilderten Beschwerden seien nicht nachzuvollziehen, es würden keine Hinweise auf eine relevante Gesundheitsstörung vorliegen, vielmehr liege eine bewusste Beschwerdeübertreibung (Aggravation) unserer Mandantin vor. Daraufhin erfolgte die umgehende Ablehnung des BU-Rentenantrages durch Cosmos Lebensversicherungs-AG.

2. Entscheidung des Landgerichts Berlin

Das Landgericht hat unserer rückwirkend ab November 2010 erhobenen Klage auf die Versicherungsleistungen  (Rente und Prämienbefreiung) ab Mai 2012 stattgegeben, denn der Eintritt bedingungsgemäßer Berufsunfähigkeit unserer Mandantin konnte für April 2012 festgestellt werden. Das stand zur Überzeugung des Landgerichts nach Einholung eines  Gutachtens des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. med. Stoffels (Park-Klinik Sophie Charlotte) fest. Der gerichtliche Sachverständige hat zur Überzeugung des Landgerichts festgestellt, dass der Inhalt des Gutachtens Prof. Dr. Zetzmann nach damaligem Stand (April 2012) die medizinische Prognose rechtfertigte, dass unsere Mandantin für wenigstens weitere sechs Monate aufgrund einer psychischen und somatischen Polysymptomatik außerstande sein werde, als Hausverwalterin tätig zu sein. Zu diesem Ergebnis gelangte der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. Stoffels nach den Feststellungen des Landgerichts einleuchtend aufgrund der von ihm selbst durchgeführten Exploration, der Auswertung der damals erhobenen medizinischen Befunde und den Umständen, dass sich unsere Mandantin mehreren psychiatrisch-psychotherapeutischen Behandlungsmaßnahmen unterzogen und auch Psychopharmaka eingenommen hat. Aus alldem folgerte der gerichtliche Sachverständige für das Landgericht Berlin überzeugend, dass trotz einer „unübersehbar vorhandenen Beschwerdebetonung“ keinerlei Anzeichen für das Vortäuschen einer Erkrankung durch unsere Mandantin vorgelegen haben. Die auch von dem gerichtlichen Sachverständigen bei unserer Mandantin befundeten Beschwerdeübertreibungen bewertete er vielmehr als Elemente einer histrionischen Persönlichkeitsstörung, also als Teil des vorhandenen Krankheitsbildes und nicht, wie der Privatgutachter der Cosmos Lebensversicherungs-AG Prof. Dr. Stevens als eine bewusste Beschwerdeübertreibung (Aggravation). Diese Einschätzung des Sachverständigen hat sich das Landgericht ausdrücklich in Anbetracht der durchgeführten Behandlungsmaßnahmen unserer Mandantin mit Einnahme hochwirksamer Medikamente zu eigen gemacht.

Das Landgericht hat auch dem Einwand der Cosmos Lebensversicherungs-AG eine klare Absage erteilt, der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. Stoffels habe keine testpsychologischen Untersuchungen veranlasst. Insoweit hatte der gerichtliche Sachverständige in seiner persönlichen Anhörung im Gerichtstermin für das Landgericht überzeugend ausgeführt, eine solche zusätzliche Untersuchung hätte nur dann zielführend sein können, wenn es um die Beurteilung aktuell geklagter Beschwerden gegangen wäre. Tatsächlich war es aber Aufgabe des gerichtlichen Sachverständigen, einen in der Vergangenheit liegenden Zustand unserer Mandantin zu beurteilen bzw. anhand damaliger Befunde eine rückschauende Prognose zu treffen, wofür aktuelle Schilderungen keine ausschlaggebende Bedeutung haben.

Schließlich hat das Landgericht den Einwand der Cosmos Lebensversicherungs-AG zurückgewiesen, der Ausspruch der Leistungspflicht der Cosmos sei bis zu dem Zeitpunkt der von dem gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. med. Stoffels durchgeführten Untersuchung im Jahr 2014 zu beschränken. Zwar sei es zutreffend, dass der gerichtliche Sachverständige angegeben habe, dass er zum Zeitpunkt der von ihm durchgeführten Untersuchung stärkere psychische Beeinträchtigungen unserer Mandantin nicht mehr habe bestätigen können. Daraus folge aber keineswegs ein Ende der Leistungspflicht der Cosmos Lebensversicherungs-AG. Denn sofern – wie auch im vorliegenden Fall – ab einem bestimmten Zeitpunkt eine Leistungspflicht gegeben ist, steht dem Versicherer im selben Prozess der Beweis offen, dass und ab welchem Zeitpunkt die Voraussetzungen für eine Einstellung der Versicherungsleistungen eingetreten ist. Hierzu ist es jedoch wenigstens erforderlich, dass der Versicherer sich durch ausdrücklichen Vortrag im Rechtsstreit darauf beruft, dass die Voraussetzungen der Leistungspflicht ab einem bestimmten Zeitpunkt – aufgrund einer Verbesserung des Gesundheitszustandes oder aufgrund neu aufgenommener anderweitiger beruflicher Tätigkeit – wieder entfallen sind. Nur dann besteht  nämlich Anlass, eine gerichtliche Begutachtung zu dieser Frage einzuholen. Das hatte die Cosmos Lebensversicherungs-AG jedoch bis zum Schluss der mündlichen Verhandlung nicht getan. Die bloße Erklärung ihres Prozessbevollmächtigten im Termin, wonach sich die Beklagte die Erkenntnis, wonach der Sachverständige bei seiner Untersuchung stärkere Beeinträchtigungen nicht mehr habe feststellen können, „zu eigen“ mache, ersetzt diesen erforderlichen Sachvortrag nicht. Denn daraus folgte noch nicht einmal mit hinreichender Sicherheit, dass unsere Mandantin derzeit wieder zu mehr als 50% in der Lage wäre, ihre Tätigkeit als Hausverwalterin wieder auszuüben.

3. Anmerkungen RA Zeitler, Fachanwalt für Versicherungsrecht und Medizinrecht:

Diese Entscheidung des Landgerichts Berlin ist sehr praxisrelevant, weil sie sich mit Problemen beschäftigt, die sehr häufig in BU-Verfahren mit psychischen Erkrankungen auftreten.

Macht der Versicherte eine Berufsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen geltend, fordern Versicherer nahezu reflexartig sowohl im Rahmen ihrer vorgerichtlichen Leistungsprüfung als auch später in einem Gerichtsprozess, dass sich der Versicherte nicht nur einer psychiatrischen Untersuchung durch einen Facharzt für Psychiatrie, sondern auch einer sog. testpsychologischen Untersuchung durch einen Psychologen stellt. Hintergrund dieser Forderung der Versicherer ist, dass testpsychologische Untersuchungen auch Testungen enthalten (sog. Beschwerdevalidierungstets), mit denen – nach Aussage der Versicherer und der für sie arbeitenden Gutachter – herausgefunden werden kann, ob der Versicherte seine Beschwerden wahrheitsgemäß darstellt oder aber ob er seine Beschwerden bewusst übertreibt (sog. Aggravation) oder gar vortäuscht (sog. Simulation). Das Anliegen der Versicherer, schwarze Schafe unter den Versicherten zu entlarven ist durchaus verständlich. Das Problem ist aber, dass testpsychologische Untersuchungen und insbesondere Beschwerdevalidierungstests in der medizinischen Wissenschaft hoch umstritten sind. Entgegen der immer wieder gebetsmühlenartig von den Versicherern vorgetragenen Behauptung besteht kein Konsens in der medizinischen Wissenschaft zur Aussagekraft und zur Anwendbarkeit von testpsychologischen Untersuchungen, insbesondere von Beschwerdevalidierungstests. Das ist den Versicherten und wie zu beobachten ist leider durchaus auch Richtern häufig nicht bekannt. Es besteht auf Seiten einiger Gerichte die Tendenz, den Forderungen der Versicherer nach der Einholung testpsychologischer Untersuchungen unreflektiert nachzukommen. Erfreulicherweise nicht so beim Landgericht Berlin, das der diesbezüglichen Forderung der Cosmos Lebensversicherungs-AG nicht gefolgt ist.

So hatte der Sachverständige Prof. Dr. Stoffels zwar auch im Rahmen seiner psychiatrischen Untersuchung bei unserer Mandantin Beschwerdeübertreibungen festgestellt. Anders als der vorgerichtlich von der Cosmos Lebensversicherungs-AG beauftragte Privatgutachter Prof. Dr. Stevens hat er diese jedoch nicht als von unserer Mandantin bewusst und willentlich gesteuerte Beschwerdeübertreibungen (Aggravation), sondern vielmehr als krankheitsbedingt unbewusste und nicht steuerbare Beschwerdeübertreibungen erkannt. Grundlage dafür war, dass der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. Stoffels anders als der Privatgutachter des Versicherers Prof. Dr. Stevens eine umfassend psychiatrische Untersuchung unserer Mandantin und auch eine akribische Auswertung sämtlicher Vorbefunde, insbesondere des für die Deutsche Rentenversicherung Bund erstellten Gutachtens von Dr. Zetzmann vorgenommen hatte. Nur so konnte Herr Prof. Dr. Stoffels erkennen, dass die Beschwerdeübertreibungen unserer Mandantin Ausdruck ihrer Erkrankung in Form einer spezifischen Persönlichkeitsstörung vom histrionischen Typ (gekennzeichnet durch egozentrisches, theatralisches Verhalten) sind. Typisch ist in diesem Zusammenhang ein übertriebener Ausdruck von Gefühlen im Sinne der Dramatisierung.

Eine testpsychologische Zusatzuntersuchung hatte der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. Stoffels nicht veranlasst. Der daraufhin von der Cosmos Lebensversicherungs-AG reflexartig ausgesprochenen Forderung nach Einholung eines testpsychologischen Zusatzgutachtens ist das Landgericht Berlin zu Recht nicht gefolgt. Denn wenn die Beschwerdeübertreibungen unserer Mandantin – wie von dem psychiatrischen Sachverständigen Prof. Dr. Stoffels bereits im Rahmen seiner psychiatrischen Begutachtung nachgewiesen – krankheitsbedingt verursacht sind, kann eine zusätzliche testpsychologische Untersuchung keine weitergehenden Erkenntnisse erbringen, sie ist überflüssig. Testpsychologische Untersuchungen können allenfalls ergänzende Erkenntnisse liefern, wenn im Rahmen der psychiatrischen Begutachtung kein eindeutiges Ergebnis festgestellt werden kann. Sie sind jedoch nicht geeignet, eindeutige Ergebnisse einer psychiatrischen Begutachtung in Frage zu stellen. Hinzu kommt, dass der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. Stoffels im Termin zur mündlichen Verhandlung nachvollziehbar erläutert hatte, dass eine aktuelle testpsychologische Untersuchung auch nur Erkenntnisse über die aktuelle Gesundheitssituation erbringen könnte, jedoch keine Erkenntnisse zu der Frage, wie die Gesundheitssituation unserer Mandantin zum Zeitpunkt der von ihr geltend gemachten Berufsunfähigkeit in der Vergangenheit war. Auch deshalb war eine testpsychologische Zusatzuntersuchung nicht durchzuführen.

Das Landgericht Berlin hat schließlich dem Versuch der Cosmos Lebensversicherungs-AG, aus der Aussage des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. Stoffels in seinem Gutachten – zum Zeitpunkt seiner Untersuchung im Jahr 2014 habe er stärkere psychische Beeinträchtigungen unserer Mandantin nicht mehr feststellen können – Honig zu saugen, eine Absage erteilt. Stellt der medizinische Sachverständige im Prozess zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit die mindestens 50%ige Berufsunfähigkeit des Versicherten fest, ist es Sache des Versicherers darzulegen und zu beweisen, dass zu irgendeinem Zeitpunkt danach eine so starke Gesundheitsverbesserung des Versicherten eingetreten ist, die einen Wegfall der mindestens 50%igen Berufsunfähigkeit begründet. Dies stellt hohe Anforderungen an den Vortrag des Versicherers, der eine konkrete Vergleichsbetrachtung anstellen muss, die das Landgericht Berlin hier zu Recht als nicht erfüllt angesehen hat. Obacht ist in vergleichbaren Fällen durch die Versicherten zu geben, wenn die Anwälte der Versicherer versuchen, den gerichtlichen Sachverständigen nach festgestellter mindestens 50%iger Berufsunfähigkeit zum aktuellen Gesundheitszustand und zum Grad der aktuellen Berufsunfähigkeit des Versicherten zu befragen. Diese Versuche sind unzulässig und zu unterbinden, darauf muss man gegebenenfalls auch das Gericht hinweisen. Denn wie der aktuelle Gesundheitszustand des Versicherten ist und ob aktuell (noch) eine mindestens 50%ige Berufsunfähigkeit des Versicherten vorliegt, ist nicht Gegenstand des Prozesses, solange der Versicherer hierzu nicht von sich aus dezidiert vorträgt und behauptet, es sei zu einer Gesundheitsverbesserung und zu einem dadurch bedingten Absinken der Berufsunfähigkeit des Versicherten auf unter 50% gekommen. Fragen der Anwälte der Versicherer an den Sachverständigen dahingehend, sich diese Erkenntnisse erst zu verschaffen, sind als sog. Ausforschungsbeweis unzulässig und strikt zu unterbinden.

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