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OLG Koblenz: Invaliditätsberechnung nach Gliedertaxe bei Teilfunktionsunfähigkeit "Arm im Schultergelenk".

OLG Koblenz, Urteil v. 04.09.2009

Die Klägerin hatte einen Unfall erlitten, bei welchem sie sich die rechte Schulter brach. Nach einer ersten, von der Beklagten beauftragten Begutachtung vom kam der Gutachter zu dem Ergebnis, dass derzeit eine Beeinträchtigung von 5/20 Armwert vorliege.

Zu einem späteren Zeitpunkt wurde die Klägerin im Auftrag der Beklagten vom gleichen Gutachter erneut untersucht. Dieser stellte nunmehr fest, dass bei ihr eine stark ausgeprägte posttraumatische Schultersteife rechts sowie eine Humeruskopfnekrose rechts vorliegen. Den Invaliditätsgrad bezifferte er gemäß der Gliedertaxe auf 4/10 Armwert. Auf der Grundlage dieses Ergebnisses rechnete die Beklagte die Invaliditätsleistung ab.

Die Klägerin machte geltend, dass eine Invaliditätsleistung i.H.v. 10/10 Armwert, sprich 70 % Invalidität nach Gliedertaxe geschuldet sei. Die von dem, von der Versicherung beauftragten Gutachter getroffenen Feststellungen, sind aus rechtlichen Gründen nicht zutreffend. Bei der Bemessung des Invaliditätsgrades hätte ausschließlich auf die Funktionsfähigkeit im Gelenk (Arm im Schultergelenk) selbst und nicht auf die Funktionsfähigkeit des Armes insgesamt abgestellt werden dürfen. Die Funktionsfähigkeit des Armes sei im Gelenk zu 100% eingeschränkt.

Das OLG Koblenz sprach der Versicherungsnehmerin ihren Invaliditätsanspruch in voller Höhe zu.

Die beklagte Versicherung machte geltend, dass der Gutachter bestätigt hatte,  dass bei der Klägerin eine noch vorhandene Beweglichkeit des Schulterblatts sowie des Schultereckgelenks vorlag und ausgeführt dass auch Schulterblatt sowie Schultereckgelenk und auch das Schlüsselbein funktionell mit zum Schultergelenk gehören, welches somit nicht zu 100% funktionsunfähig geworden ist.

Diese Argumentation ließ das OLG Koblenz nicht gelten: es ist nicht gerechtfertigt, den Schultergürtel insgesamt als Schultergelenk im Sinne des § 7 Nr. I (2) a AUB 88 zu definieren. Der Begriff Schultergelenk ist vielmehr allein in seinem Wortsinn, nämlich als bewegliche Verbindung zwischen Schulterblatt und Oberarmknochen, zu verstehen. Da die Funktionalität in diesem Bereich des eigentlichen Schultergelenks unstreitig aufgehoben war, wurde die Unfallversicherung verurteilt, einen vollen Armwert – also 70% Invalidität – abzurechnen, so dass die Versicherung verurteilt wurde, eine weitere Invaliditätssumme in Höhe von 63.912,50 € an die Klägerin zu zahlen.

Anmerkung Rechtsanwalt Dr. Büchner, Fachanwalt für Versicherungs- und Medizinrecht:

Bekanntlich müssen Unfallversicherungen seit der Entscheidung des BGH v. 24.05.2006 bei einem funktionsunfähigen Schultergelenk eine Invaliditätsentschädigung nach einem vollen Armwert, d.h. 70% nach Gliedertaxe abrechnen. Diese Rechtsprechung gilt nach den Urteilen des

BGH vom 17.01.2001 auch für das Fußgelenk und für das Handgelenk

BGH v. 09.07.2003.

Unsere Erfahrung ist es seit Existenz der o.g. BGH-Urteile, dass Versicherer diese Rechtsprechung schlichtweg ignorieren und nach wie vor nach den alten Begutachtungsprinzipien abrechnen, nach denen z.B. eine versteifte Schulter korrekt mit 4/10 Armwert abgerechnet werden konnte (gleiches gilt für Fuß und Hand). Hier kommt ihnen entgegen, dass die von ihnen beauftragten Gutachter die Rechtsprechung des BGH nicht kennen (und auch nicht kennen müssen) und diese insofern nach den althergebrachten Begutachtungsempfehlungen bewerten. Da die Versicherungen es dann vermeiden, ihr Wissen um die vom BGH geforderte anderweitige Bewertung anzuwenden und sich vielmehr auf die Aussagen der Gutachter zurückziehen, gelingt es in vielen Fällen, falsche Abrechnungen an die Versicherten zu bringen, ohne dass diese Argwohn hegen.

Im vorliegenden Fall, hatte sich die Versicherungsnehmerin anwaltlich vertreten lassen, so dass es der Unfallversicherung nicht gelungen war, die Gelenkrechtsprechung des BGH einfach zu übersehen. Im Prozess versuchte die Unfallversicherung dann, über eine Erweiterung der Definition des Schultergelenks eine andere Bewertung des Falles zu erreichen. Wenn das Gericht der Argumentation der Versicherung gefolgt wäre und auch das Schulterblatt oder auch gleich den ganzen Schultergürtel bis hin zum Schlüsselbein als „Schultergelenk“ angesehen hätte, wäre es u.U. zu einer grundlegend neuen Bewertung dieser Frage gekommen. Diesen Weg hat das OLG Koblenz den Unfallversicherungen jetzt verbaut, so dass für die Versicherungsnehmer alles beim Alten bleibt; vorausgesetzt natürlich, dass die geschilderte Problematik überhaupt erkannt wird.

Aus gegebenem Anlass auch noch ein Wort zu den Unfallversicherungsbedingungen (AUB). Voraussetzung für die Anwendung der Gelenkrechtsprechung des BGH ist, dass in der Gliedertaxe der dem Vertrag zugrunde liegenden Unfallversicherungsbedingungen die Formulierung „Arm im Schultergelenk“ (bzw. „Fuß im Fußgelenk“ oder „Hand im Handgelenk“) zugrunde liegt. Dies ist in der Mehrzahl der aktuell auf dem Markt befindlichen Verträge noch der Fall, wenngleich sich die Unfallversicherungen, als Reaktion auf die o.g. Urteile, seit mehreren Jahren intensiv bemühen, neue Bedingungen in die Verträge zu bekommen, in denen nicht mehr die Formulierungen „Arm im Schultergelenk“, „Fuß im Fußgelenk“ bzw. „Hand im Handgelenk“ enthalten sind, sondern vielmehr nur noch „Arm“, „Fuß“ und „Hand“. Wenn diese neuen Bedingungen dem Vertrag zugrunde liegen, greift die Gelenkrechtsprechung des BGH nicht.

Wir weisen unser Mandanten immer wieder darauf hin, dass diese neuen Bedingungen keinesfalls durch bloßes Zuschicken durch den Versicherer per Post, sondern allein durch eine Vertragsänderung, welcher der Versicherungsnehmer ausdrücklich zustimmen muss, in den Vertrag einbezogen werden. Vielfach erleben wir, dass uns Mandanten schildern, dass Versicherungsagenten mit Angeboten zum Abschluss einer neuen Unfallversicherung aufwarten, welche angeblich die gleichen Konditionen aber eine höhere Versicherungssumme enthalten sollen. Derartige „Angebote“ zum Abschluss eines neuen Vertrages sollten genau geprüft werden, wenn die Vertragsänderung bereits geschehen ist

, kann es sich um eine Beratungspflichtverletzung handeln, für welche der Versicherer ggf. ebenfalls haftbar gemacht werden kann.<span style="mso-ansi-language:EN-US" lang="EN-US">  

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