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LG Dortmund: Europa Unfallversicherung muss Invalidität nach Bandscheibenvorfall auch bei altersüblicher Degeneration und ohne sog. Begleitverletzungen voll entschädigen. Aktengutachter Dr. Wolfgang Kahl widerlegt!

Landgericht Dortmund, Urteil vom 10.10.2012 – 2 O 127/11 (rechtskräftig)

Sachverhalt:

Am Abend des 06.03.2009 rutschte unser Mandant zuhause auf einer gewundenen Kellertreppe beim Hinabgehen aus und stürzte auf das Gesäß. Er verspürte Schmerzen und begab sich am nächsten Morgen in die Notaufnahme einer nahegelegenen Klinik. Dort wurde er zunächst stationär in der unfallchirurgischen Abteilung aufgenommen. Am 10.03.2009 erfolgte die Verlegung in die orthopädische Abteilung. Dort wurde der Mandant bis zum 17.03.2009 wegen einer Sacrumprellung und einem Bandscheibenvorfall L5/S1 mit Radikulopathie S1 links behandelt.

Am 25.05.2009 gab die Europa Versicherung AG ein Orthopädisch-unfallchirurgisches Fachgutachten in Auftrag, das am 18.06.2009 fertiggestellt wurde. Dabei wurden sämtliche ärztlichen Unterlagen des Krankenhausaufenthaltes vom 07.-17.03.2009 mit radiologischen Befunden bzw. Röntgenbildern aus der Klinik ausgewertet, der Mandant am 10.06.2009 noch einmal körperlich untersucht und persönlich befragt sowie am selben Tag eine konventionelle radiologische Bildgebung durchgeführt.

Die von der Europa Versicherung AG beauftragten Gutachter, zwei Fachärzte für Orthopädie und Unfallchirurgie, stellten einen unfallbedingten, frischen mediolateral bis lateral zungenförmig nach cranial reichenden Bandscheibenvorfall L5/S1 fest, der die Wurzel S1 und Wurzel L5 links tangierte.

Sie kamen zu dem Ergebnis, dass diese Verletzungen überwiegend durch den Unfall verursacht wurden.

Die Europa Versicherung AG akzeptierte das Ergebnis des von ihr selbst in Auftrag gegebenen Orthopädisch-unfallchirurgischen Fachgutachtens nicht und beauftragte am 06.07.2009 eine weitere Stellungnahme, die am 09.07.2009 von Dr. Wolfgang Kahl „nach Aktenlage“, erstellt wurde und zu dem Ergebnis kam, dass der Unfall nicht die überwiegende Ursache für die Gesundheitsbeschädigung war.

 

Herr Dr. Wolfgang Kahl ist angestellter Oberarzt und Facharzt für Neurochirurgie in der BGU - Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik Frankfurt am Main und ist uns bereits mehrfach als „Aktengutachter“ im Auftrag privater Unfallversicherungen untergekommen. Auch in vorliegendem Fall war es einmal mehr seine Aufgabe, die Ergebnisse der ursprünglich von den Unfallversicherungen beauftragten Gutachter kritisch zu hinterfragen, so dass sich die Unfallversicherung im Ergebnis nicht mehr an ihr eigenes, selbst in Auftrag gegebenes Gutachten binden lassen muss.

 

Herr Dr. Kahl hat die Erwartung der Versicherung voll erfüllt und kam zu dem Schluss, dass der Treppensturz unseres Mandanten nicht geeignet sei, den Bandscheibenprolaps überwiegend kausal zu verursachen. Vielmehr sei die Bandscheibe des Mandanten altersentsprechend degenerativ vorgeschädigt gewesen und diese Vorschädigung lange Zeit klinisch stumm verlaufen, so dass das Sturzereignis nur den „letzten“ Tropfen geliefert habe.

Alle vorgerichtlichen Versuche, die Europa Versicherung AG noch umzustimmen scheiterten unter Verweis auf die Stellungnahme von Dr. Kahl, so dass die Klage zum Landgericht Dortmund unausweichlich blieb.

Entscheidung des Landgerichts Dortmund

Das Landgericht Dortmund holte ein weiteres medizinisches Sachverständigengutachten ein, welches die Unfallbedingtheit des Bandscheibenvorfalls bestätigte. Die Europa Versicherung AG bot darauf hin Herrn Dr. Herwart Twehues von einem „Institut für medizinische Begutachtung“ auf, der für den Versicherer während des Prozesses zahlreiche gutachterliche Stellungnahmen nach Aktenlage schrieb und auch als medizinischer Beistand des Anwalts der Europa Versicherung AG zum Termin zur mündlichen Verhandlung erschien, wo er sich einen intensiven Schlagabtausch mit dem gerichtlichen Sachverständigen lieferte. Im Anschluss reichte die Europa Versicherung AG sogar kurz vor Urteilsverkündung sogar noch zwei Aktengutachten ein, ein medizinisches von Prof. Dr. med. Tobias Hüfner und ein biomechanisches von Prof. Dipl.-Ing. Dietmar Otte, um eine Verurteilung doch noch abzuwenden. Es nützte jedoch alles nichts. Das Landgericht Dortmund gab den gerichtlichen Sachverständigen folgend unserer Klage dem Grunde nach statt. Dies wirkte auch gegen die Cosmos Versicherung AG. Bei dieser unterhielt der Mandant ebenfalls eine private Unfallversicherung. Die Cosmos Direkt hatte sich vorgerichtlich an die Ermittlungen und Regulierung bzw. deren Verweigerung durch die Europa Versicherung „angehängt“, und wir hatten uns mit der Cosmos Direkt darauf geeinigt, dass diese auch den Ausgang des Klageverfahrens gegen sich gelten lassen würde.

In den Entscheidungsgründen des Landgerichts Dortmund heißt es unter anderem:

„Dem Kläger ist der Beweis gelungen, dass der erlittene Bandscheibenvorfall L5/S1 überwiegend auf den Treppensturz zurückzufuhren ist. Dies folgt aus den Feststellungen der Sachverständigen. Nach dem Gutachten war das Treppensturzereignis zu deutlich mehr als 50 % für die Entstehung des Bandscheibenvorfalles ursächlich. Der Treppensturz war ein Ereignis, dass in der Form, wie er geschildert wird, geeignet war die untere Etage der Len- denwirbelsäule und auch das Steißbein zu erreichen. Hierdurch wirkten deutliche Kräfte auf die Region ein. Hierdurch wird auch die Prellung des Steißbeines und die Entstehung des Bandscheibenvorfalles in der unteren Etage der Lendenwirbelsäule erklärt. Es traten nach dem Unfall Schmerzen im Kreuz mit einer Ausstrahlung in das linke Bein auf und es wurde zeitnah, nämlich am Morgen des Folgetages die Ambulanz aufgesucht. Auch der nachfolgende stationäre Aufenthalt und die durchgeführten Untersuchungen sowie Behandlungen stimmen mit der Annahme eins posttraumatischen Bandscheibenvorfalls überein. Ferner zeigte die Bildgebung, die der Sachverständige auswertete, an den Wirbelnebengelenken/Facetten und den Bandscheibenfächern der Lendenwirbelsäule keinen wesentlichen Verschleiß. Zwar könne eine altersübliche Degeneration vorausgesetzt werden, es seien aber keine Hinweise für eine vorhandene altersüberdurchschnittliche Degeneration gegeben.“ …

„Die Sachverständigen sind der Kammer aus jahrelanger Gutachtertätigkeit als überaus erfahrene und sorgfältig abwägende sowie gründlich untersuchende Sachverständige bekannt. An ihrer Qualifikation bestehen keinerlei Zweifel. Die Sachverständigen haben sich auch mit der Argumentation des Sachverständigen der Beklagten Dr. Kahl auseinandergesetzt. Nach der langjährigen klinischen Erfahrung der Sachverständigen kann ein Bandscheibenvorfall unfallbedingt auch ohne sonstige äußere Verletzungszeichen auftreten. Das Auftreten äußerer Verletzungszeichen sei für die Beurteilung eines Bandscheibenvorfalls als unfallbedingt weder ein notwendiges noch ein hinreichendes Kriterium. Die Beurteilung des Sachverständigen wird bestätigt durch das von der Beklagten eingeholte biomechanische Zusatzgutachten des Prof. Dipl.-Ing. Otte, wonach der Treppensturz aus biomechanischer Sicht als verletzungsursächlich für den eingetretenen Bandscheibenvorfall angesehen werden kann, sofern dieser auch medizinisch als unfallbedingt möglich gewertet wird.“

„Eine Mitwirkung unfallfremder Ursachen, insbesondere degenerativer Veränderungen die über das altersübliche Maß hinausgehen, liegt nicht vor.“

 

Anmerkung RA Gunther Kohn, Fachanwalt für Versicherungs- und Sozialrecht

Bandscheibenvorfälle, vor allem im Bereich L5/S1 kommen häufig vor und werden auch nach Unfällen oft festgestellt. In den Allgemeinen Versicherungsbedingungen der privaten Unfallversicherungen (AUB) werden sie wohl deshalb von den Versicherern ausgeschlossen. Es sei denn (Wiedereinschluss), der Unfall hat nicht nur zu seiner Entstehung beigetragen, sondern sie überwiegend (also zu mehr als 50 %) verursacht, was der Versicherte beweisen muss.

Nach Meinung vieler, insbesondere den Versicherungsträgern nahestehenden Medizinern, ist das allenfalls dann denkbar, wenn sogenannte Begleitverletzungen im Bereich des Bandscheibenvorfalls vorliegen, etwa in Form von Einblutungen, Knochenmarködemen o.ä..

Dies ist jedoch allzu oft schwer nachweisbar, sodass zumeist eine Ablehnung erfolgt.

Diese Lehrbuchmeinung der Versicherungsmediziner geht am gesunden Menschenverstand ebenso vorbei wie am Alltag behandelnder Ärzte. Das Landgericht Dortmund hatte hier keine quasi „hauptberuflichen“ Gutachter als Sachverständige benannt, sondern zwei erfahrene und einschlägig qualifizierte Klinikärzte, die nicht nur schon oft als gerichtliche Sachverständige tätig waren sondern auch langjährig als Orthopäden und Unfallchirurgen. Sie betonten in ihrer persönlichen Anhörung vor dem Landgericht ausdrücklich, dass erfahrungsgemäß ein Bandscheibenvorfall auch ohne äußere Verletzungszeichen unfallbedingt auftreten könne.

Entscheidend sei nicht, ob man im MRT noch eine Einblutung erkennen könne, sondern vielmehr eine Gesamtschau. Maßgeblich sei dabei die Beschwerdesymptomatik, der Hergang des Sturzes, das Aufsuchen der Ambulanz am nächsten Tag, die stationäre Einweisung und der stationäre Aufenthalt sowie alsbald erfolgte Bildgebung und damit auch das Verhalten der Folgebehandler. Zudem haben Sachverständige und Gericht, allgemeinen Grundsätzen in der Unfallversicherung folgend, dass degenerative Vorschäden nur zu Lasten des Versicherten zu berücksichtigen sind, wenn sie über das altersübliche Maß hinausgehen.

Weiterhin soll nicht unerwähnt bleiben, dass der Aktengutachter Dr. Wolfgang Kahl den Unterschied zwischen einer altersentsprechenden und eine krankhaften degenerativen Vorschädigung im Zusammenhang mit der Kausalitätsbewertung nicht kannte. Die Europa-Versicherung hat dieses Unwissen zu ihren Gunsten ausgenutzt und erst das Gericht hat die korrekte Rechtslage wiederhergestellt.

Auch wenn es weiter die Regel sein wird, dass Unfallversicherer geltend gemachte Ansprüche auf Entschädigung aufgrund eines Bandscheibenschadens unter Berufung auf ihre eigen versicherungsnahen Gutachter und „Institute“  zunächst erst einmal ablehnen, muss das nicht bedeuten, dass dem Versicherten das gleiche auch vor Gericht passiert, wie der vorgestellte Fall einmal mehr zeigt.

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