Newsdetail

Landgericht Berlin (./. Direkte Leben / Stuttgarter) : Einschätzung des Versicherungsgutachters Prof. Dr. Stevens widerspricht allgemein anerkannten psychiatrischen Erkenntnissen; BU-Versicherung zur Leistung verurteilt!

 

LG Berlin, Urteil vom 26.06.2015 – 23 O 87/14 (rechtskräftig)

1. Ist eine berufliche Tätigkeit durch Management-, Führungs- und Ausbildungsaufgaben geprägt, die ein erhöhtes Maß an Konzentrationsfähigkeit, Flexibilität, Kommunikations-, Planungs- und Durchhaltevermögen erfordern und sind diese Fähigkeiten nach medizinisch sachverständiger Feststellung nicht mehr durchführbar, erübrigt sich eine Detailaufklärung dieser beruflichen Tätigkeit des Versicherten im Prozess.

2. Neuropsychologische Zusatzuntersuchungen mit Beschwerdevalidierungstests sind ungeeignet und nicht durchzuführen, wenn es darum geht, Erkenntnisse über deutlich in der Vergangenheit liegende Zeitpunkte bzw. Zeiträume zu gewinnen.

3.  Neuropsychologische Zusatzuntersuchungen mit Beschwerdevalidierungstests können lediglich zusätzliche Plausibilitätsanhaltspunkte im Rahmen einer ohnehin umfassend durchzuführenden Plausibilitätsprüfung erbringen. Sind aber schon hinreichend aussagekräftige Daten aus der psychiatrischen Begutachtung vorhanden, aus denen sich keine Widersprüche ergeben, so ist die Durchführung von neuropsychologischen Zusatztestungen verzichtbar.

 

Sachverhalt

 

Unser Mandant war bei der DIREKTE LEBEN Versicherung AG gegen Berufsunfähigkeit versichert. Nach den vereinbarten Versicherungsbedingungen liegt Berufsunfähigkeit vor, wenn die versicherte Person infolge Krankheit, Körperverletzung oder Kräfteverfalls, die ärztlich nachzuweisen sind, mindestens 6 Monate ununterbrochen außer Stande war oder voraussichtlich mindestens 6 Monate ununterbrochen außerstande sein wird, in ihrem zuletzt ausgeübten Beruf, so wie er ohne gesundheitliche Beeinträchtigung ausgestaltet war, tätig zu sein. Unser Mandant war im Management eines großen Automobilherstellers tätig. Aufgrund eines schweren familiären Konflikts mit der Mutter seiner beiden Kinder erkrankte er an einer reaktiven Depression, an einem psychosomatischen Erschöpfungssyndrom und an einer somatoformen Funktionsstörung. Seit dem 20.05.2011 war unser Mandant arbeitsunfähig krankgeschrieben und stellte bei der DIREKTE LEBEN Versicherung AG einen Antrag auf Berufsunfähigkeitsleistungen (Rentenzahlung und Prämienbefreiung). Der Versicherer holte bei dem von Versicherern sehr häufig und gern beauftragten Psychiater Prof. Dr. med. Andreas Stevens (Medizinisches Begutachtungsinstitut Tübingen) ein psychiatrisches Gutachten zur Frage der Berufsunfähigkeit unseres Mandanten ein. Der Privatgutachter des Versicherers kam erwartungsgemäß zu dem Ergebnis, bei unserem Mandanten liege keine mindestens 50%ige Berufsunfähigkeit vor. Zur Begründung führte Herr Prof. Dr. Stevens unter anderem aus, unter Bezugnahme auf die diagnostischen Kriterien der Psychiatrie sei keine Diagnose zu stellen, krankhafte Befunde seien bei unserem Mandanten nicht zu erheben. Ein familiärer Konflikt mit Sorgerechtsstreit sei auch gar nicht geeignet, eine psychische Erkrankung hervorzurufen. Zudem habe eine testpsychologische Untersuchung ergeben, dass unser Mandant Beschwerden bewusst und willentlich übertrieben habe (sog. Aggravation)

Entscheidungsgründe

Das Landgericht Berlin hat der von uns gegen die Leistungsablehnung der DIREKTE LEBEN Versicherung AG erhobenen Klage vollumfänglich stattgegeben. Aufgrund der Feststellungen des gerichtlich beauftragten Sachverständigen Dr. med. Schilter (Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge) war das Landgericht Berlin davon überzeugt, dass unser Mandant ab dem 20.05.2011 durchgängig aufgrund einer mittelgradigen depressiven Episode zu mindestens 50% berufsunfähig ist.

Der gerichtliche Sachverständige Dr. Schilter (Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie) war zu diesem Ergebnis gekommen unter gründlicher Auswertung aller Vorbefunde, unter kritischer Auseinandersetzung mit allen zu den Akten gereichten ärztlichen Stellungnahmen und Gutachten, unter Berücksichtigung eigener Befunderhebungen in zwei mehrstündigen psychiatrischen Begutachtungsterminen sowie des Umstandes, dass unser Mandant seit Sommer 2011 in ambulanter Einzelpsychotherapie mit bis zu 2-3 Sitzungen wöchentlich steht und für rund ein halbes Jahr bis November 2012 das Antidepressivum Mirtazapin eingenommen hat. Dabei hat es das Landgericht als unerheblich angesehen, dass der gerichtliche Sachverständige Dr. Schilter den von unserem Mandanten geschilderten Einzeltätigkeiten seines bis Mai 2011 ausgeübten Berufs keine konkreten prozentualen Beeinträchtigungsgrade zugewiesen hat. Denn der gerichtliche Sachverständige hatte zur Überzeugung des Gerichts festgestellt, dass alle Tätigkeiten unseres Mandanten als Manager eines großen Automobilherstellers von hochkomplexen Management-, Führungs- und Ausbildungsaufgaben geprägt waren, die ein stark erhöhtes Maß an Konzentrationsfähigkeit, Flexibilität, Kommunikations-, Planungs- und Durchhaltefähigkeit erfordern, die unserem Mandanten aufgrund seiner depressiven Erkrankung aber in keiner Weise mehr möglich waren. Der gerichtliche Sachverständige Dr. Schilter hat ausdrücklich klargestellt, dass unser Mandant nur noch in der Lage gewesen ist, untergeordnete Tätigkeiten, die keinen erhöhten Konzentrationsaufwand erfordern, auszuführen und selbst dies nur noch für zwei bis drei Stunden täglich. Einer Detailaufklärung des Tätigkeitsbildes unseres Mandanten und des konkreten prozentualen Grades der Beeinträchtigungen der jeweiligen beruflichen Einzeltätigkeiten bedurfte es daher nicht.

Das Landgericht Berlin ist dem gerichtlichen Sachverständigen  auch dahingehend gefolgt, dass er – trotz wiederholter Forderung durch die Anwälte der DIREKTE LEBEN Versicherung AG – auf die Durchführung einer neuropsychologischen Zusatzuntersuchung mit Beschwerdevalidierungstests verzichtet hatte. Denn die Durchführung derartiger Testverfahren war nach den überzeugenden Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. Schilter aus zwei Gründen nicht veranlasst: Zum einen sind derartige Tests ohnehin ungeeignet, Erkenntnisse über deutlich in der Vergangenheit liegende Zeitpunkte bzw. Zeiträume zu gewinnen. Zum anderen handelt es sich bei ihnen lediglich um zusätzliche Plausibilitätsanhaltspunkte der im Rahmen einer psychiatrischen Begutachtung ohnehin umfassend durchzuführenden Plausibilitätsprüfung. Sind aber – wie vorliegend – hinreichende aussagekräftige Daten vorhanden, aus denen sich keine Widersprüche ergeben, so ist die Durchführung einer neuropsychologischen Zusatzuntersuchung verzichtbar.

Dem steht die im Hinblick auf die Berufsunfähigkeit unseres Mandanten abweichende Einschätzung des Privatgutachters der DIREKTE LEBEN Versicherung AG Herrn Prof. Dr. Stevens nicht entgegen, denn diese war mit allgemein geltenden Grundsätzen und Erkenntnissen der Psychiatrie in keiner Weise zu vereinbaren und damit fehlerhaft. Der gerichtliche Sachverständige Dr. Schilter und das Landgericht Berlin haben Herrn Prof. Dr. Stevens unter deutlicher Kritik an seinem Gutachten in die Schranken gewiesen. So hat der gerichtliche Sachverständige Dr. Schilter eindrucksvoll ausgeführt, das Grundproblem des Privatgutachtens des Herrn Prof. Dr. Stevens bestehe darin, dass er von der Annahme ausgegangen ist, dass ein Sorgerechtsstreit nicht geeignet sei, eine schwerwiegende psychische Beeinträchtigung hervorzurufen. Diese Annahme widerspricht nach Aussage des gerichtlichen Sachverständigen Dr. Schilter allgemein geltenden psychiatrischen Erkenntnissen, denn die Bedeutung belastender Lebensereignisse für die Entstehung einer Depression ist allgemein anerkannt. Wenn eine zu begutachtende Person – wie unser Mandant – die tendenziös-abweisende Vorprägung des Privatgutachters Prof. Dr. Stevens mitbekommt, ist es möglich, nachvollziehbar und nicht ungewöhnlich, wenn die zu begutachtende Person dann ggf. versucht, ihre Beschwerden besonders deutlich hervorzuheben. Mit einer Aggravation, also einer bewussten und willentlichen Beschwerdeübertreibung in der Motivation, sich dadurch einen unmittelbaren (materiellen) Vorteil zu verschaffen, hat das nichts zu tun.

Anmerkungen RA Zeitler

Das Urteil ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Zum einen, weil das Landgericht Berlin der Forderung der Anwälte des Versicherers nach genauer Aufklärung der zuletzt in gesunden Tagen ausgeübten beruflichen Tätigkeit unseres Mandanten nicht nachgekommen ist. Grundsätzlich ist die Forderung nach einer detaillierten Aufklärung der konkreten beruflichen Tätigkeit des Versicherten zuletzt in gesunden Tagen berechtigt, denn erst bei Kenntnis der konkreten beruflichen Teiltätigkeiten können normalerweise die genauen gesundheitlichen Anforderungen dieser Teiltätigkeiten ermittelt und sodann die konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen bei der Ausübung dieser Teiltätigkeiten und der genaue prozentuale Grad der Berufsunfähigkeit ermittelt werden. Hiervon ist jedoch dann eine Ausnahme zu machen – wenn wie im vorliegenden Fall bei einem Manager wie unserem Mandanten – alle beruflichen Tätigkeiten ein stark erhöhtes Maß an Konzentrationsfähigkeit, Flexibilität, Kommunikations-, Planungs- und Durchhaltefähigkeit erfordern, die nach den Feststellungen des medizinischen Sachverständigen krankheitsbedingt in keiner Weise mehr möglich sind. Ist der Versicherte wie unser Mandant jedweder Managertätigkeit schon ganz allgemein nicht mehr gewachsen, bedarf es keiner Klärung der genauen Verästelungen seines früheren Tätigkeitsfelds

Zum anderen ist das Urteil auch deshalb bemerkenswert, weil das Landgericht Berlin der Forderung der Anwälte des Versicherers auf Einholung einer testpsychologischen Zusatzbegutachtung mit Beschwerdevalidierungstests nicht nachgekommen ist.

Macht der Versicherte eine Berufsunfähigkeit aufgrund psychischer Erkrankungen geltend, fordern Versicherer nahezu reflexartig sowohl im Rahmen ihrer vorgerichtlichen Leistungsprüfung als auch später in einem Gerichtsprozess, dass sich der Versicherte nicht nur einer psychiatrischen Untersuchung durch einen Facharzt für Psychiatrie, sondern auch einer sog. testpsychologischen Untersuchung durch einen Psychologen stellt. Hintergrund dieser Forderung der Versicherer ist, dass testpsychologische Untersuchungen auch Testungen enthalten (sog. Beschwerdevalidierungstests), mit denen – nach Aussage der Versicherer und der für sie arbeitenden Gutachter – herausgefunden werden kann, ob der Versicherte seine Beschwerden wahrheitsgemäß darstellt oder aber ob er seine Beschwerden bewusst übertreibt (sog. Aggravation) oder gar vortäuscht (sog. Simulation). Das Anliegen der Versicherer, schwarze Schafe unter den Versicherten zu entlarven ist durchaus verständlich. Das Problem ist aber, dass die Durchführung testpsychologischer Untersuchungen und insbesondere Beschwerdevalidierungstests in der medizinischen Wissenschaft hoch umstritten ist. Entgegen der immer wieder gebetsmühlenartig von den Versicherern vorgetragenen Behauptung besteht kein Konsens zur Aussagekraft und zur Anwendbarkeit von testpsychologischen Untersuchungen, insbesondere von Beschwerdevalidierungstests. In keinem Fall ist ein unreflektierter und genereller Einsatz derartiger Tests zulässig. In folgenden Fällen sind testpsychologische Untersuchungen zur Erkenntnisgewinnung ungeeignet daher von vornherein nicht durchzuführen: 

  • es geht um die Beurteilung von Gesundheitszuständen in der Vergangenheit (regelmäßig in BU-Verfahren)
  • es liegen aufgrund von Vorbefunden und aufgrund der psychiatrischen Untersuchung hinreichend aussagekräftige Daten vor, aus denen sich keine Widersprüche ergeben
  • der Proband macht gar keine Beeinträchtigungen kognitiver Fähigkeiten (Gedächtnis, Lernen, Denkvermögen, Urteilsvermögen, Abstraktionsfähigkeit, logische Schluss-folgerungen ziehen, Erkennen von Zusammenhängen, Sprache, visuell räumliche Leistungen, Vorstellungsvermögen,  Aufmerksamkeit, Wahrnehmungs-organisation, Problemlösen, Kreativität, Planen, Orientierung) geltend
  • die auch von dem Psychiater erkannte Beschwerdeübertreibung des Probanden kann bereits im Rahmen der psychiatrischen Begutachtung als eindeutig krankheitsbedingt erkannt werden (z.B. als Folge einer Persönlichkeitsstörung)

Im außergerichtlichen Verfahren der Leistungsprüfung durch den Versicherer sollten Versicherte zunächst auch genau die Versicherungsbedingungen ihres Versicherungsvertrages prüfen, wenn der Versicherer von ihnen verlangt, sich auch einer testpsychologischen Untersuchung zu stellen. Die gängigen Versicherungsbedingungswerke der Berufsunfähigkeitsversicherer enthalten nur die Obliegenheit des Versicherten, sich im Rahmen der Leistungsprüfung von einem durch den Versicherer beauftragten Arzt untersuchen zu lassen, nicht jedoch von einem Psychologen. Dann muss sich der Versicherte einer testpsychologischen Untersuchung aber auch nicht stellen.

Hat sich der Versicherte einer vom Versicherer in Auftrag gegebenen testpsychologischen Untersuchung dennoch unterzogen und kommt diese zu dem Ergebnis, der Versicherte habe seine Beschwerden angeblich bewusst übertrieben (aggraviert) oder sogar vorgetäuscht (simuliert) ist genau zu prüfen, ob dieses Ergebnis richtig sein kann. Unsere Erfahrung ist, dass Mandanten immer wieder beteuern, dass sie ihre Beschwerden gegenüber den Privatgutachtern des Versicherers in keiner Weise bewusst verdeutlicht oder gar vorgetäuscht hätten. Hinterfragt man dann den Ablauf der jeweiligen Begutachtungstermine, wird durch Mandanten erstaunlich oft vorgebracht, der jeweilige Privatgutachter des Versicherers sei mit ihnen in sehr rüder Form, herablassend und bevormundend umgegangen, habe sie ständig unterbrochen und nicht ausreden lassen. Nicht selten bekommt man auch zu hören, der Gutachter habe Äußerungen getätigt wie „Und Sie wollen mir jetzt etwas von Berufsunfähigkeit erzählen?“; „Bei mir haben es Versicherte schwer“ oder „Jetzt stellen Sie sich mal nicht so an“.

Vor dem Hintergrund der Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen Dr. Schilter im vorliegend besprochenen Verfahren wird deutlich, dass ein abweisendes, erkennbar voreingenommenes und damit provozierendes Verhalten eines Privatgutachters des Versicherers bei dem Versicherten nahezu zwangsläufig Reaktionen in seinem Verhalten hervorrufen muss. Der Versicherte fühlt sich mit seinen gesundheitlichen Problemen und Beschwerden durch den vom Versicherer beauftragten Privatgutachter nicht ernst genommen und neigt deshalb zur Verdeutlichung von Symptomen in der Angst, andernfalls werde auf der Gegenseite nicht erkannt, dass eine Krankheit vorliegt. Mit einer Täuschung hat dieses Verhalten des Versicherten nichts zu tun, vielmehr ist es Ausdruck einer natürlichen Reaktion auf das abweisende, voreingenommene und provozierende Verhalten des Privatgutachters des Versicherers.

Der vorliegende Fall belegt anschaulich, dass es sich durchaus lohnen kann, Leistungsablehnungen von Versicherern anzugreifen, auch wenn sie auf vermeintlich eindeutige und erdrückende medizinische Gutachten von Ärzten gestützt werden, die mit akademischen Titeln hochdekoriert sind. Es ist immer wieder erstaunlich, wie wenig Substanz an diesen von Versicherern eingeholten Privatgutachten verbleiben kann, wenn die Gerichte einen wirklich unabhängigen und objektiven Arzt beauftragen, der sich der Sache annimmt und die vorgerichtlich vom Versicherer eingeholten Gutachten überprüft.

Kontaktieren Sie uns und nehmen Sie unser  Angebot einer kostenlosen Ersteinschätzung  wahr!

 

 

 

 

 


Seite drucken