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BGH: In der Gliedertaxe enthaltene Wendung " ... Funktionsunfähigkeit Hand im Handgelenk" ist unklar

BGH, Urteil vom 9.7.2003 (IV ZR 74/02)

Der Kl. verlangte von der Bekl., bei der er eine private Unfallversicherung unterhielt, eine höhere Invaliditätsentschädigung als bereits bezahlt. Die Parteien stritten um die richtige Bemessung des Invaliditätsgrades und hierbei insbesondere darum, wie der in den Versicherungsbedingungen enthaltene Begriff der "Funktionsunfähigkeit einer Hand im Handgelenk" auszulegen sei.

Der Kl. erlitt durch einen Unfall einen Trümmerbruch der Speiche des linken Arms mit Gelenkflächenbeteiligung und Schädigung der distalen Handwurzelknochen. Wegen fortdauernder Schmerzen musste eine künstliche Versteifung des Handgelenks vorgenommen werden. Einzelne Funktionen der Hand wie Tasten, Fühlen, Bewegen und die Beweglichkeit der Finger blieben erhalten, sodass die Hand für den Kl. nicht vollständig nutzlos, sondern weiterhin teilweise gebrauchsfähig ist.
In der so genannten Gliedertaxe der dem Versicherungsvertrag zugrunde liegenden AUB (§ 7 I Nr. 2 a und b AUB 88) heißt es hierzu u. a.:
 (2) Die Höhe der Leistung richtet sich nach dem Grad der In- validität.
 a) Als feste Invaliditätsgrade gelten - unter Ausschluss des Nachweises einer höheren oder geringeren Invalidität - bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit

 eines Arms im Schultergelenk 70 Prozent 
 eines Arms bis oberhalb des Ellbogengelenks 65 Prozent 
 eines Arms unterhalb des Ellbogengelenks 60 Prozent 
 einer Hand im Handgelenk 55 Prozent 
 eines Daumens 20 Prozent 
 eines Zeigefingers 10 Prozent 
 eines anderen Fingers 5 Prozent 
 ...  
 eines Fußes im Fußgelenk 40 Prozent 
 b) Bei Teilverlust oder Funktionsbeeinträchtigung eines dieser Körperteile oder Sinnesorgane wird der entsprechende Teil des Prozentsatzes nach a angenommen.
Der Kl. meinte, der Grad seiner Invalidität sei nach der Funktionsbeeinträchtigung seiner Hand und des Handgelenks zu bemessen, die mindestens 80 % betrage, sodass sein Invaliditätsgrad mit (80 % von 55 % =) 44 % anzusetzen sei. Auf dieser Basis stand ihm unstreitig eine Entschädigung von 216 480 DM zu, von der nach Abzug des von der Bekl. bereits geleisteten Betrags noch die mit der Klage geltend gemachten 126 720 DM offen standen. Die Bekl. vertrat demgegenüber den Standpunkt, dass es auf die Funktionsbeeinträchtigung des ganzen Arms ankomme, die 2/5 betrage. Dementsprechend hatte die Bekl. auf der Basis eines Invaliditätsgrades von (2/5 von 70 % =) 28 % abgerechnet und gezahlt.
Das LG hat auf die Funktionsbeeinträchtigung des Arms abgestellt und die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Kl. hat das Berufungsgericht die Bekl. zur Zahlung der begehrten weiteren Entschädigung mit Ausnahme eines Teils der verlangten Zinsen verurteilt.
Die Revision der Bekl. hatte keinen Erfolg.

Aus den Gründen:

Die Revision ist nicht begründet. Dem Kl. steht die verlangte weitere Invaliditätsentschädigung zu.

Das Berufungsgericht hat zunächst ausgeführt, dass es nicht auf die Funktionsbeeinträchtigung des Arms ankomme. Wegen des abstrakten und generellen Maßstabs der Gliedertaxe, die feste Invaliditätsgrade für die in ihr benannten Glieder bestimme, dürfe bei vollständiger Funktionsunfähigkeit des Teilgliedes Hand im Handgelenk der Invaliditätsgrad nicht unter Rückgriff auf die Auswirkungen auf das Restglied geringer angesetzt werden. Des Weiteren hat das Berufungsgericht wegen des seiner Ansicht nach eindeutigen Wortlauts des Begriffs "Funktionsunfähigkeit der Hand im Handgelenk" angenommen, dass es auf die Funktionsunfähigkeit der Hand gerade im Handgelenk und nicht auf die Funktionsunfähigkeit des Teilgliedes Hand ankomme. Bei einer kompletten Versteifung des Handgelenks, wie sie beim Kl. vorliege, sei es deshalb unerheblich, ob das Teilglied Hand noch vorhanden und funktionsfähig sei.

II.

Diese Ausführungen halten der revisionsrechtlichen Nachprüfung im Ergebnis stand.
1. Zu Recht und mit zutreffender Begründung hat das Berufungsgericht die Ausstrahlungen der Funktionsbeeinträchtigung der Hand im Handgelenk auf den ganzen Arm für unbeachtlich erklärt und deshalb nicht den Armwert angewandt (vgl. Senat vom 30. 5. 1990 - IV ZR 143/89 - VersR 1990, 964 unter 2 a; vom 17. 10. 1990 - IV ZR 178/89 - VersR 1991, 57 unter 3 b; vom 23. 1. 1991 - IV ZR 60/91 - VersR 1991, 413; vom 17. 1. 2001 - IV ZR 32/00 - VersR 2001, 360 unter 2 a).
2. Im Ergebnis ebenfalls zu Recht hat das Berufungsgericht entschieden, dass "Funktionsunfähigkeit einer Hand im Handgelenk" vorliegt, wenn nur das Handgelenk funktionsunfähig ist. Dies ergibt sich aus der Unklarheitenregel der §§ 5 AGBG, 305 c Abs. 2 BGB, wonach Zweifel bei der Auslegung von AGB zulasten des Verwenders gehen.
a) Versicherungsbedingungen sind AGB und unterliegen daher dem AGBG bzw. den §§ 305 ff. BGB mitsamt der Unklarheitenregel.
b) Die Unklarheitenregel würde nicht eingreifen, wenn, wie das Berufungsgericht meint, die Klausel eindeutig und damit gar nicht auslegungsbedürftig wäre (vgl. Palandt/Heinrichs, BGB 62. Aufl. § 305 c Rdn. 18; BGH vom 20. 10. 1992 - X ZR 74/91 - NJW 1993, 657 unter II 2). Die in der Gliedertaxe gebrauchte Wendung "als feste Invaliditätsgrade gelten - bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit einer ... Hand im Handgelenk 55 %" ist indessen nicht eindeutig. Der Wortlaut weist zwar einerseits auf einen im Handgelenk lokalisierten Verlust, eine dort lokalisierte Funktionsunfähigkeit hin, er lässt aber wegen der Gleichstellung von Verlust und Funktionsunfähigkeit dennoch Zweifel zu, ob es für die Funktionsunfähigkeit nicht auch auf die Hand bis zum Handgelenk ankommen soll.
c) Die demnach erforderliche Auslegung vermag diese Zweifel nicht zu beheben. Es sind vielmehr die Voraussetzungen der Unklarheitenregel gegeben: Die Auslegung führt zu dem Ergebnis, dass die Klausel nach dem Wortlaut unter Berücksichtigung ihres nach verständiger Würdigung zu ermittelnden Sinns und Zwecks objektiv mehrdeutig ist. Die Mehrdeutigkeit kann auch nicht beseitigt werden, und es bleiben nach Ausschöpfung der in Betracht kommenden Auslegungsmethoden mindestens zwei unterschiedliche Auslegungen vertretbar (BGHZ 112, 65 [68 f.]).
 (1) Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie sie ein durchschnittlicher VN bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines VN ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse an (BGHZ 123, 83 [85]). Es ist nicht maßgeblich, was sich der Verwender der Bedingungen bei ihrer Abfassung vorgestellt hat. Die Entstehungsgeschichte der Bedingungen, die der VN typischerweise nicht kennt, hat bei der Auslegung außer Betracht zu bleiben (BGH vom 17. 5. 2000 - IV ZR 113/99 - VersR 2000, 1090 unter 2 a).
 (2) Die vom Berufungsgericht erwogene Auslegung ist möglich. Die Wortwahl "Hand im Handgelenk" kann den VN, der die Bedeutung der Formulierung "im Gelenk" zu erschließen sucht, zu einem Verständnis führen, dass auf die Funktionsunfähigkeit des Gelenks selbst und nicht auf die Funktionsunfähigkeit des Teilgliedes Hand abzustellen ist. In diesem Verständnis kann sich der VN insbesondere dadurch bestätigt sehen, dass die Gliedertaxe Teilbereiche eines Gliedes - so des Arms - auch mit Wendungen beschreibt wie "eines Arms bis" (oberhalb des Ellbogengelenks - unterhalb des Ellbogengelenks); Entsprechendes gilt für Teilbereiche des Beins. Wenn einerseits mit der Wendung "bis" ausdrücklich Gliedabschnitte beschrieben werden, deutet im Gegensatz dazu die Wendung "im" auf eine Lokalisierung der Funktionsunfähigkeit gerade im Gelenk selbst hin. Liegt also vollständige Funktionsunfähigkeit des Handgelenks durch dessen Versteifung vor, kann der VN die Gliedertaxe dahin verstehen, dass allein deshalb ein Invaliditätsgrad von 55 % zugrunde zu legen ist. Selbst wenn trotz der Funktionsunfähigkeit des Handgelenks die Hand selbst noch teilweise funktionsfähig gelieben sein sollte, muss das den VN nicht notwedig zu einer anderen Einschätzung führen. Denn er darf auch berücksichtigen, dass es in § 7 I Nr. 2 a AUB 88 einleitend heißt: "Als feste Invaliditätsgrade gelten - unter Ausschluss des Nachweises einer höheren oder geringeren Invalidität ...".
Zwar erkennt der VN auch, dass der Verlust einer Hand im Handgelenk der Funktionsunfähigkeit im Gelenk bei verbleibender Teilfunktionsfähigkeit der Hand in seinen Auswirkungen nicht gleichstehen muss, gleichwohl aber der gleiche Invaliditätsgrad - also eine gleich hohe Entschädigung - in Betracht kommt. Der VN kann das auf die mit der Gliedertaxe vorgenommene pauschalisierende Bewertung des Invaliditätsgrades zurückführen, deren versicherungswirtschaftliche oder medizinische Rechtfertigung sich ihm ohnehin nicht erschließt. Das gilt auch und gerade mit Blick auf die Gleichstellung von Verlust und Funktionsunfähigkeit von Gliedern oder Gliedteilbereichen.
 (3) Auf der anderen Seite ist aber auch eine Auslegung dahin möglich, dass "Funktionsunfähigkeit einer Hand im Handgelenk" ihrerseits die Funktionsunfähigkeit der restlichen Hand voraussetzt (vgl. Knappmann VersR 2003, 430 [431]).
Das kann dem VN der Aufbau der Gliedertaxe nahe legen. Die Gliedertaxe sieht Abstufungen des Invaliditätsgrades - etwa des Arms - vor, nachdem der Invaliditätsgrad mit der Rumpfnähe der in der Gliedertaxe festgelegten Teilbereiche ansteigt. Diese Abstufung trägt - dem VN erkennbar - den zunehmenden Auswirkungen des jeweiligen Teilgliedverlustes oder der Teilgliedfunktionsunfähigkeit auf die generelle Arbeitsfähigkeit des Menschen Rechnung. Liefert aber die Rumpfnähe des Teilgliedes den Bewertungsmaßstab, lässt sich die Wendung "Hand im Handgelenk" auch dahin verstehen, dass mit ihr- wie mit der Abgrenzung "bis zum" - nur die Grenze eines Gliedteilbereichs beschrieben wird, es also bei der Funktionsunfähigkeit auf die Hand insgesamt ankommt. Für ein solches Verständnis kann auch die Gleichbewertung von Verlust und Funktionsunfähigkeit einer Hand im Handgelenk sprechen. Sie lässt jedenfalls den Schluss zu, dass der Versicherer hier Sachverhalte gleichbehandeln wollte, die sich aus seiner Sicht hinsichtlich des versicherten Risikos gleichen.
 (4) Beide Auslegungen sind vertretbar. Die sich aus der mehrdeutigen Formulierung "Hand im Handgelenk" ergebenden Zweifel lassen sich aus der Sicht des um Verständnis bemühten VN nicht überwinden. Diese Auslegungszweifel gehen gem. §§ 5 AGBG, 305 c Abs. 2 BGB zulasten des Verwenders; es ist deshalb von der für den VN günstigeren Auslegung auszugehen.
Soweit sich aus dem (nicht begründeten) Nichtannahmebeschluss des Senats vom 2. 10. 2002 (IV ZR 222/01) etwas anderes ergibt, hält der Senat daran nicht fest.
 (5) Im vorliegenden Fall ist demgemäß bei der Bemessung der Invalidität des Kl. allein darauf abzustellen, dass sein Handgelenk funktionsunfähig ist. Die Entscheidung des Berufungsgerichts erweist sich danach als im Ergebnis zutreffend.


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