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SG Speyer: Nach Ablauf der Dreiwochenfrist des § 13 Abs 3a S 6 SGB 5 gilt die Genehmigung der begehrten Bruststraffungs-OP (Mastopexie) - als fingiert.

Krankenversicherung - Kostenerstattungsanspruch bezüglich bruststraffender Operation (Mastopexie) - Genehmigungsfiktion - abgelaufene Dreiwochenfrist - nachträgliche Leistungsablehnung ohne Rücknahme- oder Aufhebungsverfügung

Sozialgericht Speyer, Urteil vom 13. März 2024 – S 19 KR 450/22 –

Nach Ablauf der Dreiwochenfrist des § 13 Abs 3a S 6 SGB 5 gilt die Genehmigung der begehrten Bruststraffungs-OP (Mastopexie) - als fingiert.

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Gewährung einer bruststraffenden Operation (Mastopexie) unter stationären Bedingungen.

Die 1982 geborene Klägerin ist bei der Beklagten gesetzlich krankenversichert. Die Beklagte hatte der Klägerin aufgrund einer bestehenden Adipositas permagna im August 2020 eine Schlauchmagenoperation gewährt. In der Folgezeit verlor die Klägerin 60 kg an Gewicht.

Mit einem bei der Beklagten am 08.11.2021 eingegangenen Schreiben vom 05.11.2021 beantragte die Klägerin die Kostenübernahme für die operative Entfernung der aufgrund des großen Gewichtsverlustes entstandenen störenden Hautüberschüsse. In dem Schreiben nannte die Klägerin neben verschiedenen problematischen Körperregionen auch ihre „sehr geschrumpfte Oberweite“. Dem Antrag beigefügt war ein Schreiben des S Krankenhauses S vom 27.07.2021 (Chefarzt Y), in dem u.a. die Diagnose Mastoptose Grad II beidseits gestellt wurde. Als Therapieempfehlung war neben verschiedenen Resektions- und Straffungseingriffen eine Mastopexie und Augmentation beidseits aufgeführt. Es wurde um Prüfung der Kostenübernahme zur Resektion der Fettschürze mit Abdominoplastik sowie für Liposuktionsbehandlungen gebeten. Bzgl. einer ästhetischen Mastopexie und ggf. Augmentation werde ein möglicher Eingriff im weiteren Verlauf nach vollständiger Abheilung im Bereich des Abdomens und der Oberschenkel empfohlen.

Die Beklagte befasste am 15.11.2021 den Medizinischen Dienst (MD) R der Prüfung der Fettschürzenresektion mit Abdominoplastik und teilte dies der Klägerin am selben Tag mit. Es wurde eine Rückmeldung bis spätestens zum 13.12.2021 angekündigt. Mit Schreiben vom 03.12.2021 teilte die Beklagte mit, dass aufgrund der Auswirkungen der Corona-Pandemie eine Bearbeitung nicht innerhalb der angekündigten Frist erfolgen könne, eine Nachricht aber spätesten bis zum 05.01.2022 erfolgen werde.

Nachdem am 06.12.2021 ein sozialmedizinisches Gutachten des MD erstellt worden war, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 09.12.2021 die Kostenübernahme einer Resektion der Fettschürze mit Abdominoplastik ab. Gegen diese Ablehnung legte die Klägerin mit Schreiben vom 17.12.2021 (bei der Beklagten eingegangen am 22.12.2021) Widerspruch ein, den sie mit Schreiben vom 08.01.2022 (bei der Beklagten eingegangen am 13.01.2022) weiter begründete. Sie legte ein Gutachten des R vom 11.11.2021 bei, in dem neben einer Bauchdeckenplastik auch eine Bruststraffung als medizinisch indiziert beschrieben wird. Es werde die Kostenübernahme beantragt.

Die Beklagte befasste aufgrund des Widerspruchs erneut dem MD mit der Beurteilung des Sachverhaltes, der am 02.03.2022 ein weiteres sozialmedizinisches Gutachten erstellte. Die Ärztin im MD P führte in diesem Gutachten aus, weder im Bereich des Abdomens noch im Bereich der Brust könne ein krankheitswertiger Befund oder eine Entstellung nachvollzogen werden. Weder eine Abdominoplastik noch eine Mastopexie seien aus sozialmedizinischer Sicht indiziert.

Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens betreffend die Abdominoplastik nahm die Beklagte mit Schreiben vom 10.03.2022 auch Bezug auf den Antrag auf Kostenübernahme einer Bruststraffung. Unter Berufung auf das Gutachten dem MD führte die Beklagte aus, es verbleibe bei der Entscheidung vom 09.12.2021. Auch für die beantragte stationäre beidseitige Brustraffung könnten keine Kosten übernommen werden. Die Unterlagen würden an die Rechtsabteilung abgegeben werden.

Mit Bescheid vom 01.04.2022 lehnte die Beklagte die beidseitige stationäre Mastopexie ab. Die mittlerweile anwaltlich vertretene Klägerin legte hiergegen am 25.04.2022 Widerspruch ein.

Die Beklagte befasste am 20.07.2022 den MD mit der Begutachtung der beidseitigen stationären Mastopexie. Dieser bat um Übermittlung fachärztlicher Befunde sowie einer aktuellen Farbbilddokumentation. Am 19.08.2022 erstellte die Ärztin im MD K ein sozialmedizinisches Gutachten, in dem sie zum dem Ergebnis gelangte, es bestehe im Bereich der Brüste der Klägerin weder eine Erkrankung noch eine Entstellung.

Mit Widerspruchsbescheid vom 10.11.2022 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 01.04.2022 zurück.

Am 01.12.2022 hat die Klägerin zunächst eine Klage erhoben, mit der sie die Feststellung begehrte, dass ihr Antrag auf Gewährung einer Mastopexie als Sachleistung vom 13.01.2022 (Eingang bei der Beklagten) gemäß § 13 Abs. 3a Satz 6 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches (SGB V) als genehmigt gilt. Als Begründung für diese Klage gab sie an, sie sei zur Selbstbeschaffung der Leistung

i.S.d. § 13 Absatz 3a Satz 7 SGB V berechtigt. Bevor sie jedoch tatsächlich mit der Selbstbeschaffung der Leistung beginne (und für die streitgegenständliche stationäre Behandlung ganz erhebliche finanzielle Mittel aufwende), bedürfe es einer gerichtlichen Feststellung des Eintritts der Genehmigungsfiktion und der damit verbundenen Berechtigung zur Selbstbeschaffung der Leistung.

Am 06.12.2022 hat die Klägerin eine weitere Klage erhoben, die unter dem Aktenzeichen S 19 KR 456/22 erfasst wurde. Mit dieser Klage wandte sie sich gegen den Bescheid der Beklagten vom 01.04.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2022 und begehrte die Gewährung einer beidseitigen Mastopexie unter stationären Bedingungen als Sachleistung.

Das Gericht hat beide Verfahren zur Verhandlung und Entscheidung verbunden. Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten vom 01.04.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2022 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin eine Mastopexie beidseits unter stationären Bedingungen als Sachleistung zu gewähren,

- hilfsweise

festzustellen, dass der Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Mastopexie als Sachleistung vom 13.01.2022 (Eingang bei der Beklagten) gemäß § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V als genehmigt gilt.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie macht geltend, auch wenn es naheliege, dass im vorliegenden Fall die Genehmigungsfiktion eingetreten sein könne, sei aus Sicht der Beklagten eine Feststellungsklage unzulässig, da kein berechtigtes Feststellungsinteresse erkennbar sei. Es sei zwar grundsätzlich nachvollziehbar, dass die Klägerin das Kostenrisiko bei einem nicht unerheblichen Betrag so klein wie möglich halten wolle, die Feststellungsklage sei aber nur subsidiär möglich, wenn der Anspruch nicht anderweitig geklärt werden könne. Hier stehe sowohl eine Leistungsklage zur Verfügung als auch die Klärung eines möglichen Anspruchs auf Kostenerstattung. Bei Eilbedürftigkeit sei auch die Möglichkeit des § 86b des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) in Betracht zu ziehen. Auch im Hinblick auf die Änderung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes sei eine Feststellungsklage im vorliegenden Fall unzulässig. Denn auch bei Feststellung des Vorliegens der Genehmigungsfiktion habe die Klägerin für die weitere Entscheidung keine Rechtssicherheit bezüglich der Durchsetzung des Anspruchs. Es komme zum Beispiel darauf an, ob zu dem Zeitpunkt, in dem die Leistung in Anspruch genommen worden sei, Gutgläubigkeit bestanden habe.

Hinsichtlich der mit Bescheid vom 09.12.2021 abgelehnten Abdominoplastik erließ die Beklagte am 08.06.2022 einen Widerspruchsbescheid. In dem sich anschließenden Klageverfahren (S 7 KR 233/22) hat die Beklagte den Anspruch auf Abdominalplastik nach einem weiteren Gutachten des MD letztlich anerkannt.

Zur Ergänzung des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsakte der Beklagten Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

Die Klage ist als Leistungsklage gemäß § 54 Abs. 5 SGG, im Wege der nach § 56 SGG zulässigen objektiven Klagehäufung verbunden mit Anfechtungsklagen nach

§ 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGG, statthaft. Sie ist auf die Versorgung der Klägerin mit einer bruststraffenden Operation im Wege der Sachleistung gerichtet.

Die Klägerin kann nach Auffassung der Kammer das Ziel der Verurteilung der Beklagten zur Gewährung der beantragen Maßnahme weiterhin zulässigerweise im Wege der allgemeinen Leistungsklage nach § 54 Abs. 5 SGG verfolgen, da, soweit das Begehren auf den Eintritt einer Genehmigungsfiktion nach § 13 Abs. 3a Satz 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) gestützt werden kann, ein (weiterer) Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte (so bereits SG Speyer, Urteil vom 09.07.2015 – S 17 KR 327/14 –, Rn. 34 ff.; SG Speyer, Gerichtsbescheid vom 08.04.2016 – S 19 KR 479/14 –, Rn. 24; SG Speyer, Urteil vom 28.04.2016 – S 13 KR 1184/13 –, Rn. 18; SG Speyer, Urteil vom 24.10.2016 – S 16 R 1005/14; dies sogar [noch] bejahend BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R -, Rn. 8 unter der – im Hinblick auf die dem BSG fehlende Rechtssetzungskompetenz - abwegigen Annahme, die Änderung der eigenen Rechtsprechung könne die Zulässigkeit von bislang [noch] zulässigen Klagen zukünftig entfallen lassen; alle Entscheidungen im Folgenden zitiert nach juris). Der Berufung auf die eingetretene Genehmigungsfiktion entspricht in prozessualer Hinsicht auch weiterhin das Begehren, das aus einem bereits ergangenen Bewilligungsbescheid geltend gemacht werden kann, nämlich eine Verurteilung der Beklagten zur tatsächlichen Leistungserbringung.

Die Klägerin kann ihr Begehren gegen die Beklagte vorliegend verfolgen, ohne dass es einer Ausgangsentscheidung der Beklagten bedurft hätte. In Folge dessen bedarf es für die Statthaftigkeit der Leistungsklage an sich weder der Kombination mit einer Anfechtungsklage nach § 54 Abs. 1 Satz 1 SGG noch der Durchführung eines Vorverfahrens. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Beklagte den in Folge der Regelung des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V fingierten Verwaltungsakt vorliegend nicht mit einem actus contrarius aufgehoben hat. Der mit der hinzuverbundenen Klage angefochtene Bescheid vom 01.04.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2022 enthält insofern keine Aufhebungsverfügung.

Einer Feststellungsklage gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG bedarf es nach Auffassung der Kammer hingegen nicht, wenn - wie hier - nach dem Eintritt der Genehmigungsfiktion gemäß § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V die Gewährung der Sachleistung begehrt wird. Die Feststellungsklage ist zur Leistungsklage subsidiär. Ein Feststellungsinteresse wäre zwar denkbar, wenn ein Versicherter sich im Sinne des § 13 Abs. 3a Satz 7 SGB V die Leistung selbst beschaffen möchte, um dann die Kostenerstattung zu verlangen. In einem solchen Fall könnte ein Interesse an der Feststellung des „Ablaufs der Frist ohne Mitteilung eines hinreichenden Grundes“ bzw. der übrigen Voraussetzungen für den Kostenerstattungsanspruch, nicht aber auf Eintritt der Genehmigungsfiktion bestehen, denn eine Genehmigung ist nur Voraussetzung für die Sachleistung, nicht aber für die Kostenerstattung. (Nur) unter Hinzuziehung der vom BSG geschaffenen subjektiven Elemente (BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R, Rn. 22 Rn. 22) könnte man einer Feststellungsklage zusätzlich entgegenhalten, dass vor dem Zeitpunkt der Selbstbeschaffung die für maßgeblich gehaltene „Gutgläubigkeit“ nicht festgestellt werden könnte.

Neben der Leistungsklage ist auch die Anfechtungsklage gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 Alt. 1 SGG gegen den Bescheid vom 01.04.2022 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2022 zulässig. Die allgemeine Leistungsklage konnte zulässigerweise mit der Anfechtungsklage verbunden werden, denn die Klägerin hat ein Rechtsschutzinteresse daran, den der eingetretenen Genehmigung scheinbar entgegenstehenden ablehnenden Verwaltungsakt klarstellend zu beseitigen (so bereits SG Speyer, Urteil vom 09.12.2016 – S 19 KR 49/16 –, Rn. 27).

II.

Die Klage ist auch begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch gegen die Beklagte auf Versorgung mit der beantragten bruststraffenden Operation unter stationären Bedingungen auf Grund der eingetretenen Genehmigungsfiktion im Sinne des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V. Daher ist auch der nach Eintritt der Genehmigungsfiktion ergangene Ablehnungsbescheid rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten.

1. Rechtsgrundlage für den Anspruch der Klägerin ist die auf Grund der Regelung des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V eingetretene und wirksame Fiktion der Genehmigung der von der Klägerin begehrten Leistung, so dass die Klägerin die Beklagte auf Versorgung mit der beantragten Operation in Anspruch nehmen kann.

1.1 Nach § 13 Abs. 3a SGB V hat die Krankenkasse über einen Antrag auf Leistungen zügig, spätestens bis zum Ablauf von drei Wochen nach Antragseingang oder in Fällen, in denen eine gutachtliche Stellungnahme, insbesondere des MD eingeholt wird, innerhalb von fünf Wochen nach Antragseingang zu entscheiden (Satz 1). Wenn die Krankenkasse eine gutachtliche Stellungnahme für erforderlich hält, hat sie diese unverzüglich einzuholen und den Leistungsberechtigten hierüber zu unterrichten (Satz 2). Der MD nimmt innerhalb von drei Wochen gutachtlich Stellung (Satz 3). Kann die Krankenkasse die Frist nach Satz 1 nicht einhalten, teilt sie dies den Leistungsberechtigten unter Darlegung der Gründe rechtzeitig schriftlich oder elektronisch mit (Satz 5). Erfolgt keine Mitteilung eines hinreichenden Grundes, gilt die Leistung nach Ablauf der Frist als genehmigt (Satz 6). Beschaffen sich Leistungsberechtigte nach Ablauf der Frist eine erforderliche Leistung selbst, ist die Krankenkasse zur Erstattung der hierdurch entstandenen Kosten verpflichtet (Satz 7).

1.2 Die gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V sind vorliegend erfüllt. Nachdem die Klägerin bereits in ihrem ersten Antragsschreiben vom 05.11.2021 auch den Bereich der Brüste erwähnt hatte und in dem anliegenden ärztlichen Schreiben die Mastopexie bereits erwähnt war, hat sie spätestens im Rahmen des Widerspruchs gegen die (lediglich) die Fettschürzenresektion ablehnende Entscheidung mit dem vorgelegten Gutachten des R vom 11.11.2021 auch die Bruststraffung ausdrücklich beantragt. Das Schreiben der Klägerin vom 08.01.2022 ging bei der Beklagten am 13.01.2022 ein.

Die formelle Entscheidung über diesen Antrag erfolgte erst mit Bescheid vom 01.04.2022. Auch die im Widerspruchsanhörungsschreiben der Beklagten vom 10.03.2022 bereits enthaltene Mitteilung, für die beantragte stationäre beidseitige Brustraffung könnten keine Kosten übernommen werden, enthält zwar eine Ablehnung des streitgegenständlichen Antrages, ging der Klägerin jedoch ebenfalls nicht innerhalb der Fristen des § 13 Abs. 3a SGB V zu.

Eine Entscheidung erfolgte nicht innerhalb der Dreiwochenfrist des § 13 Abs. 3a Satz 1 SGB V. Eine Information der Klägerin über die Befassung des MD erfolgte – soweit erkennbar – nicht. Jedenfalls wäre auch die Fünfwochenfrist nicht eingehalten, da eine Entscheidung der Beklagten über die Mastopexie nicht vor dem 17.02.2022 erfolgte.

1.3 Rechtsfolge der Fristversäumnis ist nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V, dass die beantragte Leistung als genehmigt gilt (fingierter Verwaltungsakt). Dies hat zur Folge, dass die Beklagte die Sachleistung nunmehr auch zu gewähren hat. Auf Grund der (fiktiven) Genehmigung kann die Klägerin von der Beklagten die begehrte Operation daher beanspruchen.

Die Kammer vermag der (geänderten) Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) zu den Rechtsfolgen des Eintritts der Genehmigungsfiktion nicht zu folgen. Die beiden für das Krankenversicherungsrecht zuständigen Senate des BSG vertreten nunmehr unter Abkehr von ihrer bisherigen Rechtsprechung die Ansicht, die gesetzlich fingierte Genehmigung nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V vermittele keinen eigenständigen Anspruch auf Versorgung mit einer Naturalleistung (so aber zutreffend bereits in der ersten Entscheidung zur Genehmigungsfiktion BSG, Urteil vom 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R -, Rn. 25), sondern nur ein „Recht auf Selbstbeschaffung“ bei Ablauf der in § 13 Abs. 3a SGB V genannten Fristen mit Anspruch auf Erstattung der Beschaffungskosten bzw. Kostenfreistellung (BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R –, Rn. 9; dem folgend der 3. Senat des BSG, Urteile vom 18.06.2020 – B 3 KR 14/18 R –, Rn. 13; – B 3 KR 13/19 R –, Rn. 16 und – B 3 KR 6/19 R –, Rn. 14). Die Genehmigungsfiktion sei der „Rechtsgrund dafür“, nach erfolgter Selbstbeschaffung einer Leistung diese auch dann „behalten zu dürfen“, wenn hierauf nach allgemeinen Grundsätzen der GKV kein Rechtsanspruch bestünde (so BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R –, Rn. 19; als „sozialrechtlicher Sonderweg“ erkannt von Felix, Die Kehrtwende der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu § 13 Abs. 3a SGB V, SGb 2020, 517-523).

Das BSG meint nunmehr, die fingierte Genehmigung vermittele dem Versicherten lediglich eine (vorläufige) „Rechtsposition sui generis“, die es ihm – allerdings nur bei Gutgläubigkeit - erlaube, sich die Leistung selbst zu beschaffen (BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R –, Rn. 10). Die Krankenkasse könne sich nicht auf eine materielle Rechtswidrigkeit der beantragten und selbstbeschafften Leistung berufen, wenn sich der Versicherte die Leistung nach Eintritt der Genehmigungsfiktion beschafft habe, denn die Leistung gelte „als genehmigt“ (BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R –, Rn. 16). Die Krankenkasse könne einem Kostenerstattungsanspruch nur noch dann erfolgreich entgegentreten, wenn die Selbstbeschaffung in zumindest grob fahrlässiger Unkenntnis über den fehlenden Naturalleistungsanspruch erfolgt sei (BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R –, Rn. 16). Das Tatbestandsmerkmal der groben Fahrlässigkeit solle nur eine Kostenerstattung offensichtlich rechtswidriger Leistungen ausschließen. Je offensichtlicher die beantragte Leistung außerhalb des GKV-Leistungskatalogs liege, desto eher sei von einer zumindest grob fahrlässigen Unkenntnis (Bösgläubigkeit) des Versicherten im Zeitpunkt der Selbstbeschaffung auszugehen (BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R –, Rn. 24). Es komme auch nicht auf formale Ablehnungsentscheidungen an, sondern auf die Qualität der fachlichen Argumente und ihre Nachvollziehbarkeit durch den Versicherten. Deshalb folge selbst aus einer ablehnenden Entscheidung der Krankenkasse für sich genommen noch keine grobe Fahrlässigkeit; auch dann nicht, wenn diese auf einer Stellungnahme des MD beruhe. Hielten MD und Krankenkasse später an einer Ablehnung des Anspruchs im Vorverfahren fest, führe auch dies nicht zwingend zur grob fahrlässigen Unkenntnis des Versicherten. Ein Meinungsstreit über rechtliche und tatsächliche Umstände, insbesondere unterschiedliche gutachtliche Bewertungen, schließe Gutgläubigkeit grundsätzlich nicht aus. Dies gelte auch noch während eines Klage- und Rechtsmittelverfahrens (BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R –, Rn. 25).

Diese von den allgemeinen verwaltungsrechtlich anerkannten Grundsätzen abweichende (neue) Rechtsanwendung durch das BSG vermag schon aus kompetenzrechtlichen Gründen nicht zu überzeugen. Es ist nicht Aufgabe der Gerichte, durch den Gesetzgeber eingeräumte Rechtspositionen durch eine neuartige Rechtsanwendung außer Kraft zu setzen und durch neu geschaffene „Rechtspositionen sui generis“ zu ersetzen. Vielmehr kann nur die konsequente Anwendung auch rechtspolitisch für verfehlt gehaltener Regelungen zu einer möglicherweise notwendigen Korrektur durch den Gesetzgeber führen.

Die Neuschöpfung der (vorläufigen) „Rechtsposition sui generis“ ist zudem weder in den angenommenen Konsequenzen überzeugend (zur Kritik vgl. nur beispielhaft Schaumburg, Anmerkung zum Urteil des 1. Senats des BSG vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R – SGb 2021, 169; Felix, Die Kehrtwende der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu § 13 Abs. 3a SGB, SGb 2020, 517; Ulrich, Die leistungsrechtliche Genehmigungsfiktion - Cui bono?, SGb 2021, 280), noch ist es erforderlich, die Regelungen zur Genehmigungsfiktion zu ersetzen. Bei konsequenter Anwendung der gesetzlichen Normen ergibt sich ein in sich schlüssiges rechtliches System einer fingierten, aber nach den allgemeinen Regeln rücknehmbaren Verwaltungsentscheidung. Der Umstand, dass das BSG ursprünglich die Behauptung aufgestellt hatte, eine fingierte Genehmigung nach § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V könne nur aufgehoben werden, wenn ihre Voraussetzungen nicht vorgelegen hätten (sie also gar nicht eingetreten sein konnte), rechtfertigt nicht, eine erkennbar notwendig gewordene Verständigung der beiden zuständigen Senate oder die Anrufung des Großen Senates gemäß § 41 SGG dadurch zu umgehen, dass der zuvor offensichtlich fehlerhaft angewandten Norm nunmehr einfach gänzlich die Geltung entzogen wird. Es handelt sich nicht lediglich um einen „krassen Rechtsprechungswandel“ (so Felix, SGb 2020, 517, 520), sondern um einen rechtlichen Fehler, wenn das BSG nunmehr behauptet, die nach Fristablauf fingierte Genehmigung eines Antrags auf Leistungen habe nicht die Qualität eines Verwaltungsakts. Dass es sich nicht um einen tatsächlichen Verwaltungsakt handelt, bedarf keiner Erörterung. Es handelt sich jedoch um einen fiktiven Verwaltungsakt, der an die Stelle der eigentlichen behördlichen Entscheidung tritt. Damit entsteht durch die gesetzliche Fiktion ein kraft gesetzgeberischer Entscheidung bewirkter Verwaltungsakt (so auch Felix, SGb 2020, 517, 520; Ulrich, SGb 2021, 280, 281 f.) mit allen daraus folgenden Konsequenzen (vgl. etwa Stelkens in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 10. Aufl. 2023, § 42a Rn. 4). Bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V wird die Genehmigung der beantragten Leistung und damit eine positive Entscheidung der Behörde fingiert. Die Behörde muss sich nunmehr so behandeln lassen, als hätte sie den begünstigenden Verwaltungsakt erlassen.

Die Rechtsfigur der fingierten Genehmigung findet sich auch in anderen verwaltungsrechtlichen Zusammenhängen (vgl. beispielsweise § 6 Abs. 4 Satz 4 BauGB oder § 6a Abs. 1 GewO sowie speziell im Recht der gesetzlichen Krankenversicherung auch in § 32 Abs. 1a Satz 3, § 60 Abs. 1 Satz 5, § 91 Abs. 4 Satz 2 oder § 110 Abs. 2 Satz 4 SGB V). Eine allgemeine verwaltungsrechtliche Legaldefinition findet sich in § 42a VwVfG. Rechtsfolge der gesetzlich angeordneten Fiktion ist eine (fingierte) Genehmigung und damit ein (fingierter) Verwaltungsakt, an den wiederum die gleichen Rechtsfolgen geknüpft sind, wie an einen tatsächlich von der Behörde verfügten genehmigenden Verwaltungsakt. Sofern die (fingierte) Genehmigung rechtswidrig sein sollte, kann die Behörde sie unter den gleichen Voraussetzungen zurücknehmen oder aufheben, als hätte sie die Genehmigung tatsächlich erteilt. Die gesetzlichen Regelungen hierfür liegen mit den §§ 45 und 48 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) vor (so noch im Ansatz zutreffend BSG, Urteil vom 07.11.2017 – B 1 KR 26/16 R -, Rn. 35; BSG, Urteil vom 26.02.2019 – B 1 KR 20/18 R -, Rn. 29). Gegen entsprechende Entscheidungen können Versicherte die üblichen Rechtsmittel einlegen, die Behörde ihrerseits hätte die Möglichkeit, sofern hierfür die Voraussetzungen vorliegen, die sofortige Vollziehung der Rücknahme- oder Aufhebungsentscheidung anzuordnen (§ 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG).

Die rechtliche Folge von Genehmigungsfiktionen ist, dass nach Ablauf einer gesetzlich für die Entscheidung festgelegten Frist die – ansonsten durch Verwaltungsakt ergehende – Genehmigung als erteilt gilt. Der fingierte Verwaltungsakt beendet daher das Verwaltungsverfahren und ist nach Maßgabe der Korrekturvorschriften aufhebbar (Felix, SGb 2020, 517, 523; Ulrich, SGb 2021, 280, 282). Es gelten die Regelungen über die Nichtigkeit, die Rücknahme, den Widerruf, die Aufhebung oder die Erledigung von Verwaltungsakten entsprechend. Die gesetzliche Fiktion eines Verwaltungsaktes verliert auch nicht deshalb ihre Rechtswirkung, weil das BSG nunmehr behauptet, die fingierte Genehmigung habe nicht die „Qualität“ eines Verwaltungsaktes.

Bei der Argumentation des BSG „Würde die Genehmigungsfiktion dieses Verwaltungsverfahren beenden, hätte dies die vom Gesetz nicht gewollte Folge, dass der Naturalleistungsanspruch entfiele. Denn § 13 Abs 3a SGB V eröffnet nur einen Kostenerstattungsanspruch“ (so BSG, Urteil vom 26. Mai 2020 – B 1 KR 9/18 R –, Rn. 30) handelt es sich um einen offensichtlichen Zirkelschluss (hierzu auch Ulrich, SGb 2021,280, 284: durch die eigene Auslegung generiertes Pseudoproblem). Tatsächlich erlischt der Sachleistungsanspruch nicht schon durch eine verfahrensbeendende Entscheidung bzw. durch deren Fiktion, sondern erst durch seine Erfüllung. Im Falle der Selbstbeschaffung erledigt er sich (§ 39 Abs. 2 SGB X) und wird durch einen Kostenerstattungsanspruch ersetzt. Aus der das Verwaltungsverfahren beendenden Genehmigungsfiktion folgt vielmehr die Durchsetzbarkeit des Sachleistungsanspruchs, als hätte die Behörde tatsächlich eine Genehmigung verfügt.

Nicht gefolgt werden kann zudem der Hinzufügung von subjektiven Elementen als Tatbestandsvoraussetzung für den Eintritt der Genehmigungsfiktion durch das BSG. Diese Elemente sind im Rahmen des Vertrauensschutzes nach Maßgabe von § 45 Abs. 2 SGB X zu berücksichtigen. Nur bei § 18 Abs. 5 Nr. 2 SGB IX sind sie (ausnahmsweise) bereits auf der Tatbestandsseite der Genehmigungsfiktion zu berücksichtigen. Eine entsprechende Einschränkung fehlt im § 13 Abs. 3a SGB V.

Die vom „alten“ 1. Senat als weitere Anspruchsvoraussetzung schon früher hinzugefügten subjektiven Kriterien des vom Versicherten zu fordernden „für erforderlich Haltens“ und des „nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV Liegens“ (BSG, Urteil vom 08.03.2016 – B 1 KR 25/15 R, Rn. 26) hat der „neue“ 1. Senat nun um das Erfordernis der „Gutgläubigkeit“ erweitert (BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R, Rn. 22). Keines dieser subjektiven Elemente findet (im Gegensatz zur ausdrücklichen Regelung des § 18 Abs. 5 SGB IX) eine Stütze im Gesetz. Ohne dass es vorliegend darauf ankäme, vermag die Kammer nicht nachzuvollziehen, warum es auf den Wissens- und Kenntnishorizont oder gar die Rechtskenntnisse des jeweiligen Antragstellers ankommen sollte bei der Beurteilung der Frage, ob die Genehmigungsfiktion mit ihren Rechtsfolgen Anwendung findet. Auch insofern ist darauf hinzuweisen, dass es die Kompetenz der Gerichte übersteigt, gesetzlich nicht vorgesehene Anspruchsvoraussetzungen zu schaffen und bei deren Nichtvorliegen die geltenden Gesetze nicht anzuwenden. Zudem ist nicht absehbar, nach welchen Maßstäben im Einzelfall jeweils das Umschlagen des noch gutgläubigen Versicherten, der sich möglicherweise sogar – wie vorliegend die Klägerin – noch in einem Rechtsstreit um die begehrte Sachleistung mit der Krankenkasse befindet, in eine den vom BSG angenommenen Anspruch „auf Selbstbeschaffung“ ausschließende „Bösgläubigkeit“ zu beurteilen sein soll. Die Ausführung des BSG, das Entstehen von Bösgläubigkeit sei „nicht statisch, sondern dynamisch“, eine anfangs bestehende Gutgläubigkeit könne sich zur Bösgläubigkeit entwickeln (BSG, Urteil vom 26.05.2020 – B 1 KR 9/18 R, Rn. 26.), macht die Schwierigkeiten bei der Anwendung des selbstgeschaffenen Rechts „sui generis“ sichtbar.

Tatsächlich wird durch die Hinzufügung des subjektiven Elements bereits auf der Tatbestandsseite das eigentlich gesetzlich vorgesehene Verfahren der Aufhebung oder Rücknahme eines rechtswidrig begünstigenden Verwaltungsverfahrens umgangen. Bei konsequenter Anwendung der (sozial-)verwaltungsrechtlichen Normen (§§ 44 ff. SGB X) besteht ein geregeltes Verfahren mit allgemeingültigen Kriterien, unter denen die Beseitigung des (fiktiven) Verwaltungsaktes zu erfolgen hätte. Bei der Entscheidung über die Rücknahme der (fiktiven) Genehmigung besteht hinreichend Raum für die Prüfung der subjektiven Seite und dem hiermit verbundenen Vertrauensschutz im Rahmen der Anwendung des § 45 Abs. 2 Satz 3 SGB X.

1.4 Die Genehmigungsfiktion wurde von der Beigeladenen nicht vollziehbar zurückgenommen (§ 45 SGB X) oder aufgehoben (§ 48 SGB X). Sie hat sich auch nicht auf andere Weise (etwa durch Selbstbeschaffung) erledigt (§ 39 Abs. 2 SGB X). Der angefochtene Bescheid vom 01.04.2022 enthält lediglich eine Leistungsablehnung, die in Folge der zu diesem Zeitpunkt bereits eingetretenen Genehmigungsfiktion rechtswidrig war. Eine Rücknahme- oder Aufhebungsverfügung enthält er nicht.

Solange die Behörde aber die fingierte Genehmigung nicht zurücknimmt oder aufhebt, gilt die beantragte Leistung als genehmigt (§ 13 Abs. 3a Satz 6 SGB V). Dies ist auch vorliegend der Fall. Die Beklagte hat den Eintritt der Genehmigungsfiktion in der Sache nicht bestritten. Rechtsfolge ist der Anspruch der Klägerin, aufgrund der Genehmigung die Sachleistung auch tatsächlich zu erhalten.

1.5 Die Klägerin kann von der Beklagten daher aufgrund der eingetretenen Genehmigungsfiktion die Versorgung mit einer bruststraffenden Operation als Sachleistung beanspruchen. Insofern ist davon auszugehen, dass bei Erbringung der Sachleistung die zur operativen Versorgung und zur erforderlichen Nachsorge notwendigen Leistungen umfasst sind.

2. Der Ablehnungsbescheid vom 01.04.2022 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 10.11.2022 war auf Grund der entgegenstehenden fingierten Genehmigung rechtswidrig. Er war deshalb zur Klarstellung aufzuheben.

Rechtsanwalt Dr. Büchner, Fachanwalt für Medizin- und Versicherungsrecht

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