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OLG Frankfurt am Main: Private Unfallversicherung AIG Europe Limited muss aufgrund eines Gesamt-Handwertes i.H.v. 7/10 lebenslange Verletztenrente zahlen

Die Tabellen und Empfehlungen zur Invaliditätsbemessung der medizinischen Begutachtungsliteratur stellen immer nur Empfehlungen dar, von denen zu Gunsten des Versicherten abgewichen werden kann!

 1. Bei mehreren Einzel-Funktionsbeeinträchtigungen an einer (Teil-)Gliedmaße können diese im Rahmen der Gesamtbewertung auch addiert werden. So kann ein mit 4/10 Handwert zu bemessender hälftig eingeschränkter Faustschluss und eine zusätzlich bestehende, mit 3/10 Handwert zu bemessende Handgelenksversteifung mit einem Gesamt-Handwert von 7/10 zu bemessen sein.

2. Die in der Begutachtungsliteratur angegebenen Tabellenwerke zur Bewertung von Funktionsbeeinträchtigungen an den (Teil-)Gliedmaßen sind nur Empfehlungen und stellen kein starres Prinzip dar.

3. In dem Fall, dass die Funktionsbeeinträchtigung des rumpfferneren Körperteils zu einem höheren Invaliditätsgrad als die Funktionsbeeinträchtigung des rumpfnäheren Körperteils führt, stellt die Invaliditätsleistung für das rumpffernere Körperteil die Untergrenze der vom Unfallversicherer geschuldeten Versicherungsleistung dar.

Landgericht Frankfurt am Main, Urteil vom 23.04.2013 – Az.: 2-23 O 46/10

Oberlandesgericht Frankfurt am Main, richterlicher Hinweis vom 14.05.2014 – Az.: 7 U 122/13

Sachverhalt und Entscheidungsgründe

Unser Mandant erlitt bei einem 15 Meter tiefen Sturz eine Kompressionsfraktur des 2. Lendenwirbelkörpers mit Minderung der Vorderkantenhöhe um 2/5 sowie einen verschobenen, offenen handgelenksnahen Bruch der Speiche am linken Arm.

 

Infolge eines nachfolgenden komplexen regionalen Schmerzsyndroms (CRPS, auch als Morbus Sudeck bezeichnet) an der linken Hand musste das Handgelenk vollständig versteift werden und waren sämtliche Handfunktionen hochgradig eingeschränkt. So bestanden ein deutliches Beugedefizit an sämtlichen Langfingern, ein nahezu aufgehobener Zangen-, Spitz- und Schlüsselgriff, eine Kraftminderung der gesamten Hand und Sensibilitätsstörungen am Ring- und Kleinfinger. Der Faustschluss war nur noch zur Hälfte möglich. 

Unser Mandant wandte sich an seinen Unfallversicherer, der Württembergische und Badische Versicherungs-AG (WÜBA) mit der Bitte um ordnungsgemäße Regulierung. Nach dem Versicherungsvertrag waren eine lebenslange Unfallrente ab einem Invaliditätsgrad von mindestens 50% und eine verbesserte Gliedertaxe vereinbart. In Letztgenannter wurde zwar für den Verlust oder die vollständige Funktionsunfähigkeit eines Armes der übliche Gliedertaxwert von 70%, für den Verlust oder die vollständige Funktionsunfähigkeit einer Hand jedoch nicht der gewöhnliche Gliedertaxwert von 55%, sondern von 70% bestimmt.

Zur Feststellung des Invaliditätsgrades gab die WÜBA bei dem von Prof. Dr. med. A. Meißner geführten Medizinischen Gutachten-Institut – Privatrechtliche Einrichtung, Heilig-Geist-Krankenhaus Köln, ein Gutachten in Auftrag.

In diesem berechnete Prof. Dr. Meißner das versteifte Handgelenk und den nur noch hälftigen Faustschluss nach den Arm- und nicht nach dem Handwert und bezifferte diesen mit 9/20, entsprechend einem Invaliditätsgrad von 31,5% (70% Gliedertaxwert Arm x 9/10 Armwert).

Den Bruch des 2. Lendenwirbelkörpers mit verbliebener Vorderkantenhöhe von nur noch 3/5 bewertete Prof. Dr. Meißner mit einer Invalidität von 10% außerhalb der Gliedertaxe. Hierbei stellte er ausdrücklich fest, dass an dieser Invalidität weder eine Vorinvalidität noch eine vom Unfall unabhängige Mitwirkung von Vorschäden bei der Wirbelkörperfraktur oder deren Folgen einen Anteil haben.

Auf der Grundlage dieser Bewertungen regulierte die WÜBA die Unfallfolgen gegenüber unserem Mandanten nach einem Gesamtinvaliditätsgrad von nur 41,5% (31,5% + 10%) und lehnte die Zahlung einer Verletztenrente mit der Begründung, eine unfallbedingte Invalidität von mindestens 50% sei nicht erreicht, ab. An dieser Auffassung hielt der Unfallversicherer außergerichtlich fest und verwies unseren Mandanten auf den Klageweg.

Mit der im Januar 2010 erhobenen Klage auf Zahlung einer lebenslangen Verletztenrente und weitergehender Invaliditätsleistungen legten wir dar, dass nicht nach dem Arm- sondern nach dem Handwert abzurechnen sei, da sowohl die Primärverletzung als auch die Funktionsbeeinträchtigungen nicht am Arm, sondern an der Hand vorlagen. Zudem sei nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung der sich aus der körperferneren Funktionsbeeinträchtigung (hier an der Hand) ergebende Invaliditätsgrad als Mindestwert anzusetzen, wenn dieser höher als der sich aus der körpernäheren Funktionsbeeinträchtigung (hier - wie vom Versicherer behauptet – am Arm) ergebende Invaliditätsgrad sei.

Weiterhin machten wir deutlich, dass die Funktionsbeeinträchtigungen an der linken Hand mit jedenfalls 7/10 Handwert (= 49% Invalidität) zu bemessen seien, somit selbst bei Bewertung des Wirbelkörperbruches mit nur 10% die Gesamtinvalidität jedenfalls mindestens 50% betrage und unserem Mandanten folglich nicht nur ein Anspruch auf weitergehende Invaliditätsleistungen, sondern ebenfalls auf Zahlung eine Verletztenrente zustehe.

Die Chartis Europe S.A. – Direktion für Deutschland und nachfolgend die AIG Europe Limited, Direktion für Deutschland, welche zwischenzeitlich die WÜBA übernommen hatten, stritten im Klageverfahren jetzt nicht nur das Unfallgeschehen, sondern auch die Verursachung der LWK 2-Fraktur durch den Unfall, das Bestehen eines Morbus Sudeck-Schmerzsyndroms und die vollständige Versteifung des Handgelenks ab. Die Beeinträchtigungen an der Hand seien zudem nach dem Armwert abzurechnen. Weiterhin behauptete der Unfallversicherer hinsichtlich der Verletzung und der Funktionsstörungen an der LWS eine Vorinvalidität von 15%(!) und zusätzlich eine Mitwirkung von Krankheit oder Gebrechen von mindestens 50%(!). Schlussendlich wäre die Klage nach Ablauf der - vom Gesetzgeber zu diesem Zeitpunkt bereits aufgehobenen – Klageausschlussfrist von sechs Monaten erhoben worden, womit kein Klageanspruch mehr bestehen würde.

Der vom Landgericht Frankfurt am Main beauftragte Sachverständige stellte die – vom Versicherer außergerichtlich nie in Abrede gestellte und auch seiner Abrechnung zugrundegelegte - Verursachung der LWK 2-Fraktur durch den schweren Unfall, die – eigentlich ganz offensichtliche – vollständige Versteifung des linken Handgelenks nach einem – ebenfalls ganz offenbar bestehendem - Morbus Sudeck fest. Die von der AIG Europe Limited im Vollbeweis zu beweisende Vorinvalidität und Mitwirkung vermochte der Sachverständige dagegen nicht ansatzweise, geschweige denn in Höhe von 50% festzustellen.

Die Funktionsbeeinträchtigung der linken Hand bewertete der Sachverständige mit 7/10 Handwert, entsprechend einem Invaliditätsgrad von 49%, die durch die LWK 2-Fraktur eingetretene Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit mit 10%. Damit betrug die vom Sachverständigen festgestellte Gesamtinvalidität 59%.

In seinem Gutachten, seiner ergänzenden Stellungnahme und sodann auch im Rahmen seiner mündlichen Anhörung führte der Sachverständige aus, dass vom Handwert auszugehen sei, da die erlittenen Verletzungen und bestehenden Beeinträchtigungen der Hand zuzuordnen seien. Die Versteifung des Handgelenks resultiere aus einem Bruch desselben. Der Bruch habe konkret im Unterarmknochen, nämlich der Speiche, stattgefunden, dies allerdings an körperferner Stelle, nämlich kurz vor deren körperfernen Ende. Das Ende der Unterarmknochen stelle aber einen Teil des Handgelenks dar. Das Handgelenk wiederum sei der Hand zuzuordnen, was sich bereits aus der Terminologie ergebe.

Den nur hälftig möglichen Faustschluss bewertete der Sachverständige mit 4/7 Handwert, die komplette Versteifung des Handgelenks mit 3/10 Handwert. Im Rahmen der Gesamtbewertung addierte der Sachverständige diese beiden Werte.

Mit oben genanntem Urteil verurteilte das Landgerichts Frankfurt am Main darauf hin die AIG Europe Limited, Direktion für Deutschland zur Zahlung weitergehender Invaliditätsleistungen und einer lebenslangen Unfallrente. In seinen Urteilsgründen führt das Landgericht unter anderem aus:

„In der Gesamtbetrachtung stellt der Sachverständige eine Invalidität von 7/10 fest, wobei er die Invalidität von 4/10 Handwert - beruhend auf dem inkompletten Faustschluss - und die Invalidität von 3/10 - beruhend auf der Versteifung im Handgelenk - addierte. Er hat hierzu in seiner mündlichen Anhörung am 03.04.2013 ausgeführt, dass in der Literatur, beispielsweise dem Handbuch von Rompe, zwar eine andere Methode zur Berechnung einer Gesamtinvalidität an einem Körperteil beschrieben sei. Es sei danach so vorzugehen, dass bei Funktionsbeeinträchtigungen an einem Körperteil zunächst die gravierendste Beeinträchtigung mit dem höchsten Invaliditätsgrad als Grundlage heranzuziehen und dieser Wert sodann um die leichteren Funktionsbeeinträchtigungen zu erhöhen sei, und zwar derart, dass von dem für die leichteren Funktionsbeeinträchtigungen anzusetzenden Invaliditätsgrad jeweils die Hälfte addiert werde. Der Sachverständige hat in der mündlichen Anhörung überzeugend dargelegt, dass er diese in der Literatur beschriebene Vorgehensweise auch grundsätzlich für richtig halte. Eine schematische Berechnung verbiete sich jedoch. Stets sei eine Gesamtschau der Beeinträchtigungen im Einzelfall vorzunehmen. Im vorliegenden Fall habe er sich deshalb entgegen der Lehrmeinung für eine Addition der Invaliditätsgrade der beiden Beeinträchtigungen an der linken Hand des Klägers entschieden. Die Beeinträchtigung durch den nur noch teilweise möglichen Faustschluss sei die gravierendste mit 4/10 Handwert. Er habe sodann die Invalidität von 3/10 Handwert für die komplette Versteifung des Handgelenks insgesamt und nicht nur hälftig hinzugerechnet, weil die komplette Versteifung des Handgelenks ebenfalls eine erhebliche Funktionalitätsstörung der Hand darstelle, insbesondere deshalb weil sie sich schlecht kompensieren lasse. Eine Reduzierung des für die Versteifung des Handgelenks angenommenen Betrages habe er für nicht sachgerecht gehalten.“

Hinsichtlich der Frage, ob die Beeinträchtigungen am Handgelenk und der Hand nach dem für unseren Mandanten besseren Hand- oder nach dem Armwert zu bewerten seien, führt das Landgericht noch mal klarstellend wie folgt aus:

„Soweit es vorliegend zwischen den Parteien streitig ist, ob nach dem Armwert oder dem Handwert zu rechnen sei, kommt es hierauf letztlich nicht an. Gemäß der Entscheidung des BGH vom 14.12.2011 (Az.: IV ZR 34/11) ist die Invalidität nach dem rumpfferneren Körperteil zu bemessen, sofern sich bei einer Bewertung des rumpfnäheren Körperteils eine geringe Invalidität ergeben würde.“

Mit ihrer Berufung wiederholte die AIG Europe Limited sämtliche oben genannten Einwendungen und griff vor allem die vom Sachverständigen vorgenommene Addition der beiden Einzel-Handwerte an, welche im Widerspruch zur Begutachtungsliteratur stehen würde.

Das Oberlandesgericht Frankfurt am Main sah hier jedoch ebenso wie das Landgericht keinen Widerspruch und teilte im Verhandlungstermin seine Auffassung wie folgt mit:

Die zwischen den Parteien vereinbarte Gliedertaxe regle nicht, wie der Gesamtinvaliditätsgrad bzw. der Handwert zu bestimmen sei. Die in der Begutachtungsliteratur angegebenen Tabellenwerke seien nur Empfehlungen und stellen kein starres Prinzip dar. Die vom Sachverständigen vorgenommene Addition sei nicht zu beanstanden, da sie in ganz bewusster Abstandnahme von der Gesamtbetrachtung vorgenommen sei. Sie sei auch begründet, da vorliegend keine Überschneidung, sondern eher sogar eine Verstärkung von Funktionsbeeinträchtigungen vorliege. Eine Kompensation des eingeschränkten Faustschlusses sei aufgrund der zusätzlich bestehenden Versteifung des Handgelenks nicht möglich. Umgekehrt sei eine Kompensation der Handgelenksversteifung wegen des eingeschränkten Faustschlusses kaum möglich.

Auf genau diese Argumentation wurde von unserer Seite im erstinstanzlichen und Berufungsverfahren immer wieder hingewiesen.

Nach dem Hinweis des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main nahm die AIG Europe Limited die Berufung zurück.

 

Anmerkungen von Rechtsanwalt Klaus Junghans

1. Das Landgericht stellt in seinen Urteilsgründen und das Oberlandesgericht in seinem richterlichen Hinweis in der mündlichen Verhandlung klar, dass bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen an einer Gliedmaße diese nicht starr nach den Vorgaben der Begutachtungsliteratur, sondern immer konkret unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls bewertet werden müssen. Hierbei ist ein begründetes Abweichen von den Einschätzungsempfehlungen ohne Weiteres möglich.

Bedeutung erlangen diese Feststellungen aufgrund der äußerst restriktiven, für den Versicherungsnehmer nachteiligen und im Widerspruch zu den AUB stehenden Bemessungsmaßstäbe der Begutachtungsliteratur.

Hiernach ist bei mehreren unfallbedingten Funktionsstörungen, wie beispielsweise eingeschränkter Gelenkbeweglichkeit, Gelenkinstabilität, und Sensibilitätsstörungen, zunächst zu klären, welche Störung am bedeutsamsten ist. Diese ist sodann nach den einschlägigen Einschätzungsempfehlungen zu bewerten. Die weiteren, nach den Einschätzungsempfehlungen geringer zu bewertenden Störungen sollen nur zur Hälfte und bei einem Wert von weniger als 1/10 überhaupt nicht mehr berücksichtigt werden (stellvertretend: Schiltenwolf, Hollo, Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane, 6. Aufl. 2014, S. 883 f.).

Diese Form der Gesamtbewertung steht im Widerspruch zur Kommentarliteratur, der Gliedertaxe und – wie aus dem Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main sowie dem richterlichen Hinweis des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main ersichtlich – auch der Rechtsprechung.

Nach den einschlägigen Gliedertaxen wird bei Teilverlust oder Funktionsbeeinträchtigung eines der in der Gliedertaxe angegebenen Körperteile oder Sinnesorgane der entsprechende Teil des für den Verlust oder die Funktionsunfähigkeit vereinbarten Prozentsatzes angesetzt(§ 7 I. (2) b) AUB 88/94; Ziffer 2.1.2.2.1 AUB 99/2010).

Danach sind sämtliche Funktionsbeeinträchtigungen einer (Teil-)Gliedmaße (z.B. Hand) bei der Feststellung des entsprechenden Gesamt-(Teil-)Gliedmaßenwertes (z.B. Handwert) zu berücksichtigen. Eine Vernachlässigung – möglicherweise einer Vielzahl - von weniger als mit 1/10 zu bemessenden Einzel-Funktionsstörungen ist demnach unzulässig. Ebenso unzulässig ist der schematisch Ansatz nur des hälftigen Wertes für die weiteren Teil-Funktionsbeeinträchtigungen, ohne Berücksichtigung der tatsächlichen Auswirkung dieser auf die Gesamt-Funktionsbeeinträchtigung.

Bei den Bewertungsempfehlungen handelt es sich nicht um allgemein verbindliche Normen. Ebenfalls kommt ihnen, entgegen der Gliedertaxe, auch nicht der Charakter von AGB‘s zu, und zwar schon deshalb, weil sie nicht Vertragsgrundlage geworden sind. Die verschiedenen Tabellen stellen lediglich Hilfsmittel für den Gutachter bei der Invaliditätsbemessung dar. Sie dürfen jedoch keinesfalls dazu führen, dass der Sachverständige die gebotene individuelle Einschätzung des jeweiligen Sachverhalts unter vorrangigem Abstellen auf die Vorgaben der Gliedertaxe nicht vornimmt. Pauschale Bewertungen anhand von Tabellen dürfen nicht vorgenommen werden. Vielmehr hat der Sachverständige in eigener Verantwortung eine auf den konkreten Einzelfall bezogene Gesamtbewertung vorzunehmen (Bruck-Möller/Leverenz, VVG Bd. 9, 9. Aufl., AUB 2008 Ziff. 2.1 Rn. 205; Grimm, Unfallversicherung, AUB-Kommentar, 5. Auflage 2013, Ziff. 2 AUB 2010 Rn. 27; Hierholzer/Scheele, Gutachtenkolloquium 7, S. 84).

Die Bemessungsempfehlungen werden auch von der Begutachtungsliteratur selber ausdrücklich lediglich als Orientierungshilfe, welche Spielräume für die erforderliche individuelle, dem jeweiligen Einzelfall angepasste Bemessung lassen, bezeichnet. Dabei sollte der Abwägungsprozess hin zur Gesamtinvaliditätsbemessung transparent gestaltet und plausibel vermittelt werden (Schiltenwolf, Hollo, a.a.O.).

Diese Grundsätze für die Gesamtinvaliditätsbemessung sind leider weder bei den gerichtlich bestellten Sachverständigen noch bei den Instanzgerichten hinreichend bekannt.

Wie in vergleichbaren Fällen, in denen aufgrund eines ausdrücklichen Hinweises eines Oberlandesgerichtes mit einem für sämtliche Unfallversicherer negativem Urteil gerechnet werden muss, ist auch hier der verklagte Unfallversicherer dem oberlandesgerichtlichen Urteil durch die Rücknahme seiner Berufung zuvorgekommen.

2. Wie im vorliegenden Fall, rechnet der Unfallversicherer bei einem körperfernen Unterarmbruch mit Funktionsstörungen ausschließlich im Handgelenk oder der Hand häufig nicht nach einem zu einer höheren Invalidität führenden Handwert, sondern nach dem Armwert ab. Hier ist nach der Begutachtungsliteratur jedoch im Regelfall auf dem Handwert abzustellen.

Zudem hat der BGH in seinem Urteil vom 14.12.2011 - Az.: IV ZR 34/11 (VersR 2012, 351) klargestellt, dass in dem Fall, dass die Funktionsbeeinträchtigungen des rumpfferneren Körperteils (Hand/Handgelenk) zu einem höheren Invaliditätsgrad als die Funktionsbeeinträchtigungen des rumpfnäheren Körperteils (gesamter Arm/Schultergelenk) führen, die Invaliditätsleistung für das rumpffernere Körperteil die Untergrenze der geschuldeten Versicherungsleistung darstellt.

Diese höchstrichterliche Rechtsprechung scheint jedoch noch nicht überall angekommen zu sein und wird auch von vielen Landgerichten – selbst von den hier eingerichteten Spezialkammern - ohne ausdrücklichen Hinweis des Bevollmächtigten des Klägers nicht berücksichtigt.

3. Äußerst misslich ist das – wie hier vorliegende – Verhalten einiger von den Versicheren beauftragter Prozessbevollmächtigten, bei einer berechtigten klageweisen Geltendmachung weitergehender Invaliditätsleistungen und Rentenzahlungen stereotyp sämtliche Anspruchsvoraussetzungen, die außergerichtlich vollkommen unstreitig waren, jetzt im Klageverfahren erstmalig zu bestreiten und zusätzlich textbausteinartig das Vorliegen einer Vorinvalidität und Mitwirkung von Krankheit oder Gebrechen zu behaupten.

Wie hier wird auf einmal das Unfallgeschehen, der sogenannte Erstkörperschaden, die Kausalität des Unfalls für den Gesundheitsschaden sowie ganz offensichtlich bestehende Funktionsbeeinträchtigungen – wie vorliegend das Schmerzsyndrom im Sinne eines Morbus Sudeck und die vollständige Versteifung des Handgelenks - in Abrede gestellt, was vom Versicherungsnehmer bei den erlittenen Schmerzen und Beeinträchtigungen naturgemäß als besonders herabwürdigend empfunden wird, zumal hierdurch das Eintreten des Versicherungsnehmers für sein Recht auf ordnungsgemäße Unfallregulierung in die Nähe eines Vorgehens in betrügerischer Absicht gerückt wird.

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