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Landgericht Berlin – Europäische Reiseversicherung wird verurteilt: Umknicken mit dem Fuß nach Stolpern auf einer Treppe, stellt ein bedingungsgemäßes Unfallereignis dar!

Europäische Reiseversicherung zahlt nicht - muss schließlich nach sechsjährigem Prozess leisten und die gegebene Regulierungszusage durch Zahlung der vollen Invaliditätsentschädigung einlösen.

1. Stolpert der Versicherte auf einer Treppe, knickt daraufhin um und verdreht sich den Fuß, so ist dies ein Unfallereignis.

2. Bei einer Verletzung des oberen Sprunggelenks des Fußes und der Formulierung in den Versicherungsbedingungen „Verlust oder Funktionsunfähigkeit eines Fußes im Fußgelenk“ sind bei der Bemessung des Invaliditätsgrades nach dem Fußwert die Einschätzungsempfehlungen von Rompe/Erlenkämper/Schiltenwolf/Hollo „Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane“ nicht heranzuziehen.  

LG Berlin – 7 O 25/10 – Urteil vom 27.02.2015 (rechtskräftig)

1. Sachverhalt

Für unseren Mandanten bestand bei der Europäischen Reiseversicherung AG eine private Unfallversicherung. Nach § 1 Nr. 2 der vertraglich vereinbarten Versicherungsbedingungen liegt ein Unfall vor,

wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet

Nach § 4 Nr. 2 der Versicherungsbedingungen gilt bei Verlust oder Funktionslosigkeit eines „Fußes im Fußgelenk“ ein fester Invaliditätsgrad von 40%. Unser Mandant nahm die Europäische Reiseversicherung AG wegen der Folgen einer Verletzung seines oberen Sprunggelenks am rechten Fuß in Anspruch, die er sich während einer Reise zugezogen hatte. Dabei war unser Mandant am Abend in einem Freilufttheater die Stufen zu den Sitzreihen hinabgestiegen und aufgrund der unterschiedlichen Stufenbreite – die er wegen der schlechten Sichtverhältnisse nicht registrierte – ins Stolpern geraten, woraufhin er mit seinem rechten Fuß wegknickte und sich das Fußgelenk verdrehte. Unser Mandant erlitt eine Ruptur des Ligamentum fibulare anterius rechts und eine Teilläsion des Ligamtentum fibulocaneare rechts.

Die Debeka Versicherung AG, bei der unser Mandant eine weitere Unfallversicherung hatte, gab ein orthopädisches Gutachten in Auftrag, nach dessen Ergebnis bei unserem Mandanten eine Invalidität verblieben ist. Die Debeka Versicherung AG erbrachte daraufhin die Versicherungsleistungen auf der Grundlage dieses orthopädischen Gutachtens. Die Europäische Reiseversicherung AG, die sich mit der Debeka Versicherung AG die Gutachtenkosten geteilt und unserem Mandanten zunächst telefonisch signalisiert hatte, sie werde sich dem von der Debeka Versicherung AG eingeholten Gutachten anschließen, erklärte dann überraschend eine schriftliche Leistungsablehnung mit der Begründung, ihrer Auffassung nach würde kein Unfallereignis vorliegen. 

In dem von uns vor dem Landgericht Berlin gegen die Europäische Reiseversicherung AG geführten Prozess hat das Gericht zunächst die Ehefrau unseres Mandanten als Zeugin zu dem Unfallereignis befragt. Sodann ist ein orthopädischer Sachverständiger mit der Prüfung der Frage beauftragt worden, welche Invalidität bei unserem Mandanten verblieben ist.

2. Entscheidungsgründe

Das Landgericht Berlin hat unserer Klage auf Zahlung einer Invaliditätsleistung aus einem Invaliditätsgrad in Höhe von 4/10 Fußwert vollumfänglich stattgegeben.

Das Gericht hat zunächst festgestellt, dass das Unfallereignis durch die glaubhafte Aussage der Ehefrau unseres Mandanten bewiesen ist. Die Zeugin hatte den Unfallhergang so bestätigt, wie er von unserem Mandanten behauptet worden war. Das geforderte und von der Europäischen Reiseversicherung AG bestrittene Unfallerfordernis „von außen auf den Körper wirkendes Ereignis“ ist nach der Auffassung des Landgerichts Berlin darin zu sehen, dass unser Mandant aufgrund der unterschiedlichen Stufenbreite mit der er wegen der schlechten Sichtverhältnisse am Abend nicht rechnen konnte ins Straucheln geriet und daraufhin umknickte und sich seinen rechten Fuß verdrehte.  

Nach dem Ergebnis des gerichtlich in Auftrag gegebenen orthopädischen Sachverständigengutachtens stand für das Landgericht Berlin auch fest, dass das Unfallereignis zu einer Invalidität von 4/10 Fußwert bei unserem Mandanten geführt hat. Der orthopädische Sachverständige hatte festgestellt, dass das unfallbedingte Streck- und Beugedefizit des rechten oberen Sprunggelenks unseres Mandanten jeweils 10 Grad beträgt, die Beweglichkeit des rechten oberen Sprunggelenks unseres Mandanten mithin insgesamt um 20 Grad gegenüber der Normalbeweglichkeit eines nicht unfallgeschädigten oberen Sprunggelenks beeinträchtigt ist. Eine unfallbedingte Beeinträchtigung des rechten unteren Sprunggelenks konnte der Sachverständige dagegen nicht feststellen.

Diese unfallbedingte Beeinträchtigung der Beweglichkeit des rechten oberen Sprunggelenks von 20 Grad hat das Landgericht Berlin mit einem Invaliditätsgrad von 4/10 Fußwert bewertet. Der gerichtlich beauftragte orthopädische Sachverständige war zwar auf der Grundlage der Einschätzungsempfehlungen von Rompe/Erlenkämper/Schiltenwolf/Hollo „Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane“ 5. Auflage 2009, S. 711 lediglich zu einem Invaliditätsgrad von 2/10 Fußwert gelangt. Dieser Einschätzung folgte das Landgericht Berlin jedoch nicht. Insoweit hat das Landgericht Berlin zunächst rechtlich klargestellt, dass nach den hier vereinbarten Versicherungsbedingungen mit der Formulierung „Fuß im Fußgelenk“ und einer Verletzung im Bereich des oben Sprunggelenks entsprechend den Vorgaben des Bundesgerichtshofs (vgl. grundlegend Urteil vom 17.01.2001 – IV ZR 32/00 – VersR 2001, 360; zuletzt Beschluss vom 11.12.2013 – IV ZR 320/12 – r+s 2014, 420) als Ausgangsgrundlage der Invaliditätsbemessung davon auszugehen ist, dass bei einem Verlust oder einer Funktionsunfähigkeit eines „Fußes im Fußgelenk“ ein Invaliditätsgrad von 40% vorliegt.

Sodann hat das Landgericht Berlin festgestellt, dass die Einschätzungsempfehlungen von Rompe/Erlenkämper/Schiltenwolf/Hollo „Begutachtung der Haltungs- und Bewegungsorgane“ sich nicht an dieser allein maßgeblichen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs orientieren, wonach für die Invaliditätsbemessung allein auf die Funktionsfähigkeit, also auf die Beweglichkeit der beiden Sprunggelenke des Fußes abzustellen ist. Dies ergebe sich daraus, dass „Rompe/Erlenkämper/Schiltenwolf/Hollo“ bei einer Bewegungsstörung des oberen Sprunggelenks nach der Neutral-Null-Methode von 0-5-20 Grad, was funktionell weitestgehend identisch ist mit einer Vollversteifung in gebrauchsungünstiger Stellung, lediglich einen Fußwert von 7/20 annimmt und bei einem zusätzlichen Beugedefizit des unteren Sprunggelenks von 2/3 nochmals 3/20 Fußwert, was insgesamt nur 5/10 Fußwert ergibt. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sei bei solch einer Bewegungsstörung die einer Funktionsunfähigkeit eines „Fußes im Fußgelenk“ gleichkomme aber eine Invalidität von 10/10 Fußwert anzusetzen. Unter Berücksichtigung dessen, dass nach der Einschätzung des orthopädischen Sachverständigen das obere Sprunggelenk 80% der Funktion und das untere Sprunggelenk lediglich 20% der Funktion des Gelenkkomplexes „Fußgelenk“ insgesamt übernimmt, hielt es das Landgericht Berlin für gerechtfertigt, den Invaliditätsgrad von 2/10 Fußwert, wie er von dem orthopädischen Sachverständigen auf der Grundlage von „Rompe/Erlenkämper/Schiltenwolf/Hollo“ bemessen worden war auf 4/10 Fußwert zu verdoppeln.

3. Anmerkung RA Zeitler

Die Europäische Reiseversicherung hat in dem Verfahren, welches fast 10 Jahre währte einen tiefen Einblick in ihr Leistungsgebaren bzw. das, was sie dafür hält, gegeben. Man darf nicht außer Acht lassen, dass die Europäische unserem Mandanten zunächst zugesichert hatte, sich an die parallele Regulierung der Debeka zu binden – diese Zusagen jedoch nicht eingehalten hat. Im Gegenteil – im Nachgang wurde alles, sowohl der Unfallhergang sowie die Unfallfolgen bestritten, so dass im Prozess der gesamte Vorgang, der bis dahin unstreitig war, neu aufgerollt werden musste!

Das Unfallereignis konnte hier durch das Landgericht Berlin deshalb bejaht werden, weil unser Mandant nicht einfach beim Laufen umgeknickt, sondern vielmehr zuvor aufgrund unterschiedlich breiter Treppenstufen, die er aufgrund schlechter Sichtverhältnisse nicht registrierte ins Stolpern geraten und erst daraufhin umgeknickt war. Ein Unfall liegt nur dann vor, wenn die versicherte Person durch ein plötzlich von außen auf ihren Körper wirkendes Ereignis unfreiwillig eine Gesundheitsschädigung erleidet. Um bei Gesundheitsschädigungen durch Eigenbewegungen das von außen auf den Körper wirkende Ereignis bejahen zu können ist immer erforderlich, dass die geplanten Bewegungsabläufe nicht programmgemäß verlaufen, weil sie von außen gestört oder behindert werden.

Versicherten kann nur geraten werden, bei der Sachverhaltsschilderung bereits in der Unfallanzeige gegenüber dem Versicherer genaueste Angaben zu machen. Jedes Detail des Geschehensablaufs kann hier darüber entscheiden, ob ein Unfallereignis vorliegt oder nicht. Dies gilt umso mehr, weil spätere Konkretisierungen, Ergänzungen oder gar Abänderungen in der Schilderung des Geschehensablaufs erhebliche Zweifel an der Glaubhaftigkeit der Schilderung des Unfallgeschehens bei Versicherern und auch Gerichten begründen können.

Bei Gelenkverletzungen (Handgelenk, Schultergelenk, Fußgelenk) sind regelmäßig die Versicherten im Vorteil, die in ihrem Unfallversicherungsvertrag Versicherungsbedingungen haben, in denen sich die Formulierungen finden „Verlust oder Funktionsunfähigkeit eines Fußes im Fußgelenk“ / „Verlust oder Funktionsunfähigkeit eines Arms im Schultergelenk“ / „Verlust oder Funktionsunfähigkeit einer Hand im Handgelenk“. Insoweit ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Funktionsunfähigkeit des Fuß-/Schulter- oder Handgelenks durch Versteifung dem jeweiligen Verlust des Fußes im Fußgelenk / des Arms im Schultergelenk / der Hand im Handgelenk gleichzusetzen. Bei bloßen Funktionsbeeinträchtigungen des jeweiligen Gelenks ist der Grad der Beeinträchtigung zu ermitteln und ins Verhältnis zu dem für den Verlust / die Funktionsunfähigkeit festgesetzen Wert zu setzen, um den Invaliditätsgrad zu ermitteln. Das bereitet insbesondere beim Fußgelenk erhebliche Schwierigkeiten, weil dieses aus zwei Gelenken besteht, dem oberen und dem unteren Sprunggelenk, die unterschiedliche Bewegungen des Fußes ermöglichen. Bei der Bewertung können und werden durch Unfallversicherer und auch Mediziner in Unfallversicherungsprozessen unserer Erfahrung nach immer wieder Fehler gemacht, wie auch der vorliegende Fall anschaulich zeigt. Invaliditätsbewertungen, denen Gelenkverletzungen zugrunde liegen, sollten daher sehr sorgfältig auf ihre Richtigkeit hinterfragt und überprüft werden.

Versicherte mit Gelenkverletzungen sollten auch nicht resignieren, wenn sie auf den ersten Blick in ihrem Versicherungsvertrag keine Versicherungsbedingungen (mehr) haben, in denen sich die Formulierungen „Verlust oder Funktionsunfähigkeit eines Fußes im Fußgelenk“ / „Verlust oder Funktionsunfähigkeit eines Arms im Schultergelenk“ / „Verlust oder Funktionsunfähigkeit einer Hand im Handgelenk“ finden. Fast alle Versicherer haben auf die „Gelenkrechtsprechung“ des Bundesgerichtshofs reagiert und ihren Versicherungsnehmern neue Versicherungsbedingungen übersandt, in denen sich die auf das jeweilige Gelenk bezogenen Formulierungen nicht mehr finden. Mit einer einfachen Übersendung neuer Versicherungsbedingungen kann der Versicherer aber keine neuen Versicherungsbedingungen dem Versicherungsvertrag zugrunde legen. Es kann daher durchaus sein, dass weiterhin die alten für den Versicherten sehr vorteilhaften Versicherungsbedingungen gelten, auch wenn der Versicherer das möglicherweise anders darzustellen versucht. Es entspricht unseren Erfahrungen, dass private Unfallversicherungen, die klar gegebene Rechtslage zum Nachteil ihrer Versicherungsnehmer ignorieren;  insofern bedarf es immer einer genauen anwaltlichen Prüfung im Leistungsfall.

 


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