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OLG Frankfurt/M: Vorerkrankung Morbus Scheuermann darf bei Berechnung der Invaliditätsentschädigung nach einem Unfall keine Anrechnung finden. Nichtvornahme einer Operation mit lediglich vertretbarem Risiko stellt keine Obliegenheitsverletzung des VN da

Entscheidung OLG Frankfurt/M.,  Urteil vom 13.7.2005 (7 U 197/01)

Der Versicherte machte Invaliditätsentschädigung nach Unfall aus einer privaten Unfallversicherung geltend, der die Versicherungsbedingungen AUB 88 zugrunde lagen. Er litt nach einem Unfall an einer Kompressionsfraktur des ersten Lendenwirbelkörpers. Ein von der Versicherung beauftragter Gutachter schätzte den Invaliditätsgrad (außerhalb der Gliedertaxe ) auf 30 % ein und nahm gleichzeitig aufgrund eines beim versicherten unstreitig bestehenden morbus Scheuermann einen Vorschaden in Höhe von 15% an, so dass er zu einem Invaliditätsschaden aus dem Unfall in Höhe von 15% konzedierte. Zunächst lehnte die Versicherung die Leistung komplett ab, indem sie dem Versicherten schlicht ein unvollständiges Gutachten zur Verfügung stellte, so dass dieser die zugesprochene Invalidität aus dem Gutachten nicht erschließen konnte.

Erst im Prozess stellte sich dieses „Versehen“ der Versicherung heraus, so dass zunächst ein Invaliditätsgrad von 15% von der Versicherung unstreitig gestellt wurde. Im weiteren war die Differenz zum festgestellten Gesamtinvaliditätsgrad ( 30%) von noch einmal 15% streitig. Das Gericht hielt die Klage des Versicherungsnehmers auf den weiteren Betrag ebenfalls für begründet und sprach eine Leistung nach einem Invaliditätsgrad von vollen 30% zu.

Aufgrund der in sich schlüssigen und gut nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen Dr. S. stand zur Überzeugung des Gerichts fest, dass bei dem Versicherten vor Ablauf von drei Jahren nach dem Unfalltag unfallbedingt eine dauernde Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der Wirbelsäule eingetreten ist, die mit einem Invaliditätsgrad von 30 % zu bemessen ist. Hingegen vermochte das Gericht das Bestehen einer Vorinvalidität nicht festzustellen.

Die Versicherung ist für eine nach § 7 I Nr. 3 AUB 88 zu berücksichtigende Vorinvalidität darlegungs- und beweisbelastet; dieser Nachweis einer Vorinvalidität der Wirbelsäule des Versicherten war ihr aber nicht gelungen.

Soweit die Versicherung vorgetragen hat, dass eine röntgenologisch nachgewiesene Veränderung nach überstandenem Morbus Scheuermann zwingend entweder als Vorinvalidität nach § 7 I Nr. 3 AUB 88 oder aber als mitwirkende Beeinträchtigung nach § 8 AUB 88 berücksichtigt werden müsse, folgte ihr das Gericht nicht.

Der Sachverständige hatte zutreffend darauf abgestellt, dass Untersuchungsbefunde aus der Zeit vor dem Unfall nicht vorliegen und dass daher die anamnestischen Angaben des Versicherten wonach dieser bis zum Unfall in Bezug auf die Wirbelsäule beschwerdefrei gewesen sei, nicht zu widerlegen seien. Soweit der Sachverständige hieran anknüpfend ausführt, dass unter der Prämisse der Beschwerdefreiheit eine Funktionsbeeinträchtigung im Zeitraum vor dem Unfall nicht positiv nachgewiesen werden könne, hielt das Gericht das für nachvollziehbar und überzeugend.

Die Behauptung der Versicherung., dass die Schmorl'schen Knötchen und die Spondylose als unfallfremde Veränderungen die Beweglichkeit und Belastbarkeit der Wirbelsäule des Kl. schon vor dem Unfall herabgesetzt hätten, wies das Gericht als unsubstanziiert zurück. Denn sie basiert auf der bloßen Mutmaßung, dass dem Versicherten vor dem Unfall eine normale Beweglichkeit nicht abverlangt worden sei und sich deshalb keine Beschwerden gezeigt hätten, für die jedoch nichts dargetan ist. Der Versicherte ist gelernter Karosseriefacharbeiter und war zur Zeit des Unfalls als Schlosser und Schweißer tätig. Anhaltspunkte für eine andauernd unterdurchschnittliche Belastung seiner Wirbelsäule ergeben sich daraus keinesfalls.

Schließlich kann sich die Versicherung nicht mit Erfolg auf Leistungsfreiheit nach §§ 9 I, 10 AUB 88 berufen. Es fehlt bereits objektiv an einer Obliegenheitsverletzung. Der Versicherungsnehmer muss sich nur solchen Operationen unterziehen, zu denen sich ein vernünftiger Mensch unter Abwägung aller Umstände entschließen würde. Auch im Rahmen der allgemeinen Schadensminderungspflicht ist der Geschädigte lediglich gehalten, sich auf einfache, gefahrlose und sicheren Erfolg versprechende Operationen einzulassen. Die dem Versicherten empfohlene operative Fusion verspricht zwar den Ausführungen des Sachverständigen zufolge sicheren Erfolg; das mit ihr verbundene Risiko bezeichnet der Sachverständige jedoch lediglich als vertretbar und nicht als gering oder gar minimal. Die Weigerung des Versicherten., ein von einem Arzt bloß als vertretbar eingeschätztes Risiko einzugehen, erscheint dem Senat nicht unvernünftig.

Anmerkung Dr. Büchner:

Die Angelegenheit ist eigentlich ein Fall für den Staatsanwalt. Man bedenke, dass die beklagte Versicherung dem Versicherten vorprozessual jegliche Zahlung aufgrund der Tatsache ablehnte, dass man „versehentlich“ nur einen Teil des in Auftrag gegebenen Gutachtens zur Akte genommen hatte und den Rest, in dem zumindest ein Invaliditätsschaden von 15% konzediert wurde, einfach "vergessen"  hatte. Derartige Praktiken auf Seiten der Assekuranz sind gottlob auch in unserer anwaltlichen Tätigkeit die Ausnahme, jedoch kann der hier vorgestellte Sachverhalt ansonsten als durchaus typisch für die Regulierungspraxis der privaten Unfallversicherung angesehen werden.

Zunächst zeigt der Fall klar und eindringlich, dass die Feststellungen von Gutachtern keinesfalls unüberprüft und als "gottgegeben" hingenommen werden dürfen. Der Gutachter hatte vorliegend den unstreitig beim Mandanten diagnostizierten Morbus Scheuermann mit einem Vorschaden von 15% bedacht und von der ansonsten festgestellten 30%igen Invalidität abgezogen. Dieser beliebten Praxis hat das Gericht völlig zurecht eine Absage erteilt, da funktionellen Auswirkungen der Erkrankung vor dem Unfall weder erkennbar noch nachgewiesen waren. Diese rein juristische Bewertungsfrage wäre nie zum Tragen gekommen, hätte der Versicherte die Abrechnung der Versicherung nicht durch einen Anwalt und später gerichtlich prüfen lassen. Der Hinweis kann insofern nicht oft genug wiederholt werden: Jede Abrechnung einer privaten Unfallversicherung gehört überprüft! Selbst wenn die medizinische Einschätzung des Sachverständigen richtig ist, kann (und soll) dieser die juristischen Konsequenzen nicht bewerten, welche aber im Ergebnis zu entscheidenden Veränderungen in der Bewertung führen, wie der vorliegende Fall zeigt.

Darüber hinaus sei auch an dieser Stelle erwähnt, dass Gutachter - welche von einer Versicherung regelmäßig beauftragt und bezahlt werden - zumindest  dem Verdacht ausgesetzt sind, in gewisser Weise wirtschaftlich abhängig und deswegen nicht objektiv zu sein. Aber auch die nicht seltene Praxis der Versicherer, dem Versicherten vorzuschlagen, den eigenen, behandelnden Arzt mit der Invaliditätseinschätzung zu betrauen ist mit Vorsicht zu betrachten. Behandelnde Ärzte sind selten in der Lage, ihr Behandlungsergebnis neutral einzuschätzen; kein Arzt will seine Arbeit in der Tendenz negativ bewerten. Sollte der Arzt mit seiner Invaliditätsbewertung im Ergebnis nach Auffassung der Versicherung (zu Ungunsten seines Patienten) daneben liegen, hofft diese natürlich, dass sich der Versicherte mit dieser Bewertung, die ja vom eigenen Arzt kommt, zufrieden gibt. Sollte die Bewertung dagegen nach Einschätzung des Versicherers als zu hoch ausfallen, wird häufig die Kompetenz des Arztes angezweifelt und ein weiterer von der Versicherung ausgesuchter Gutachter mit der Bewertung der Invalidität beauftragt.

Schließlich wird vom Gericht auf eine weitere Tatsache hingewiesen. In der Unfallversicherung muss sich ein Versicherter nur solchen Operationen unterziehen, zu denen sich ein vernünftiger Mensch unter Abwägung aller Umstände entschließen würde. Auch im Rahmen der allgemeinen Schadensgeringhaltungspflicht ist der Geschädigte lediglich gehalten, sich auf einfache, gefahrlose und sicheren Erfolg versprechende Operationen einzulassen, nicht aber auf solche, deren Risiko der Sachverständige als lediglich vertretbar, nicht aber als nur gering eingestuft hat. Häufig werden von Gutachtern riskante medizinische Eingriffe als angeraten und erfolgversprechend im Gutachten erwähnt mit dem Hinweis, dass danach eine wesentliche Verbesserung der gesundheitlichen Situation zu erwarten ist. Versicherungen setzen dann die Regulierung häufig aus und schlagen vor, zunächst das Ergebnis der Operation abzuwarten. Eine – wie das Gericht bestätigte – unzulässige Praxis!


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