LG Berlin: Standard Life trägt als BU-Versicherung allein das Risiko einer fehlerhaften oder unzureichenden Therapie des Versicherungsnehmers
Sachverhalt
Unsere Mandantin beantragte am 12.02.2010 Leistungen aus ihrer Berufsunfähigkeitsversicherung bei der Standard Life Lebensversicherung, Niederlassung Deutschland. Sie konnte wegen eines seit 2007 bestehenden sogenannten Burnout-Syndroms nicht mehr als Rechtsanwältin arbeiten.
Die Standard Life kam ihrer vertraglichen Verpflichtung zur ordnungsgemäßen Leistungsprüfung nicht hinreichend nach.
Sie kontaktierte zwar die behandelnden Ärzte unsere Mandantin, welche deren Berufsunfähigkeit auch bestätigten, lehnte die Zahlung der Berufsunfähigkeitsrente im Ergebnis aber gleichwohl ab und stützte die Ablehnung auf eine psychiatrisches Gutachten des Berliner Psychiaters, Dr. Michael Sütfels v. 26.05.2010, welches seitens der Deutschen Rentenversicherung in Auftrag gegeben worden war und unsere Mandantin auf dem sog. „Allgemeinen Arbeitsmarkt“ noch als Leistungsfähig ansah.
Weitere medizinische Ermittlungen, etwa durch Einholung eines eigenen medizinischen Gutachtens, hielt die Standard Life Versicherung nicht für erforderlich. Im Gegenteil, auf unseren Hinweis hin, dass sich die Kriterien der Deutschen Rentenversicherung für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente grundlegend von denen in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung unterscheiden, wurde seitens der Standard Life entgegnet, dass dieser Unterschied durchaus bekannt sei, aber an der Leistungsentscheidung nichts ändere.
Unsere Mandantin beauftragte uns in der Folge, Klage zu erheben, welche 07.08.2012 am Landgericht Berlin anhängig gemacht wurde. Dieses holte ein medizinisches Gutachten ein, mit dem die konkrete, bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit geprüft wurde. Der Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass die Klägerin ihre letzte berufliche Tätigkeit insgesamt noch zu 60 % ausführen könne. Zu 40% sei sie insgesamt eingeschränkt, hinsichtlich einzelner Teiltätigkeiten, der Wahrnehmung von Gerichtsverhandlungen und Erstellung von Schriftsätzen zu 50%. Bei einer ausreichenden Ausschöpfung der therapeutischen Möglichkeiten, die aber nicht erfolgt sei, sei mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Besserung der beruflichen Leistungsfähigkeit zu erwarten.
Mit Urteil vom 15.01.2015 (Az: 23 O 292/12) hat das Landgericht Berlin in der Folge entschieden, dass eine mindestens 50%ige Beeinträchtigung in einzelnen Tätigkeitselementen für die Annahme einer bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit ausreichen kann, wenn ein sinnvolles Arbeitsergebnis ohne die nicht mehr ausübbaren Tätigkeitsanteile insgesamt nicht mehr erzielt werden kann.
Dabei komme es auch nicht darauf an, ob die Beeinträchtigungen der Fähigkeiten durchgehend für sechs Monate bei adäquater Therapie erfolgreich hätten gemindert werden können (sogenannte fingierte Berufsunfähigkeit).
Folgerichtig verurteilte das Gericht den Versicherer zur vollständigen Zahlung sowohl der bereits (seit 2007) fälligen, als auch der zukünftigen Rentenansprüche und Erstattung bzw. Befreiung hinsichtlich der zu zahlenden Prämien, als auch zur Erstattung sämtlicher Prozesskosten.
Anmerkung RA Dr. Büchner:
Das Urteil ist aus mehreren Gründen bemerkenswert:
Zwar folgte das Gericht grundsätzlich einer seit 2003 feststehenden BGH-Rechtsprechung (sog. Automatenaufstellerurteil), dass es einer bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit nicht entgegensteht, wenn die prägenden Teiltätigkeiten (hier: Wahrnehmung von Gerichtsverhandlungen und Verfassen von Schriftsätzen einer selbständigen Rechtsanwältin) rein zeitlich betrachtet weniger als 50% der Arbeitszeit der Klägerin ausmachen. Jedoch geht das jetzige Urteil des LG Berlin über die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes noch hinaus. Während der Kläger im o.g. Urteil des BGH eine Teiltätigkeit seines Berufes zu 100% nicht mehr ausüben konnte, war das hier nicht der Fall. Vielmehr stellte der gerichtliche Sachverständige fest, dass unsere Mandantin in zwei von insgesamt 13 untersuchten sog. Tätigkeitsdimensionen - „Durchhaltefähigkeit“ und „Fähigkeit zur Anwendung fachlicher Kompetenzen“ – Einschränkung von 50% habe; in allen anderen 11 Tätigkeitsdimensionen jedoch nur leichte oder gar keine Einschränkungen vorlägen. Das Gericht erachtete diese beiden Tätigkeitsdimensionen allerdings als grundlegend für die anwaltliche Tätigkeit, so dass es eine bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit annahm, ohne die konkreten Auswirkung auf die einzelnen anwaltlichen Tätigkeitsmerkmale noch explizit festzustellen zu müssen.
Darüber hinaus setzte das Landgericht Berlin, die dem Berufsunfähigkeitsversicherungsvertrag zugrunde liegenden Bedingungen konsequent um und stellte fest, dass der Versicherungsnehmer in der BU-Versicherung grundsätzlich nicht verpflichtet ist, an seiner eigenen Gesundung sinnvoll mitzuwirken. Darüber hinaus hat das Risiko, dass dieser sich in eine unzureichende oder fehlerhafte Therapie begibt, allein der Versicherer zu tragen. Die Grenze für den Versicherungsnehmer sieht das Gericht dann als gegeben an, wenn dieser durch etwaige Verweigerung zumutbarer Therapiemöglichkeiten seine Berufsunfähigkeit „böswillig“ selbst herbeigeführt hätte. Dies war nach Auffassung des Gerichts aber nicht erkennbar. Im Gegenteil; nach Feststellung des gerichtlichen Sachverständigen hat sich unsere Mandantin aus Sorge vor Abhängigkeiten bzw. unerwünschten Nebenwirkungen sich zunächst selbst mit einem nicht ärztlich verordneten, pflanzlichen Johanneskrautpräparat therapiert. Darüber hinaus stellte das Gericht fest, dass es auch keine ärztliche Empfehlung für eine Psychotherapie gegeben habe. Überdiese sei nicht auszuschließen, dass unserer Mandantin ebenfalls die Einsicht in die Notwendigkeit fehlte, bereits früher ärztlichen Rat einzuholen.
Im Ergebnis ist die Entscheidung des LG Berlin für den Versicherer sicherlich schmerzlich, aber konsequent, da es die Vorgaben des BU-Versicherungsvertrages und die BGH-Rechtsprechung konsequent umsetzt.
Die Standard Life Versicherung hat hier die „Quittung“ dafür bekommen, ein Gutachten für die Ablehnung der Rentenleistung herangezogen zu haben, welches von einem anderen Versicherungsträger – hier der gesetzlichen Rentenversicherung – beauftragt worden war und die Leistungsvoraussetzungen in der privaten Berufsunfähigkeitsversicherung nicht berücksichtigt hat.
Darüber hinaus wurde der von der Versicherung erhobene Vorwurf, unsere Mandantin arbeite nicht ausreichend an ihrer Gesundung mit, vom Gericht dogmatisch korrekt widerlegt.
Es entspricht aus unserer Sicht einer verbreiteten Praxis, dass Berufsunfähigkeitsversicherungen die Leistungsprüfung bei psychischen Erkrankungen mit dem Argument nicht weiterführen, der Versicherungsnehmer befinde sich nicht in fachärztlicher Therapie (eine Feststellung der psychischen Erkrankung durch den Hausarzt wird nicht akzeptiert).
Dabei wird unterschlagen, dass der bedingungsgemäße Nachweis der Berufsunfähigkeit nicht zwingend durch ein fachärztliches Zeugnis erbracht werden muss, vielmehr kann das durchaus auch durch den Hausarzt geschehen. Auch die Tatsache, dass sich der Versicherungsnehmer nicht in einer Psychotherapie befindet, muss noch lange kein Hinweis auf eine „böswillige“ Herbeiführung der Berufsunfähigkeit sein. Vielmehr kann es dafür verschiedene plausible Gründe geben. Im vorliegenden Fall hatte das Gericht Hinweise dafür, dass der Versicherten die Einsichtsfähigkeit in die Therapienotwendigkeit fehlte, was im Zweifel ausgereicht hätte. Noch häufiger sind die Gründe ganz praktischer Natur: es dürfte nämlich unterdessen eine jedem Gericht bekannte Tatsache sein, dass es sogar in Großstädten keine Seltenheit mehr ist, dass Patienten auf eine Psychotherapie mitunter über ein Jahr warten müssen. Im ländlichen oder kleinstädtischen Raum ist die Situation noch schwieriger.
Sollten BU-Versicherungen in dieser Situation Leistungen mit dem Argument verweigern, die Berufsunfähigkeit sei nicht fachärztlich nachgewiesen, muss dies keinesfalls hingenommen werden!
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