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Beweislastumkehr bei Nichterkennen der Meningitis-Symptome

OLG Stuttgart, Entscheidung vom 21.01.93 (14 U 34/91)

Unterläßt es ein Notarzt, trotz der auf Meningitis hindeutenden Symptome zur diagnostischen Abklärung zweifelsfrei gebotene Befunde zu erheben, und geht er infolge fundamentalen Irrtums als Arbeitsdiagnose von einer Mandelentzündung aus, so ist sowohl wegen der unterlassenen Befunderhebung als auch wegen des groben Diagnoseirrtums eine Beweislastumkehr für die Kausalität gerechtfertigt.

Der Kl. machte in Form von Feststellungs- und Schmerzensgeldanträgen Schadensersatzansprüche geltend mit der Behauptung fehlerhafter ärztlicher Behandlung durch den Bekl. am Abend des 17.7.1988. Der Kl. war der Auffassung, der Bekl. habe einen groben Behandlungsfehler begangen, indem er ihn unzureichend untersucht und hierdurch das Vorliegen einer Meningitis verkannt habe. Dem Bekl. seien als Folge dieses Fehlverhaltens die durch die verkannte Meningitis verursachten Gesundheitsschäden des Kl. anzulasten, insbesondere dessen nahezu vollständige Erblindung.
Der 1979 geborene Kl. machte im Juli 1988 Urlaub mit seinen Eltern auf einem Campingplatz in der Nähe von C. (Spanien). Am frühen Morgen des 16.7.1988 gegen 5.00 Uhr stellte die Mutter des Kl. bei ihm hohes Fieber fest (41C).
Das Fieber war begleitet von Kopf- und Genickschmerzen. Der Kl. mußte zudem ständig erbrechen. Zusammen mit seiner spanisch sprechenden Mutter suchte der Kl. noch an diesem Morgen einen Arzt im Krankenhaus in C. auf. Dieser diagnostizierte eine Angina und verordnete vier Penizillingaben in einer Menge von 1,2 Mio. Einheiten pro Tag. Dem Kl. sollten somit vier Penizillinspritzen über zwei Tage (täglich 2n (600) 000 Einheiten) verabreicht werden. Die erste Spritze wurde noch im Krankenhaus in C. injiziert.
Nach der Ankunft in H. (Deutschland) suchte der Kl. mit dem Ziel, die vierte Penizillininjektion zu erhalten, zusammen mit seiner Mutter den Bekl. auf.
Der Bekl. versah an diesem Abend den ärztlichen Notdienst. Die Mutter des Kl. schilderte den bisherigen Krankheitsverlauf mit den aufgetretenen Symptomen.
Sie äußerte hierbei - wie bereits zuvor bei der telefonischen Ankündigung des Arztbesuchs - den Verdacht auf eine Hirnhautentzündung.
Aufgrund einer im Umfang streitigen Untersuchung des Kl. hielt der Bekl. in seinem Krankenblatt über den ärztlichen Notfalldienst fest: "fieberhafte Tonsillitis (?)". Er verweigerte die von der Mutter des Kl. erbetene vierte Penizillinspritze, die er nur auf deren Verantwortung hin verabreichen wollte. Er verordnete noch verschiedene Medikamente zur Kräftigung der Widerstandsfähigkeit und gegen Übelkeit.
Als Folge der schweren Meningoenzephalitis verblieb beim Kl. eine Amaurose mit rechts noch verbleibender Hell-dunkel-Wahrnehmung. Weiterhin leidet der Kl. an einer links betonten spastischen Bewegungsstörung im Bereich der Beine.
Das LG hat den Bekl. zur Zahlung eines Schmerzensgelds in Höhe von 120000 DM verurteilt. Ferner hat es antragsgemäß festgestellt, daß der Bekl. verpflichtet ist, dem Kl. den künftig entstehenden materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen.
Die Berufung des Bekl. hatte keinen Erfolg. Auf die Anschlußberufung des Kl. erhöhte das OLG den Betrag des Schmerzensgeldes auf 150000 DM.
Aus den Gründen:
Der Senat tritt dem angefochtenen Urteil darin bei, daß der Bekl. dem Kl. wegen schwerwiegender Verstöße gegen seine ärztlichen Sorgfaltspflichten nach den Grundsätzen der Haftung bei groben Behandlungsfehlern zum Schadensersatz verpflichtet ist (§§ 823, 249 ff., 847 BGB). Die Haftung des Bekl. für die beim Kl. als Folgen der Meningitis eingetretenen gesundheitlichen Beeinträchtigungen, insbesondere dessen vollständige Erblindung, ist begründet.
Zur Recht hat das LG verbleibende Zweifel an der Ursächlichkeit des ärztlichen Fehlverhaltens für die Gesundheitsbeeinträchtigungen des Kl. dem Bekl. zugewiesen. Sowohl die unterlassene Erhebung von zwingenden und zweifelsfrei gebotenen Befunden wie auch der fundamentale Diagnoseirrtum im Blick auf die erhobenen Befunde in der Annahme einer abgeklungenen Mandelentzündung sind jeweils für sich und erst recht in ihrer Gesamtheit als grob fehlerhaftes ärztliches Verhalten zu bewerten.
Der Senat hält auch das nun vom Kl. mit seiner Anschlußberufung begehrte Schmerzensgeld in Höhe von 150000 DM für angemessen, insbesondere unter Berücksichtigung der im Vordergrund stehenden Ausgleichsfunktion (§ 847 BGB).
Der Bekl. versäumte es am Abend des 17.7.1988, zwingend und zweifelsfrei gebotene Befunde beim Kl. zu erheben. Nach Auffassung des Senats ist diese Unterlassung als grober Behandlungsfehler zu bewerten, insbesondere auch vor dem Hintergrund einer naheliegenden Verschleierung des Krankheitsbildes durch die vorherige Injektion von drei Penizillinspritzen sowie der Verabreichung von fiebersenkenden Medikamenten.
1. Aufgrund der von der Mutter des Kl. dem Bekl. im einzelnen geschilderten Symptome und wegen dem von ihr geäußerten Verdacht auf Meningitis bestand für den Bekl. Anlaß, diesen Verdacht eingehend abzuklären.
a) Bereits am Telefon und auch später beim eigentlichen Arztbesuch am Abend des 17.7.1988 erklärte die Mutter des Kl. gegenüber dem Bekl., "das Kind habe möglicherweise eine Meningitis".
Sie schilderte dem Bekl. auch im einzelnen, daß der Kl. am Morgen des Vortags zu ihr gekommen sei mit Kopfschmerzen und hohem Fieber (41C). Dem Kl. sei übel gewesen mit starkem Brechreiz. Auch nach dem Besuch im Krankenhaus in Spanien sei die Symptomatik von Kopfschmerzen, Übelkeit und Erbrechen unverändert weitergegangen. Sie habe dem Kind Fieberzäpfchen gegeben. Bei dem Zwischenaufenthalt in Frankreich sei es dem Kl. nicht gut gegangen, er habe nicht mehr richtig laufen können und habe deshalb getragen werden müssen.
b) Der gerichtliche Sachverständige Prof. Dr. N. legte zur Überzeugung des Senats dar, daß diese von der Mutter des Kl. geschilderten Symptome dem Bekl. ganz sicher Anlaß geben mußten, an die Möglichkeit einer eitrigen Meningitis zu denken und diese deshalb eingehend abzuklären. In den differentialdiagnostischen Erwägungen hatte diese Diagnose eine hohe Wahrscheinlichkeit und hätte deshalb zu entsprechenden Untersuchungsschritten beim Kl. führen müssen.
Bereits der Sachverständige Prof. Dr. M. führte in seinem schriftlichen Gutachten vom 29.6.1989 gegenüber der Polizeidirektion in F. aus, die differentialdiagnostische Erwägung Meningitis hätte breiten Raum einnehmen müssen.
2. Diese Feststellungen der Sachverständigen stehen im eklatanten Widerspruch zu den unzureichenden Untersuchungen und Befunderhebungen durch den Bekl. Der Bekl. konnte lediglich nachweisen, er habe den Kl. auf Meningismus hin überprüft, indem er den Kopf des Kl. angehoben und versucht habe, den Kopf bis aufs Brustbein zu drücken. Gerade auch wegen des vom Bekl. in Betracht zu ziehenden verschleierten Krankheitsbildes infolge der vorausgegangenen Penizillingaben war diese alleinige Untersuchung unzureichend und die Beschränkung hierauf behandlungsfehlerhaft.
a) Der Bekl. dokumentierte am Abend des 17.7.1988 keine Untersuchungen oder Befunderhebungen, sondern hielt in seinem Krankenblatt lediglich fest: "fieberhafte Tonsillitis (?)". Diese Verletzung der Dokumentationspflicht ist ein Indiz dafür, daß der Bekl. die von ihm behaupteten weiteren Untersuchungen nicht durchgeführt hat. Lediglich im Blick auf die Überprüfung des sogenannten Meningismus konnte der Bekl. die indizielle Wirkung der fehlenden Eintragung entkräften.
aa) Zu dokumentieren sind die wichtigsten diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen, so gerade auch Diagnoseuntersuchungen und Funktionsbefunde (vgl. hierzu Steffen, Neue Entwicklungslinien der BGH-Rechtsprechung im Arzthaftungsrecht 5. Aufl. S. 135 m. w. N.). Nach den den Senat überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. N. wäre deshalb der Bekl. verpflichtet gewesen, auf dem Krankenblatt auch jene Tests und deren Ergebnisse zu verzeichnen, die er zum Ausschluß einer Meningitis gemacht haben will. Auch der Arzt für Allgemeinmedizin muß von der Routine abweichende Untersuchungen und festgestellte Befunde - wie hier - dokumentieren. Nur sich von selbst verstehende Routinehandreichungen und -kontrollen müssen nicht dokumentiert werden (s. hierzu OLG Bamberg vom 30.1.1991 VersR 1992, 831).
bb) Zwar betont der Bekl. zu Recht, daß Dokumentationsversäumnisse als solche kein eigenständiger Anknüpfungspunkt für eine vertragliche oder deliktische Haftung des behandelnden Arztes sind (BGH vom 28.6.1988 - VI ZR 217/87 = VersR 1989, 80 = NJW 88, 2949). Beweiserleichterungen für den Patienten bis zur Beweislastumkehr können sich jedoch aus Dokumentationsversäumnissen ergeben.
Sie betreffen in erster Linie den Nachweis, daß die nicht aufgezeichnete Maßnahme doch getroffen worden ist.
Die Verletzung der Dokumentationspflicht führt zu einem Indiz dafür, daß die erforderliche Maßnahme nicht erkannt, nicht angeordnet und nicht durchgeführt wurde. Sie kann aber auch zu einer Kausalitätsvermutung führen, wenn der so vermutete Behandlungsfehler als "grob" zu beurteilen ist. Der Arzt muß die indizielle Wirkung der fehlenden Eintragung entkräften (vgl. BGH vom 18.3.1986 - VI ZR 215/84 = VersR 1986, 788 = NJW 86, 2365 vom 3.2.1987 - VI ZR 56/86 - BGHZ 99, 391 = VersR 1987, 1089 = NJW 87, 1482 vom 19.5.1987 - VI ZR 147/86 = VersR 1987, 1091 = NJW 87, 2300 vom 2.6.1987 - VI ZR 174/86 = VersR 1987, 1238 = NJW 88, 762).
b) Der Bekl. konnte lediglich den Nachweis führen, er habe den Kl. auf Meningismus hin überprüft, indem er den Kopf des Kl. angehoben und versucht habe, den Kopf bis aufs Brustbein zu drücken (wird ausgeführt).
c) Weiter gehende und nach den überzeugenden Darlegungen des gerichtlichen Sachverständigen Prof. Dr. N. zweifelsfrei gebotene Untersuchungsmaßnahmen konnte der Bekl. indessen nicht nachweisen.
aa) Dies gilt gerade auch für die Durchführung des sogenannten Brudzinski-Tests, bei dem beobachtet wird, ob der Patient beim Beugen des Kopfs bis zum Brustbein gleichzeitig die Beine hochzieht. Auch die weitere Prüfung auf Meningismus beim sitzenden Patienten sowie der sogenannte Kernig-Test ist mangels Nachweises durch den Bekl. als nicht durchgeführt zu betrachten gleichfalls gilt dies für die Prüfung des Dreifußzeichens und die Möglichkeit des Kniekusses.
bb) Der Bekl. unterließ es schließlich, den Kl. auf mögliche Hautblutungen zu untersuchen, auch wenn mangels Nachweises davon auszugehen ist, daß die Mutter des Kl. den Bekl. hierauf nicht ausdrücklich hingewiesen hat. Daß solche Hautblutungen vorgelegen haben, ergibt sich aus dem Aufnahmebefund des Krankenhauses in F. vom 18.7.1988 im Zusammenhang mit den von der Mutter des Kl. glaubhaft geschilderten Hautblutungen, die diese bereits am 16.7.1988 in Spanien festgestellt hat.
Nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. N. besteht ganz allgemein für den Arzt bei Verdacht auf Meningitis Veranlassung, die Haut auf Einblutungen zu untersuchen. Die Überprüfung auf Hautblutungen war beim vorliegenden Verdacht auf Meningitis aus medizinischer Sicht unumgänglich erforderlich.
d) Zwar verkennt der Senat nicht, daß auch nach den Darlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. N. die Kernuntersuchung die Überprüfung der Nackensteifigkeit darstellt, die vom Bekl. durchgeführt wurde. Andererseits war eine weitergehende umfassende Befunderhebung - wie zuvor beschrieben - gerade wegen des in Betracht zu ziehenden verschleierten Krankheitsbildes zwingend erforderlich.
Wie der Sachverständige zur Überzeugung des Senats im einzelnen erläuterte, wäre der Kl. am Abend der Untersuchung ohne Penizillin sicherlich bewußtlos gewesen und keiner wäre auf die Idee gekommen, ein kerngesundes Kind anzunehmen. Die Verabreichung von Penizillin war dem Bekl. bekannt, von ihm zu berücksichtigen und aus medizinischer Sicht eindeutig in die differentialdiagnostischen Erwägungen einzubeziehen. Zudem war davon auszugehen, daß die Verabreichung von Fieberzäpfchen das Fieber gesenkt hatte. Dies alles hätte der Bekl. berücksichtigen und deshalb von einem verschleierten schweren Krankheitsbild ausgehen müssen, das weiter gehende Befunderhebungen erfordert hätte.
3. Die Unterlassung der Erhebung von Befunden, die letztlich zur Fehldiagnose "abgeklungene Mandelentzündung" geführt hat, ist nach Überzeugung des Senats als grob fehlerhaft zu bewerten. Bei einem alarmierenden Verdacht auf Meningitis ist der Arzt verpflichtet zu differentialdiagnostischen Maßnahmen, deren Unterlassen einen groben Behandlungsfehler darstellt.
a) Ob sich ein Behandlungsfehler in Gewicht und Bedeutung des ärztlichen Pflichtverstoßes als grob darstellt, erfordert eine rechtliche Bewertung, die das Gericht aufgrund der ihm unterbreiteten Fakten im Rahmen einer Gesamtbetrachtung des Behandlungsgeschehens unter Berücksichtigung der konkreten Umstände zu treffen hat (BGH vom 8.3.1988 - VI ZR 201/87 = VersR 1988, 495 = NJW 88, 1511 vom 10.11.1987 - VI ZR 39/87 = VersR 1988, 293 (294) = NJW 88, 1513 = MedR 88, 143 = AHRS 29/22). Es geht hierbei um eine juristische Wertung, deshalb hat der Richter, nicht der Sachverständige, das Merkmal "grob" auszugrenzen (BGH vom 10.11.1987 aaO).
b) Das festgestellte Fehlverhalten des Bekl. erscheint dem Senat aus objektiver ärztlicher Sicht als nicht mehr verständlich und nicht mehr verantwortbar, weil ein solcher Fehler dem Arzt "schlechterdings nicht unterlaufen darf". In der Bewertung des Verhaltens des Bekl. als grob fehlerhaft steht dabei für den Senat nicht die subjektive Vorwerfbarkeit im Vordergrund, ein grober Behandlungsfehler setzt keine grobe Fahrlässigkeit voraus (BGH vom 26.11.1991 - VI ZR 398/90 = VersR 1992, 238), sondern der - allein maßgebliche - Umstand, daß das ärztliche Verhalten des Bekl. eindeutig gegen gesicherte und bewährte medizinische Erkenntnisse und Erfahrungen verstieß (BGH vom 3.12.1985 - VI ZR 106/84 = VersR 1986, 366 = AHRS 6551/10).
Die hier vorliegende Unterlassung von Befunderhebungen ist als grober Behandlungsfehler zu bewerten, der eine Beweislastumkehr rechtfertigt (s. hierzu auch BGH Nichtannahmebeschluß vom 26.5.1992 - VI ZR 306/91 - NJW 92, 2971 und die zugrundeliegende Entscheidung des OLG Stuttgart vom 26.9.1991 NJW 92, 2970 = VersR 1992, 1361 vgl. zu ähnlichen
Fallgestaltungen auch OLG Stuttgart vom 21.6.1990 VersR 1991, 821 OLG München vom 6.6.1991 VersR 1992, 964 L: grober Behandlungsfehler bei Mängeln der Befunderhebung und Diagnosestellung OLG Köln vom 30.5.1990 VersR 1991, 186 OLG Zweibrücken vom 7.12.1989 VersR 1991, 427 OLG Oldenburg vom 29.5.1990 VersR 1991, 1243 = NJW-RR 90, 1363 OLG Hamm vom 29.11.1977 VersR 1979, 826).
4. Der Bekl. ging in seiner Diagnose am Abend des 17.7.1988 von einer abgeklungenen Mandelentzündung aus, obwohl diese - nach den überzeugenden Darlegungen des Sachverständigen Prof. Dr. N. - auszuschließen war. Aufgrund der erhobenen Anamnese wäre es angezeigt gewesen, die zutreffende Diagnose Meningitis an die erste Stelle der differentialdiagnostischen Möglichkeiten zu setzen. Diesen Diagnoseirrtum im Sinn einer Fehlinterpretation der erhobenen Befunde bewertet der Senat als grob, da es sich um einen fundamentalen Irrtum handelt. Dieser Befund führte im Ergebnis dazu, daß der Bekl. den Kl. ohne weitere Therapie wieder nach Hause schickte und nicht, wie angezeigt, sofort ins Krankenhaus überwies.
a) Der Bekl. erklärte gegenüber der Mutter des Kl. am Abend des 17.7.1988, er könne nichts mehr feststellen. Für ihn sei wichtig gewesen, ob der Kl. Meningitis gehabt habe oder nicht. Eine solche Ausschlußdiagnose konnte er jedoch nicht stellen, nachdem er auch keine Anzeichen für eine Mandelentzündung festgestellt hatte. Er selbst führte bei seiner informatorischen Anhörung aus, er habe dem Kl. in den Mund gesehen und der Rachenraum sei ohne feststellbare entzündliche Reizung gewesen.
Der Sachverständige Prof. Dr. N. legte zur Überzeugung des Senats dar, daß aufgrund des Erscheinungsbildes und insbesondere auch aufgrund der Anamnese eine Mandelentzündung auszuschließen war. Es wäre sehr verwunderlich, wenn eine erst am Vortag aufgetretene Tonsillitis nach Penizillingabe vollständig und spurlos verschwunden gewesen wäre.
b) Im Einklang mit den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. N. durfte sich der Bekl. am Abend des 17.7.1988 auch nicht damit begnügen, das momentane gesundheitliche Erscheinungsbild des Kl. festzustellen, statt von einer schweren Erkrankung aufgrund der geschilderten Symptome auszugehen.
Vielmehr wäre es zwingend erforderlich gewesen, das Kind zur näheren Abklärung in ein Krankenhaus zu überweisen. Aufgrund der erhobenen Anamnese wäre es angezeigt gewesen, die richtige Diagnose Meningitis an die erste Stelle der differentialdiagnostischen Möglichkeiten zu setzen und nicht als Arbeitsdiagnose eine - durch nichts gesicherte - abgeklungene Mandelentzündung zugrunde zu legen. Hat aber der Bekl. als Arbeitsdiagnose eine Krankheit zugrunde gelegt, die differentialdiagnostisch nicht in Betracht kam, vielmehr als höchst unwahrscheinlich auszuschließen war, dann ist ihm dies als fundamentaler Fehler vorzuwerfen.
c) So kann gerade das ungeprüfte Festhalten an einer - ohnehin unwahrscheinlichen - Arbeitsdiagnose Mandelentzündung ohne eingehende Untersuchungen einen groben Behandlungsfehler begründen, wenn und soweit von einer Verschleierung des Krankheitsbildes auszugehen ist (s. hierzu auch BGH vom 28.5.1985 - VI ZR 264/83 = VersR 1985, 886).
Zu Recht betont der Sachverständige Prof. Dr. M. in seinem schriftlichen Gutachten vom 29.6.1989 gegenüber der Polizeidirektion in F., der Bekl. habe sich darüber bewußt sein müssen, daß er aufgrund der Vorbehandlung mit Penizillin keine zuverlässige Diagnose stellen konnte. Prof. Dr. B. wertete es in seinem Gutachten der Verteidigung im Strafverfahren als sehr erschreckend, daß die schwerwiegende Diagnose einer eitrigen Meningitis trotz ihrer sehr typischen Ausprägung nicht gestellt worden sei.
d) Der Diagnoseirrtum des Bekl. am 17.7.1988 im Sinne einer Fehlinterpretation der ihm bekannt gewordenen Befunde ist als grob zu bewerten, da es sich um einen fundamentalen Irrtum handelte (s. zu den Voraussetzungen BGH vom 14.7.1981 - VI ZR 35/79 = VersR 1981, 1033 = NJW 81, 2360 = MedR 83, 107 vom 10.11.1987 - VI ZR 39/87 = VersR 1988, 293 (294) = NJW 88, 1513 = MedR 88, 143), ungeachtet des Umstands, daß bereits das Nichterheben von weiter gehenden Befunden, die zur falschen Diagnose beigetragen haben, als grob fehlerhaft zu bewerten ist (s. hierzu BGH vom  7.6.1983 - VI ZR 284/81 = VersR 1983, 983 = MedR 84, 102 vom 28.5.1985 - VI ZR 264/83 = VersR 1985, 886).
Ein fundamentaler Diagnosefehler, der eine Beweislastumkehr rechtfertigt, ist dann gegeben, wenn sich dem Arzt - wie hier dem Bekl. - der Verdacht einer Erkrankung hätte aufdrängen müssen (s. hierzu auch OLG Bamberg vom 30.1.1991 VersR 1992, 831). Erst recht stellten sich für den Senat die Behandlungsfehler in Gewicht und Bedeutung des ärztlichen Pflichtverstoßes als grob dar, bei Zugrundelegung einer Gesamtbetrachtung des Behandlungsgeschehens unter Zusammenfassung der unterlassenen Befunderhebung sowie des Diagnoseirrtums im Sinne einer Fehlinterpretation der dem Bekl. bekanntgewordenen Befunde.
So betonte auch Prof. Dr. X. im Strafverfahren vor dem AG in der mündlichen Verhandlung vom 1.7.1992, schon anhand einer Verdachtsdiagnose hätte der Kl. ins Krankenhaus eingewiesen werden müssen. Nach sorgfältiger Auswertung der Anamnese hätte eine Einweisung ins Krankenhaus nicht unterbleiben dürfen.
Eine Meningitis ist so gefährlich, daß schon der Verdacht eine Einweisung notwendig macht.
5. Aus der Bewertung der ärztlichen Behandlung des Bekl. als grob fehlerhaft folgen hinsichtlich der Ursächlichkeit der Behandlungsfehler für den Schaden des Patienten Beweiserleichterungen für den Kl. bis hin zur Beweislastumkehr, und zwar soweit als nach tatrichterlichem Ermessen dem Patienten die volle Beweislast für die Schadensursächlichkeit des Arztfehlers angesichts der vom Arzt verschuldeten Aufklärungshindernisse billigerweise nicht mehr zugemutet werden kann (BGH vom 27.6.1978 - VI ZR 183/76 - BGHZ 72, 132 = VersR 1978, 1022 vom 21.9.1982 - VI ZR 302/80 - BGHZ 85, 212 = VersR 1982, 1193).
Für die Haftung reicht es aus, daß der Fehler generell zur Verursachung des eingetretenen Schadens geeignet war wahrscheinlich braucht der Eintritt des Erfolgs nicht zu sein (BGH vom 26.11.1991 - VI ZR 398/90 = VersR 1992, 238 = NJW 92, 754). Zwar kann bei der Frage, ob ein grober Behandlungsfehler des Bekl. eine Beweiserleichterung für die Kausalität rechtfertigt, das Gewicht der Möglichkeit nicht unberücksichtigt bleiben, daß der Fehler zum Mißerfolg der Behandlung beigetragen hat (BGH vom 28.6.1988 - VI ZR 217/87 = VersR 1989, 80 = NJW 88, 2949 vom 21.9.1982 - VI ZR 302/80 - BGHZ 85, 212 = VersR 1982, 1193 = NJW 83, 333 = MedR 83, 144 vom 10.5.1983 - VI ZR 270/81 = VersR 1983, 729 = NJW 83, 2000), wenn die Beweiserleichterung gerade deshalb gewährt und gegebenenfalls in ihrem Umfang entsprechend abgestuft wird, weil das Spektrum der für den Mißerfolg in Betracht kommenden Ursachen wegen der hohen Schadensneigung des Fehlers verbreitert bzw. verschoben worden ist.
Je unwahrscheinlicher ein solcher ursächlicher Zusammenhang ist, desto geringer wirken sich die durch den Fehler verursachten Aufklärungserschwernisse aus. Der Sachverständige Prof. Dr. N. bezeichnete es jedoch bereits bei seiner mündlichen Anhörung vor dem LG als möglich, daß der Kl. nicht erblindet wäre bei einer unterstellten Behandlung am Abend des 17.7.1988 nach Überweisung in eine Klinik. In seinem Gutachten in der Berufungsinstanz wiederholte der Sachverständige, daß eine um 10 bis 12 Stunden früher gestellte Diagnose und der Beginn einer entsprechenden antibiotischen Therapie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu einem günstigeren Ausgang der Erkrankung geführt hätte.
Noch exponierter legte sich der Sachverständige Prof. Dr. X. im Strafverfahren vor dem AG fest. Seiner Auffassung nach ist mit großer Sicherheit auszuschließen, daß das Kind bei einer früheren Einweisung ins Krankenhaus erblindet wäre.
6. Der Bekl. kann sich schließlich nicht darauf berufen, "er sei ja lediglich Notarzt gewesen und nur wegen der Verabreichung einer Injektion aufgesucht worden". Der Sorgfaltsmaßstab wird im Rahmen eines Notfall- oder Bereitschaftsdienstes grundsätzlich nicht gemildert (OLG Stuttgart vom 27.8.1987 - 14 U 19/87). Der Notarzt hat nicht nur akute Beschwerden zu behandeln, sondern im Rahmen seiner Möglichkeiten das Krankheitsbild vollständig zu ermitteln (vgl. hierzu auch Steffen aaO S. 21 m. w. N.).
7. Das vom Kl. nunmehr beantragte Schmerzensgeld in Höhe von 150000 DM ist im Hinblick auf die schweren Gesundheitsschäden des Kl. nach Auffassung des Senats angemessen (§ 847 BGB). Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes ist primär an die gesundheitlichen Beeinträchtigungen des Kl. anzuknüpfen (BGH vom 13.10.1992 - VI ZR 201/91 = VersR 1993, 327), im Vordergrund steht die Ausgleichsfunktion.
Der Kl. ist vollständig erblindet. Eine Besserung ist nicht zu erwarten. Die daneben vorliegende spastische Bewegungsstörung im Bereich der Beine links betont tritt zwar hier etwas zurück, ist freilich in die Bemessung mit einzubeziehen (wird ausgeführt).
8. Auch der Feststellungsantrag im Blick auf künftige materielle und immaterielle Schäden ist zulässig und begründet (§ 256 Abs. 1 ZPO). Die Rechtsprechung des BGH hat an die sachliche Begründetheit eines solchen Feststellungsanspruchs stets maßvolle Anforderungen gestellt (vgl. BGH vom 19.3.1991 - VI ZR 199/90 = VersR 1991, 779 = NJW-RR 91, 917 = VersR 1991, 779 vom 11.7.1989 - VI ZR 234/88 = VersR 1989, 1055 = NJW-RR 89, 1367). Für den immateriellen Feststellungsantrag genügt es, daß eine nicht eben entfernt liegende Möglichkeit künftiger Verwirklichung der Schadensersatzpflicht durch Auftreten weiterer, bisher noch nicht erkennbarer und voraussehbarer Leiden besteht.

Anmerkung Dr. Büchner:

Das vorgestellte Urteil beschreibt den nicht seltenen Fall einer unerkannt gebliebenen Meningitis, deren Folgen häufig zu irreversiblen gesundheitlichen Folgen beim Patienten bzw. zum Tode führen können.

Das Ignorieren der eindeutigen Symptome der Erkrankung und das Unterlassen der differenzialdiagnostischen Abklärung stellt einen schweren ärztlichen Kunstfehler dar, welcher zur Haftung des Arztes führt.


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