Newsdetail

Bayerisches LSG: Voraussetzungen für die Anerkennung einer Pflegestufe in der privaten Pflegepflichtversicherung wegen außergewöhnlich hohem und intensivem Pflegaufwand.

Bayer. Landessozialgericht, Urteil vom 17.09.2004, Az. L 7 P 48/02

Tatbestand:

Zwischen den Beteiligten ist die Gewährung von Leistungen der privaten Pflegepflichtversicherung wegen außergewöhnlich hohem und intensivem Pflegaufwand streitig.

Der 1944 geborene und am 18.03.2003 verstorbene Ehemann der Klägerin erlitt am 30.07.1997 einen diffusen hypoxischen Hirnschaden nach Reanimation bei Hinterwandinfarkt mit Kammerflimmern. Seit diesem Zeitpunkt wurde er von der Beklagten im Rahmen der privaten Pflegepflichtversicherung in Pflegestufe III ohne Anerkennung eines Härtefalls eingestuft. Der Beurteilung lag ein Gutachten von Frau Dr.M. B. von der Firma M. vom 06.09.1997 zu Grunde, das zu dem Ergebnis kam, dass der Hilfebedarf in der Grundpflege bei 371 Minuten und der in der hauswirtschaftlichen Versorgung bei 60 Minuten liege. In ihrem Gutachten führte Frau Dr.B. aus, dass die Pflege des Ehemannes der Klägerin so aufwendig sei, dass es möglich sei, dass Pflegestufe III mit Härtefall eintreten könne. Im Übrigen empfahl sie eine Wiederholungsbegutachtung in zwölf Monaten. Am 16.09.1999 fand eine erneute Begutachtung durch die Firma M. - Dr.med.H. - statt. Dieser kam zum Ergebnis, dass der Hilfebedarf bei 311 Minuten läge, der der hauswirtschaftlichen Versorgung bei 60 Minuten. Die Härtefallkriterien seien nicht erreicht. Weder werde die Pflege nachts von zwei Pflegekräften geleistet noch würden sieben Stunden Grundpflege anfallen. Auch würde der Ehemann der Klägerin nachts nicht mehr als zwei Stunden gepflegt.

Dementsprechend teilte die Beklagte dem Ehemann der Klägerin mit, das Vorliegen eines Härtefalles könne nicht bejaht werden. Hierzu führte die Klägerin aus, sie würde ihren Ehemann 145 und mehr Stunden wöchentlich pflegen. Im Übrigen legte sie "Widerspruch" gegen die Leistungsablehnung ein. Die Zeit- und Unterstützungsangaben würden keineswegs den tatsächlichen Gegebenheiten entsprechen. Mit Schreiben vom 24.11.1999 teilte die Beklagte erneut mit, dass kein Härtefall gemäß den Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die private Pflegepflichtversicherung, Bedingungsteil MB/PPV 1996 und Tarif-PV für die Tarifstufen PVN und PVB vorliegen würden. Das Schreiben war mit einem Hinweis gemäß § 17 Abs.1 MB/PPV 1996 versehen.

Am 20.04.2000 gab das Therapiezentrum B. eine ausführliche Stellungnahme bezüglich der Pflegeintensität des Ehemannes der Klägerin ab. Der daraufhin beauftragte Sachverständige Dr. F. führte in seinem Obergutachten aus, beim Ehemann der Klägerin läge ein Grundpflegebedarf von 430 Minuten vor und ein hauswirtschaftlicher Hilfebedarf von 60 Minuten. Ein außergewöhnlich hoher Pflegebedarf, der das gewöhnliche Maß der Pflegestufe III weit übersteige, sei nicht gegeben. Mit Schreiben vom 19.05.2000 teilte die Beklagte daraufhin unter Hinweis auf § 17 Abs.1 MB/PPV erneut mit, ein Härtefall liege nicht vor.

Zur Begründung der dagegen zum Sozialgericht (SG) München erhobenen Klage ist ausgeführt worden, die Feststellungen des Medizinischen Dienstes seien im Hinblick auf den Hilfebedarf und dem damit zusammenhängenden Zeitaufwand der Pflege unzutreffend. So führe der Gutachter zwar aus, dass beim Ehemann der Klägerin eine krankheitsbedingte Störung der Wahrnehmung in Bezug auf den eigenen Körper vorliege, sodass akute Angst- und Unruhezustände mit aggressiven Phasen bei mangelnder Wahrnehmung auftreten würden. Dies habe zur Folge, dass eine Kontaktaufnahme zum Ehemann der Klägerin nicht möglich sei. Lediglich enge Bezugspersonen - hier in der Regel die Ehefrau - würden als Bezugspersonen anerkannt. Erschwerend komme das hohe Körpergewicht des Ehemannes hinzu. Dies habe zur Folge, dass im Regelfall die Pflege nur durch zwei Personen verrichtet werden könne. Diese besonderen Umstände habe der Gutachter nicht ausreichend berücksichtigt. Im Übrigen ist auf die umfangreiche detaillierte Stellungnahme einschließlich eines ausführlichen Pflegeprotokolls der Klägerin vom 18.02.2000 verwiesen worden.

Unter Hinweis auf die Härtefallrichtlinien hat die Beklagte weiterhin die Auffassung vertreten, dass auf Grund sämtlicher von ihr eingeholten Gutachten feststehe, dass ein Härtefall nicht vorlege.

Nach Beiziehung von Befundberichten des Internisten Dr.N. hat das Gericht Beweis erhoben durch Einholung eines Sachverständigengutachtens von dem staatlich geprüften Krankenpfleger T. B ... Dieser ist in seinem Gutachten vom 15.10.2001 zusammengefasst zu dem Ergebnis gekommen, dass der Hilfebedarf in der Grundpflege bei 425 Minuten und bei der hauswirtschaftlichen Versorgung bei 30 Minuten wöchentlich im Tagesdurchschnitt liege. Zum nächtlichen Hilfebedarf hat der Sachverständige festgestellt, dass er grundsätzlich täglich mal geringer mal höher als zwei Stunden je nach psychischer Verfassung, Empfinden und Auswirkungen schwankender Nerven-Reiz-Leitungsstörungen und Gehirnaktivitäten liege. Die psycho-motorische Unruhe sei nachts nicht geringer. Es müsse von einem Pflegeaufwand ausgegangen werden, der im Durchschnitt nachts schon zwei Stunden oder auch mehr betragen könne. Beim Ehemann der Klägerin sei ein deutlich höherer Pflegeaufwand als der einer reinen Pflegestufe III erkennbar. Es entspreche dem in Frage kommenden Kriterium "Krankheitsbild: schwerste neurologische Defektsyndrome nach Schädel-Hirnverletzung." Hierbei würden die sieben Stunden täglich notwendiger Pflege und mindestens zwei Stunden pro Nacht anfallen. Auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Klägerin und Pflegeperson als äußerst starke belastbare Frau und Pflegeperson angesehen werden müsse, seien ihre Angaben glaubhaft und aus pflegerischer Sicht auch nachvollziehbar.

Dem Ergebnis des Gutachtens hat sich die Beklagte unter Hinweis auf eine Stellungnahme von Dr.K. L. der Firma M. vom 12.12.2001 nicht anzuschließen vermocht. Zusammenfassend ergebe sich, dass das Vorliegen des Härtefallskriteriums in Form eines zwei Stunden betragenden nächtlichen Hilfebedarfs aus dem vorliegenden Gutachten und insbesondere aus der tabellarischen Auflistung des Hilfebedarfs in keiner Weise ersichtlich wäre. Abschließend weise Dr.L. darauf hin, dass laut der geltenden Begutachtungsrichtlinie die Frage des Vorliegens eines außergewöhnlichen Pflegeaufwands lediglich bei der Beantragung von Sachleistung, Kombinationsleistung oder vollstationärer Pflege zu prüfen sei. Laut des am 15.10.2001 erstellten Gutachtens erfolge die Pflege ausschließlich durch die private Pflegeperson sowie zusätzlich in Form einer Tagespflege.

Zur Stellungnahme von Dr.L. hat das Gericht eine ergänzende Stellungsnahme von Herrn B. eingeholt. Dieser hat am 30.03.2002 festgestellt, dass ein detaillierter Hilfebedarf nachts nicht darzustellen sei. Er erlaube sich den Hinweis auf § 45a Elftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XI) n.F., dass beim Ehemann der Klägerin ein erheblicher allgemeiner Betreuungsbedarf bestehen würde und die Klägerin ihren Beruf als Lehrerin aufgegeben hätte.

Die Beklagte hat weiterhin die Auffassung vertreten, dass weder das Gutachten vom 15.10.2001 noch die ergänzende Stellungnahme vom 30.03.2001 des gerichtlichen Sachverständigen sie nicht zu überzeugen vermögen. Dabei hat sie auf eine erneute Stellungnahme von Dr.L. vom 19.04.2002 verwiesen.

Im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem SG am 11.07.2002 ist von Klägerseite darauf hingewiesen worden, dass am 29.07. 1998 der entsprechende Antrag auf Höherstufung gestellt worden sei, der (damalige) Kläger seit dem 18.08.1998 Kombinations- leistungen beziehen würde und die (jetzige) Klägerin am 02.09. 1999 wiederholt einen telefonischen Antrag bei der Beklagten gestellt habe. Weiter sei der Ehemann der Klägerin für sieben Stunden am Tag mit Gesamtkosten von DM 2.200,00 monatlich teilstationär untergebracht. Die häusliche Pflege würde über einen M.-Hilfsdienst im Umfang von DM 1.548,00 gewährleistet. Der (ehemalige) Kläger müsse somit insgesamt DM 5.948,00 für die Sicherstellung seiner Pflege aufwenden. Seit April 2002 befände sich der Ehemann der Klägerin in Tagespflege. Für das Kalenderjahr 1998 habe er den Höchstsatz bis zum April 2002 in Höhe von DM 2.800,00 gemäß den Vertragsbedingungen der Beklagten ausgeschöpft.

Mit Urteil vom 11.07.2002 hat das SG die Beklagte verurteilt, dem (ehemaligen) Kläger ab dem 02.09.1999 vertragliche Leistungen der privaten Pflegepflichtversicherung nach Pflegestufe III - Härtefall - zu gewähren. Der gerichtliche Sachverständige Herr B. habe den (ehemaligen) Kläger auf Grund eines Hausbesuchs am 31.09.2001 begutachtet und habe am 15.10.2001 sein gerichtliches Sachverständigengutachten abgegeben. Er komme zu dem allein hier entscheidenden Ergebnis, dass die Voraussetzungen für einen Härtefall im Sinne von Nr.1 Tarif-PV mit Tarif- stufung PVN und PVB vorlägen. Hier läge ein außergewöhnlich höher Pflegeaufwand vor, der das übliche Maß der Pflegestufe III weit übersteige. Das Gericht wende entsprechend dem Urteil des 3. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 30.10.2001 B 1 P 2/01 R die Härtefall-Richtlinien weiter an. Danach habe der Sachverständige festgestellt, dass ein Hilfebedarf in der Körperpflege, der Ernährung oder Mobilität von mindestens sieben Stunden täglich vorliege. Die wenigstens zwei Stunden Hilfebedarf in der Nacht entsprechend Nr.4 Satz 3 Härtefall-Richtlinien seien ebenfalls gegeben. Der Gutachter habe überzeugend und in nachvollziehbarerer Weise dargestellt, dass der nächtliche Hilfebedarf grundsätzlich täglich bestehe, mal geringer, mal höher als zwei Stunden, je nach Verfassung des Ehemannes der Klägerin. Dies sei auch nachvollziehbar, da eine konkrete Zeiterhebung in der Nacht nur schwer vorzunehmen sei. Dazu müsste der Ehemann der Klägerin über eine längere Zeit vom Sachverständigen auch nachts beobachtet werden und über eine längere Zeit eine entsprechende Dokumentation der Zeiten erfolgen. Dies sei vom Gesetzgeber und auch von den Versicherungsbedingungen der Beklagten, die Bestandteil des Vertrages mit dem Ehemann der Klägerin geworden seien, so nicht gewollt. Dies ergebe sich insbesondere aus der beispielhaften Aufzählung von Krankheitsbildern, die einen außergewöhnlich hohen bzw. intensiven Pflegeaufwand zur Folge haben (Nr.4 Satz 5 Härtefall-Richtlinien). Der Ehemann der Klägerin habe am 30.07.1997 einen Herzinfarkt mit einem Herzstillstand erlitten, der sich in einem hypoxi- schen Hirnschaden niedergeschlagen habe. Dieser sei einem schweren neurologischen Defekt-Syndrom nach Schädel-Hirnverletzungen im Sinne von Nr.4 Satz 5 Härtefall-Richtlinien gleichzustellen. Aus dem Wort "insbesondere" in Nr.4 Satz 5 Härtefall-Richtlinien ergebe sich, dass der in den Härtefall-Richtlinien vorgenommene Katalog von Krankheitsbildern nicht abschließend sei. Der Ehemann der Klägerin sei deshalb mit seiner Erkrankung Nr.4 Satz 5 der Richtlinien gleichzustellen. Die Beklagte widersetze sich dem klägerischen Antrag durch zwei weitere medizinische Gutachten der Firma M. , erstellt durch Herrn Dr.L ... Dem sei entgegenzuhalten, dass zum einen das SG dem gerichtlichen Sachverständigen die erste Stellungnahme des Dr.L. zur ergänzenden Stellungnahme zugeleitet habe. Herr B. habe in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 30.03.2002 die Bedenken des Dr.L. ausräumen können. Es entspreche den Tatsachen, dass in den Begutachtungsrichtlinien vom 21.03. 1997, die auch hier Anwendung fänden, Angaben zum detaillierten nächtlichen Hilfebedarf explizit nicht vorgesehen seien. Weiter sei darauf hinzuweisen, dass entgegen der Auffassung der Beklagten das gerichtliche Sachverständigengutachten die Funktion eines Obergutachtens im Verhältnis zu den Feststellungen der M. habe. Dies habe für die Beklagte die Funktion, wie im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung der MDK oder SMD gemäß § 18 Abs.1 Satz 1 SGB XI. Diese seien lediglich richtungsweisend im Rahmen des Verwaltungsverfahrens bzw. einer Leistungsentscheidung der Beklagten nach den Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die private Pflegepflichtversicherung. Die Funktion eines gleichwertigen Gutachters zum gerichtlichen Sachverständigen komme den Feststellungen der Firma M. nicht zu. Das SG habe deshalb von einer weiteren Beweiserhebung gemäß § 106 Sozialgerichtsgesetz (SGG) abgesehen. Der Ehemann der Klägerin habe deshalb gegen die Beklagte vom Zeitpunkt der Antragstellung - 02.09.1999 - gemäß § 6 Abs.1 Satz 1 MB/PPV 1996 Anspruch auf vertragliche Leistungen nach Pflegestufe III - Härtefall -. Der Zeitpunkt der rechtzeitigen Antragstellung durch die Klägerin sei nicht bestritten.

Zur Begründung ihrer Berufung führt die Beklagte erneut aus, die Voraussetzungen für die Anerkennung eines Härtefalls hätten beim Ehemann der Klägerin nicht vorgelegen. Seine Körperpflege, Ernährung und Mobilität erfordere zwar über sieben Stunden täglich Hilfe, die davon geforderten zwei Stunden nächtlicher Hilfeleistung seien jedoch nicht erforderlich. Das nächtliche 2-malige Einlagewechseln beim Ehemann der Klägerin sei die einzige nächtliche Pflege, die erbracht worden sei. Für den nächtlichen Einlagenwechsel sei ein hoher Zeitaufwand auf Grund der Transferleistungen notwendig. Da der Einlagenwechsel nur auf dem Therapietisch erfolgen könne, müsse der Ehemann der Klägerin vom Bett in den Rollstuhl zum Therapietisch und nach Einlagenwechsel auf dem gleichen Weg zurück ins Bett gebracht werden. Insgesamt werde nach dem Obergutachten des Dr.F. damit je Einlagenwechsel ein Gesamtaufwand von 40 Minuten ermittelt, bei einem gesamten nächtlichen Hilfebedarf (zweimal) daher 80 Minuten. Die 2-Stunden-Grenze sei somit nicht erreicht. Außerdem sei die Grundpflege des Ehemannes der Klägerin auch des Nachts nicht von mehreren Pflegekräften zeitgleich gemeinsam, sondern von der Klägerin allein erbracht worden. Der Gerichtssachverständige Herr B. komme unzutreffenderweise zu dem Schluss, dass ein Härtefall vorliege. Auch unter Berücksichtigung eines zusätzlichen Zeitbedarfs für stattfindende Lagerungsmaßnahmen lasse sich die zeitliche Mindestanforderung von 120 Minuten nicht erreichen. Gleiches gelte auch für das pauschal angegebene nächtliche Anreichen von Flüssigkeit. Bei dem ebenfalls pauschal erwähnten nächtlichen Beruhigungsbedarf scheine es sich eher um Maßnahmen der psychosozialen Betreuung als der Grundpflege zu handeln. In dem Urteil des SG fehle es an einer nachvollziehbaren Begründung dafür, warum ein nächtlicher Hilfebedarf von zwei Stunden vorliegen solle. Der Hinweis des Gerichts, Angaben zum detaillierten nächtlichen Hilfebedarf seien in den Begutachtungs-Richtlinien explizit nicht vorgesehen, könne nicht überzeugen. In den Begutachtungs-Richtlinien heiße es nämlich, dass zur Annahme eines Härtefalls ein Hilfebedarf bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität von täglich mindestens sieben Stunden, davon wenigstens zwei Stunden bei Nacht, erforderlich sei. Es sei zu dokumentieren, wie hoch der durch die Grundpflege entstehende geschätzte Zeitaufwand sei. Daraus könne nur geschlossen werden, dass insbesondere zu dokumentieren sei, wie hoch der in der Nacht für die Grundpflege entstehende geschätzte Zeitaufwand sei.

Zum Vorbringen der Beklagten holte das Gericht eine ergänzende Stellungnahme von Herrn B. ein. Unter dem 04.03.2001 führte dieser aus, da man einen täglich anfallenden nächtlichen Pflegeaufwand nie hundertprozentig festlegen, bestimmen oder vorausschauen und sicher vorhersagen könne, seien Zeitkorridore festgelegt worden, in denen sich ein Gutachter bewegen könne. Grundlage für die "Findung" der richtigen Einstufung eines Pflegebedürftigen sei die Begutachtung vor Ort, den Diagnosen, den Angaben der pflegenden Angehörigen, den Angaben von institutionellen/professionellen Pflegekräften sowie des SGB XI, den Begutachtungsrichtlinien und den Härtefallregelungen. Im Falle des Ehemannes der Klägerin habe es sich um eine dreistündige Begutachtung gehandelt, da er eben besonders die Individualität des Pflegebedarfs, die Besonderheit und die Bedeutung der Erschwernisfaktoren habe herausstellen wollen, um angemessen und nachvollziehbar eine Beurteilung abgeben zu können. In den Härtefall-Richtlinien seien detaillierte Angaben zum nächtlichen Hilfebedarf explizit nicht vorgesehen. Nach dem heutigen Stand der Pflegewissenschaft und der gebotenen Pflegequalität ergebe sich ohne Zweifel ein nächtlicher Pflegeaufwand beim (ehemaligen) Klägers, basierend auf der Begutachtung vom 15.10.2001. Es sei auch zu erwähnen, dass beim Ehemann der Klägerin zwischenzeitlich mehrere Dekubiti vorgelegen hätten, welche wiederum eine weitere Erschwernis bei der Pflege darstellen würden.

Die Beklagte vermochte sich auch diesen Ausführungen von Herrn B. nicht anzuschließen und verwies auf eine weitere medizinische Stellungnahme von Dr.L. vom 21.03.2003, der sich Herr B. in einer weiteren ergänzenden Stellungnahme seinerseits nicht anzuschließen vermochte.

Die Beklagte beantragt sinngemäß, das Urteil des Sozialgerichts München vom 11.07.2002 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt, die Berufung zurückzuweisen.

Sie vertritt weiterhin die Auffassung, dass die von der Beklagten eingeholten medizinischen Gutachten bzw. Stellungnahmen nicht zutreffend seien. Vielmehr sei das Gutachten sowie die ergänzenden Stellungnahmen von Herrn B. überzeugend.

Zur Ergänzung des Tatbestandes wird im Übrigen auf den Inhalt der Verwaltungsunterlagen der Beklagten und der Verfahrensakten beider Rechtszüge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe:
Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 141, 151 SGG), ein Ausschließungsgrund (§ 144 Abs.1 SGG) liegt nicht vor.

In der Sache erweist sich das Rechtsmittel als unbegründet.

Zu Recht hat das SG München mit Urteil vom 11.07.2002 der Klage stattgegeben und die Beklagte verurteilt, dem (ehemaligen) Kläger ab dem 02.09.1999 vertragliche Leistungen der privaten Pflegepflichtversicherung nach Pflegestufe III - Härtefall - zu gewähren. Denn der Ehemann der Klägerin hatte einen Anspruch auf vertragliche Leistungen nach Pflegestufe III - Härtefall - gemäß §§ 1 und 4 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die private Pflegepflichtversicherung, Bedingungsteil MB/PPV 1996 in der Verbindung mit dem Tarif PV mit Tarifstufen PVN und PVB Nr.1 Satz 2.

Grundlage des Rechtsverhältnisses zwischen dem Ehemann der Klägerin und der Beklagten ist ein privatrechtlicher Versicherungsvertrag, den der Ehemann der Klägerin gemäß § 178a Abs.1 VVG abgeschlossen hat (§ 23 Abs.1 SGB XI und § 3 VVG). Die Allgemeinen Versicherungsbedingungen für die private Pflegeversicherung sind nach § 5a Abs.1 VVG wirksamer Bestandteil des Versicherungsvertrages geworden. Mit dem Abschluss des Versicherungsvertrages hat der Ehemann der Klägerin seine Rechtspflicht zum Abschluss eines privaten Pflegepflichtversicherungsvertrages nach § 23 Abs.1 und 2 SGB XI Genüge getan. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen (Vorliegen des Versicherungsverhältnisses, die vollständige Beitragszahlung und die Wartezeit) sind unstreitig vorliegend.

Nach § 23 Abs.6 SGB XI sind sowohl für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit als auch für die Zuordnung zu einer Pflegestufe dieselben Maßstäbe wie in der sozialen Pflegeversicherung anzulegen. Somit sind zur Auslegung der privatrechtlichen Vertragsbedingung (§ 5a Abs.1 VVG) insbesondere die §§ 36 Abs.4 und 43 Abs.3 SGB XI und die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts heranzuziehen.

Nach § 36 Abs.4 SGB XI können die Pflegekassen in besonders gelagerten Einzelfällen zur Vermeidung von Härten Pflegebedürftigen der Pflegestufe III weitere Pflegeeinsätze bis zu einem Gesamtwert von DM 3.750,00 monatlich gewähren, wenn ein außergewöhnlich hoher Pflegeaufwand vorliegt, der das übliche Maß der Pflegestufe III weit übersteigt, beispielsweise wenn im Endstadium von Krebserkrankungen regelmäßig mehrfach auch in der Nacht Hilfe geleistet werden muss.

Nach § 43 Abs.3 SGB XI können die Pflegekassen bei Pflegebedürftigen der Pflegestufe III über die Beträge nach Abs.2 Satz 1 hinaus in besonderen Ausnahmefällen zur Vermeidung von Härten die pflegebedingten Aufwendungen, die Aufwendungen der sozialen Betreuung sowie in der Zeit vom 01.07.1996 bis zum 31.12.2001 die Aufwendungen für Leistungen der medizinischen Behandlungspflege bis zu dem Gesamtbetrag von 3.300,00 DM monatlich übernehmen, wenn ein außergewöhnlich hoher und intensiver Pflegeaufwand erforderlich ist, der das übliche Maß der Pflegestufe III weit übersteigt, beispielsweise bei Apallikern, schwerer Demenz oder im Endstadium von Krebserkrankungen. Die Ausnahmeregelung des Absatzes 1 darf bei der einzelnen Pflegekasse für nicht mehr als 5 v.H. der bei ihr versicherten Pflegebedürftigen der Pflegestufe III, die stationäre Pflegeleistungen erhalten, Anwendung finden.

Zutreffend geht das SG davon aus, dass der Ehemann der Klägerin durch Inanspruchnahme von Diensten häuslicher Pflege im Sinne von Nr.1 der Tarifstufe PVN und PVB oder Kombinationsleistung zwischen dem Pflegegeld gemäß Nr.2 der Tarifstufe PVN und PVB für häusliche Pflege bezogen hat.

Wann ein außergewöhnlich hoher und intensiver Pflegeaufwand vorliegt, hat der Gesetzgeber selbst nicht geregelt. Er hat diesbezüglich auch nicht von der Verordnungsermächtigung des § 16 SGB XI Gebrauch gemacht. Diesbezüglich sind lediglich in Ausübung der Ermächtigung des § 17 Abs.1 Satz 3 SGB XI, wonach die Spitzenverbände der Pflegekassen unter Beteiligung des MDK der Spitzenverbände der Krankenkasse gemeinsam und einheitlich Richtlinien zur Anwendung der Härtefallregelungen des § 36 Abs.4 und des § 43 Abs.3 beschließen, Richtlinien zur Anwendung der Härtefallregelungen in der Fassung vom 03.07.1996 erlassen und vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung gemäß § 17 Abs.2 SGB XI mit Schreiben vom 15.07.1996 - Va 2-43371/1 - genehmigt wurden. Danach liegt ein außergewöhnlich hoher Pflegebedarf vor, wenn die Grundpflege für den Pflegebedürftigen auch des Nachts nur von mehreren Pflegekräften gemeinsam (zeitgleich) erbracht werden kann, oder Hilfe bei der Körperpflege, der Ernährung oder der Mobilität mindestens sieben Stunden täglich, davon wenigstens zwei Stunden in der Nacht erforderlich ist.

Diese Voraussetzungen sind nach den schlüssigen und überzeugenden Feststellungen des staatlich geprüften Krankenpflegers T. B. , Sozialmedizinischer Dienst der Bundesknappschaft, hier gegeben. Zwar wurde die Grundpflege des Nachts nicht von mehreren Pflegekräften gemeinsam erbracht, der Pflegeaufwand in der Nacht betrug aber wenigstens zwei Stunden.

Zutreffend hat der Sachverständige ausgeführt, dass für die Pflegeleistung des Ehemannes der Klägerin zwei Personen (an sich) erforderlich gewesen seien und dass es nur der hohen Belastbarkeit und Energie der Klägerin zu verdanken war, dass diese allein die nächtliche Pflege bewerkstelligen konnte. Darüber hinaus hat sich der Sachverständige anlässlich einer ausführlichen ambulanten Untersuchung des Ehemannes der Klägerin (drei Stunden) ein Bild vom tatsächlichen Gesundheitszustand des Klägers machen können. Der Gutachter hat dabei auch in nicht zu beanstandender Weise seinem Sachverständigengutachten das Pflegeprotokoll der Klägerin vom 18.02.2000 zu Grunde gelegt. Danach lag ein nächtlicher Hilfebedarf von insgesamt 190 Minuten vor (Waschen des Unterkörpers zweimal zehn Minuten, Darm- und Blasenentleerung zweimal zehn Minuten, An- und Auskleiden zweimal 25 Minuten, Transfers zweimal 25 Minuten, Getränkereichung dreimal 25 Minuten). Selbst wenn man den Bereich der Getränkereichung mit zweimal 25 Minuten als zu hoch einschätzt, so liegt dennoch ein nächtlicher Hilfebedarf über 120 Minuten vor. Überzeugend sind auch die Darlegungen von Herrn B. , dass der nächtliche Hilfebedarf durch das bei dem Ehemann der Klägerin vorliegende Krankheitsbild von schwersten neurologischen Defektsyndromen nach Schädel-Hirnverletzung bedingt war. Gerade weil dieses Krankheitsbild durch psycho-motorische Unruhe auch nachts bestimmt war, nahmen die einzelnen Hilfeleistungen längere Zeiträume in Anspruch.

Das Vorbringen der Beklagten ist nicht geeignet, Zweifel an der Richtigkeit der gutachterlichen Feststellungen von Herrn B. zu wecken. Die Beklagte stützt sich insoweit auf die medizinischen Ausführrungen von Dr.L. , die aber insgesamt nicht zu überzeugen vermögen. Denn mit seiner Beurteilung hat sich Herr B. sowohl im erstinstanzlichen Verfahren als auch im Berufungsverfahren überzeugend auseinander gesetzt.

Der Senat folgt im Übrigen den Ausführungen des SG in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils und sieht gemäß § 153 Abs.2 SGG von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab. Somit war die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG München vom 11.07.2002 zurückzuweisen.

Die Entscheidung konnte gemäß § 124 Abs.2 SGG ohne mündliche Verhandlung ergehen, da die Beteiligten dem zugestimmt haben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs.2 Nrn.1 und 2 SGG liegen nicht vor. 

Anmerkung RA Huscher:

Das Urteil des Bayerischen LSG zeigt einmal mehr, dass es durchaus sinnvoll ist, sich gegen ablehnende Entscheidungen der Pflegekassen vor dem Sozialgericht zur Wehr zu setzen, da selbst das Gesetz keineswegs nur starre Regelungen für scheinbar klare Beurteilungsfälle bereit hält.

Das Verfahren der Pflegebegutachtung  im einzelnen ist gerade für ältere Menschen im Regelfall schwer durchschaubar, so dass diese mit der sachlich-medizinsichen und erst recht juristischen Bewertung der Bescheide über die Anerkennung oder Nichtanerkennung regelmäßig überfordert sind.

Wir betreuen bundesweit Mandanten bzw. auch deren Verwandte und Pflegepersonen bei der Durchsetzung ihrer berechtigten Ansprüche gegen die Krankenkasse bzw. Pflegekasse.

Die Einordnung in die Pflegestufe durch den Gutachter bildet regelmäßig den Hauptstreitpunkt der Auseinandersetzung in der Pflegeversicherung. Durch unsere Erfahrung und Zusammenarbeit mit Gutachtern sind wir in der Lage, fachliche Fehler in den Pflegegutachten herauszuarbeiten, was in vielen Fällen zu einer Änderung der ursprünglichen Entscheidung im Widerspruchs- oder Klageverfahren führt.


Seite drucken