LG Hamburg: Basler Unfallversicherung zahlt nach Hinweis des LG Hamburg weitere 62.000 € über die vom Gutachter Dr. Christoph Visé zugestandene Summe, infolge Anwendung der sog. Gelenkrechtsprechung: „Arm im Schultergelenk“.
Hinweisbeschluss Landgericht Hamburg v. 29.06.2006, Az. 306 O 394/05
Unser Mandant unterhielt beim ehemaligen Deutschen Ring eine Unfallversicherung. Dem Versicherungsvertrag lagen die Allgemeinen Unfallversicherungsbedingungen der Beklagten (nachfolgend AUB) zugrunde.
Die Invaliditätsgrundsumme betrug 98.168,04 €; dem Versicherungsvertrag liegen auch die Besonderen Bedingungen für die Unfallversicherung mit progressiver Invaliditätsstaffel (300%) zugrunde. Diese Bedingungen erweitern § 8 II AUB wie folgt:
Im Invaliditätsfall werden der Berechnung der Entschädigung folgende Versicherungssummen zugrunde gelegt:
a) Für den 25% nicht übersteigenden Teil des Invaliditätsgrades die im Versicherungsschein festgelegte Invaliditätsfallsumme,
b) für den 25%, nicht aber 50% übersteigenden Teil des Invaliditätsgrades die dreifache Invaliditätsfallsumme,
c) für den 50% übersteigenden Teil des Invaliditätsgrades die vierfache Invaliditätsfallsumme.
Am 21.06.2002 stürzte die Versicherte bei einer Motorradfahrt und fiel auf ihre linke Köperseite; es wurde ein Oberarmkopftrümmerbruch links mit Fragmentverschiebung festgestellt. Es erfolgte eine Einrichtung und Osteosynthese des Bruches mit einer Platte am 25.06.2002 und eine operative Fragmententfernung am 16.07.2002.
Der Oberarmkopftrümmerbruch mit Fragmentverschiebung war adäquat kausal auf das Unfallereignis vom 21.06.2002 zurückzuführen.
Die Basler veranlasste eine Untersuchung der Versicherten durch Herrn Dr. med. Christoph Visé. Dieser stellte im Gutachten vom 08.05.2003 folgende dauerhaften unfallbedingten Beeinträchtigungen der Versicherten fest:
· erhebliche schmerzhafte Bewegungseinschränkung des linken Oberarms im Schultergelenk:
o Arm seit-/ körperwärts: 45-0-5
o Arm rück-/vorwärts: 10-0-50
o Arm aus-/einwärts bei anliegendem Oberarm: 0-20-90 (Versteifung bei 20°)
o Arm aus-/einwärts bei rechtwinklig abgespreiztem Oberarm: aufgehoben
· endgradige Bewegungseinschränkung des linken Ellenbogengelenks (Strecken/Beugen: 0-0-140)
· Beeinträchtigung der differenzierten Griffformen das linke Schultergelenk betreffend
· Verschmächtigung der schulterführenden Muskulatur und Herabsetzung ihrer Kraft
Weiterhin stellte Dr. Visé auf Seite 9 seines Gutachtens fest:
„Die funktionellen Verhältnisse sind zur Zeit nicht günstiger als bei einer Versteifung des Schultergelenks.“
Dennoch bewertete der Gutachter die Invalidität mit einem Armwert von lediglich 2/5.
Auf der Grundlage des Gutachtens von Herrn Dr. med. Christoph Visé, Poststraße 5, 40878 Ratingen, rechnete die Basler gegenüber mit Schreiben vom 21.08.2003 vorläufig ab und zahlte einen Vorschuss von insgesamt 36.715,21 €.
Mit Schreiben vom 21.08.2003 wies die Basler den Mandanten auch auf die Möglichkeit einer Nachbegutachtung hin, welche auch wahrgenommen wurde. Diese Nachbegutachtung führte wiederum Herr Dr. med. Visé durch. Dieser stellte in seinem Gutachten vom 30.04.2005 eine erhebliche Verschlechterung der dauerhaften unfallbedingten Beeinträchtigungen der Versicherten fest:
· erhebliche schmerzhafte Bewegungseinschränkung des linken Oberarms im Schultergelenk:
o Arm seit-/körperwärts: 60-25-0 (Versteifung bei 25°)
o Arm rück-/vorwärts: 10-0-50
o Arm aus-/ einwärts bei anliegendem Oberarm: 0-20-20 (Versteifung bei 20°)
o Arm aus-/einwärts bei rechtwinklig abgespreiztem Oberarm: aufgehoben
· voll ausgebildete Oberarmkopfnekrose
· endgradige Bewegungseinschränkung des linken Ellenbogengelenks (Strecken/Beugen: 0-0-130)
· erhebliche Beeinträchtigung der differenzierten Griffformen das linke Schultergelenk betreffend
· deutliche Abschwächung der groben Kraft der das linke Schultergelenk führenden Muskulatur
Weiterhin stellte der Arzt auf Seite 8 seines Gutachtens fest:
„Im Vergleich zur Voruntersuchung ist es bezüglich der Rotationsfähigkeit des Oberarmes zu einer völligen Versteifung gekommen.“
Dennoch bewertete der Gutachter die Invalidität mit einem Armwert von lediglich 1/2.
Schließlich rechnete die Basler gegenüber mit Schreiben vom 13.05.2005 endgültig einen Armwert von lediglich ½ ab und zahlte zuzüglich Treuebonus weitere 22.677,04 €, insgesamt 59.392,25 €. Eine von uns geltend gemachte unzutreffende Bewertung der Invalidität des linken Arms, wurde nicht akzeptiert mit der Begründung, der Gutachter habe nur eine teilweise Gebrauchsbeeinträchtigung des linken Armes der Versicherten in Höhe von ½ Armwert festgestellt.
Entgegen der Ansicht der Basler kommt es nicht auf die Funktionsbeeinträchtigung des linken Arms der Versicherten, sondern vielmehr auf die Funktionsbeeinträchtigung des linken Schultergelenks der Versicherten an. Es liegt eine Funktionsunfähigkeit des Armes im Schultergelenk nach § 8 II (2) a) iVm § 8 II (3) AUB vor. Daraus folgt, dass hier von einem Invaliditätsgrad von 70% (1/1 Armwert) und nicht von einem Invaliditätsgrad von 35% (1/2 Armwert) auszugehen ist.
Die Beklagte verkannte zunächst, dass es nach höchstrichterlicher Rechtsprechung für die Abrechnung nach der Gliedertaxe maßgeblich auf den Sitz der Verletzung (BGH VersR 1990, 964 / VersR 1991, 413 / VersR 2001, 360 / VersR 2003, 1163) ankommt. Der Sitz der Verletzung ist hier das Schultergelenk, die Versicherte erlitt einen Oberarmkopftrümmerbruch links mit Fragmentverschiebung.
Diese Verletzung hat zu schwersten Schädigungen und Funktionsbeeinträchtigungen der Versicherten im Schulter- und Armbereich geführt. Das linke Schultergelenk der Versicherten ist versteift. Ein versteiftes Schultergelenk ist funktionsunfähig.
Es kommt hier maßgeblich auf die Versteifung und die damit einhergehende Funktionsunfähigkeit der Schulter selbst und nicht auf die Funktions(un)fähigkeit des Armes ab der Schulter an. In den von der Beklagten verwendeten Versicherungsbedingungen heißt es unter § 8 II AUB:
(2) Als feste Invaliditätsgrade unter Ausschluss des Nachweises eines höheren oder geringeren Grades werden angenommen:
a) Bei Verlust
eines Armes im Schultergelenk 70 Prozent
eines Armes bis oberhalb des Ellenbogengelenks 65 Prozent
eines Armes unterhalb des Ellenbogengelenks 60 Prozent
einer Hand im Handgelenk 55 Prozent
eines Daumens 20 Prozent
...
(3) Die Vollständige Gebrauchsunfähigkeit eines Körperteils oder Sinnesorgans bemisst sich nach dem für den Verlust geltenden Satz.
Allgemeine Versicherungsbedingungen sind so auszulegen, wie ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer sei bei verständiger Würdigung, aufmerksamer Durchsicht und Berücksichtigung des erkennbaren Sinnzusammenhangs verstehen muss. Dabei kommt es auf die Verständnismöglichkeiten eines Versicherungsnehmers ohne versicherungs-rechtliche Spezialkenntnisse und damit – auch – auf seine Interessen an (BGH VersR 1993, 957).
Ein verständiger Versicherungsnehmer geht vom Wortlaut der jeweiligen Klausel aus. Der Wortlaut von § 8 II (2) a) ist mit der Formulierung „Arm im Schultergelenk“ objektiv mehrdeutig. Einerseits lässt die Formulierung die Auslegung zu, es komme maßgeblich auf die Funktionsunfähigkeit des gesamten Armes ab dem Schultergelenk an. Für diese Auslegung spricht die Wortwahl: „Verlust/Funktionsunfähigkeit eines Armes ...“ und der Aufbau der Gliedertaxe. Es werden abgestuft Grenzbereiche angegeben, bis zu denen bzw. von wo ab die Funktionsunfähigkeit vorliegen muss. Danach muss gerade der Arm ab dem Schultergelenk funktionsunfähig sein.
Andererseits lässt die Formulierung „Arm im Schultergelenk“ die Auslegung zu, es komme allein auf die Funktionsunfähigkeit der Schulter an, eine Funktionsunfähigkeit des Armes selbst muss nicht vorliegen. Dafür spricht die Wortwahl: „Verlust/Funktionsunfähigkeit ... im Schultergelenk“. Es heißt auch nicht „Arm ab dem Schultergelenk“, so dass ein Grenzbereich, bis zu dem bzw. ab dem die Funktionsunfähigkeit vorliegen muss, nach dem Wortlaut nicht gemeint sein kann. Die Wortwahl „im“ spricht vielmehr für eine Lokalisierung der Funktionsunfähigkeit des Schultergelenks selbst.
Diese objektive Mehrdeutigkeit der von der Beklagten verwendeten Klausel ist durch Auslegung nicht auflösbar. Nach der Unklarheitenregel des § 305 c II BGB ist daher die für den Versicherungsnehmer günstigere zweite Auslegungsmöglichkeit maßgeblich, bei der allein auf die Funktionsunfähigkeit des Schultergelenks selbst abgestellt wird.
Dies ist durch den BGH bereits für die Formulierung in den AUB „Verlust/Funktionsunfähigkeit einer Hand im Handgelenk“ (BGH VersR 2003, 1163) entschieden worden. Nichts anderes kann insoweit für die entsprechende Formulierung „Verlust/Funktionsunfähigkeit eines Armes im Schultergelenk“ gelten.
Mit Beschluss v. 29.06.2006 gab das LG Hamburg folgenden Hinweis:
"Die Wortwahl „Arm im Schultergelenk“ kann zu dem Verständnis führen, dass auf die Gebrauchsfähigkeit des Gelenks selbst und nicht auf die Gebrauchsfähigkeit des Gliedes des Arms abzustellen ist. Da Auslegungszweifel zu Lasten des Verwenders gehen, ist von dieser für den Kläger günstigeren Auslegung auszugehen."
Die Basler Versicherung hatte den von ihr beauftragten orthopädischen Gutachter Dr. Christoph Visé, Poststraße 5, 40878 Ratingen mit dieser Rechtsfrage nicht befasst, es aber auch unterlassen, den Auftrag an den Gutachter entsprechend zu formulieren. Das "schiefe" Ergebnis war insofern bereits vorgezeichnet!
Nach dem richterlichen Hinweis erklärte sich die Basler zur Abrechnung nach einem Invaliditätsgrad nach Gliedertaxe i.H.v. 4/5 Armwert, d.h. zur Zahlung von weiteren 62.0000,00 € bereit.