Newsdetail

OLG Brandenburg Volle Haftung der Versicherung für HWS-Schleudertrauma trotz körperlichen Vorschadens!

Für die Mitwirkung einer sog. degenerativen Vorschädigung bleibt allein der Versicherer beweispflichtig.

OLG Brandenburg:  Entscheidung vom 11.11.2010

Die Klägerin hatte bei einem  Verkehrsunfall eine HWS-Beschleunigungsverletzung (Schleudertrauma) davongetragen.

Der von der Vorinstanz beauftragte Sachverständige war davon ausgegangen, dass es infolge des Unfalls zu einer Verschlechterung der bei der Klägerin bereits vorhandenen altersbedingten Vorschädigung der Halswirbelsäule und zu einem Bandscheibenprolaps gekommen ist. Anders als vom Landgericht angenommen, ist die Frage, ob der bei der Klägerin festgestellte Bandscheibenprolaps auf den Unfall zurückzuführen ist, nach dem Beweismaß des § 287 ZPO zu beurteilen. Zwar ist der Nachweis der haftungsbegründenden Kausalität bei Personenschäden nach den strengen Anforderungen des Vollbeweises gem. § 286 ZPO zu führen, während die Frage der haftungsausfüllenden Kausalität nach Maßgabe des § 287 ZPO zu prüfen ist. Steht eine Primärverletzung fest, ist es gerechtfertigt, hinsichtlich der Feststellung der Schadensfolgen auf das Beweismaß des § 287 ZPO zu verweisen. Im Rahmen der Beweiswürdigung nach § 287 ZPO werden geringere Anforderungen an die Überzeugungsbildung des Gerichts gestellt; es genügt je nach Lage des Einzelfalles eine höhere oder deutlich höhere Wahrscheinlichkeit für die Überzeugungsbildung. Dabei ist es dem Gericht nicht verwehrt, im Wege des Ausschlusses anderer Ursachen zu der Feststellung zu gelangen, dass als einzig realistische Ursache für die Beschwerden der Unfall in Betracht kommt.

Im vorliegenden Fall steht der Eintritt einer HWS-Beschleunigungsverletzung bei der Klägerin als Primärverletzung fest, so dass für die Frage, ob der bei der Klägerin festgestellte Bandscheibenvorfall ebenfalls Folge des Verkehrsunfalls ist, sich nach dem Maßstab des § 287 ZPO richtet. Danach ist hier der Beweis einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit der Verursachung durch den Unfall nach dem Ergebnis des eingeholten Sachverständigengutachtens geführt. Der Sachverständige hat festgestellt, dass es ausweislich des MRT-Befundes bei der Klägerin zu einer Verstärkung der Instabilität infolge einer Segmentverschiebung im Bereich C4/5 und zu einer rechtslateral betonten Bandscheibenprotrusion mit dem Übergang zu einem kleinen rechtslateralen Bandscheibenprolaps im Bereich C5/6 gekommen ist, wodurch die von der Klägerin nach dem Unfall behaupteten Beschwerden plausibel zu erklären sind. Zwar waren bei der Klägerin degenerative Bandscheibenveränderungen im Bereich der Wirbel C5/6 bereits vor dem Unfall vorhanden. Der Sachverständige hat bei dem Vergleich der MRT-Befunde und der Röntgenbilder vor und nach dem Unfall jedoch im Bereich der Wirbel C5/6 eine Verstärkung des Befundes durch Übergang in einen rechtslateralen Prolaps festgestellt, der als ursächlich für die von der Klägerin geschilderten Beschwerden angesehen werden kann. Nach der von dem Sachverständigen ebenfalls als glaubhaft angesehenen Schilderung der Klägerin bestehen die geschilderten Beschwerden in dieser Intensität erst unmittelbar seit dem Unfall. Eine andere Möglichkeit als Auslöser der Beschwerden als der Unfall ist im vorliegenden Fall nicht ersichtlich.

Dass bei der Klägerin bereits degenerative Vorschädigungen der Halswirbelsäule vorlagen, entlastet den Beklagten nicht. Nach ständiger Rechtsprechung kann sich der Schädiger nicht darauf berufen, dass der Schaden nur deshalb eingetreten sei oder ein besonderes Ausmaß erlangt habe, weil der Verletzte infolge bereits vorhandener Beeinträchtigungen und Vorschäden besonders schadensanfällig gewesen sei. Wer einen gesundheitlich schon geschwächten Menschen verletzt, kann nicht verlangen, so gestellt zu werden, als wenn der Betroffene gesund gewesen wäre. Dementsprechend ist die volle Haftung auch dann zu bejahen, wenn der Schaden auf einem Zusammenwirken körperlicher Vorschäden und den Unfallverletzungen beruht, ohne dass die Vorschäden „richtunggebend“ verstärkt werden. Anhaltspunkte dafür, dass die von der Klägerin geschilderten Beschwerden in diesem Ausmaß auch ohne den Unfall eingetreten wären, wofür der Beklagte die Darlegungs- und Beweislast trägt, liegen nicht vor.

Anmerkung Dr. Büchner

Bereits im Jahr 2003 hatte der Bundesgerichtshof entschieden, dass es bei der Bewertung eines HWS-Schleudertraumas keine sog. Harmlosigkeitsgrenze gibt. Bis dahin galt es in der Abrechnungspraxis als „gesichert“ dass unterhalb einer Geschwindigkeitsänderung von 11 km/h ein HWS-Schleudertrauma nicht auftreten kann. Der Bundesgerichtshof stellte fest, dass auch der Umstand, dass sich der Unfall mit einer eher geringen kollisionsbedingten Geschwindigkeitsänderung ereignet hat, seine Ursächlichkeit für das Entstehen eines Schleudertraumas nicht ausschließt.

Diese Auffassung des höchsten deutschen Zivilgerichts wird z.T. von privaten Gutachterinstituten, die mehrheitlich im Auftrag der Versicherungswirtschaft arbeiten, vehement bestritten, wobei eine Auseinandersetzung mit den juristischen Argumenten nicht stattfindet. Wortführend ist hier das sog. „Orthopädische Forschungsinstitut“ (OFI), welches regelmäßig entsprechende Publikationen veröffentlicht, deren Ergebnisse eine angeblich eindeutige wissenschaftliche Faktenlage suggerieren, welche in der Sache aber nicht existiert. Im Ergebnis greifen Versicherungsunternehmen  natürlich gern auf die Erkenntnisse derartiger Institute zurück. Auf der anderen Seite werden Gutachten des „Orthopädischen Forschungsinstituts“ (hier insb. von Prof. Castro) z.T. von Gerichten wegen ihrer eindeutig versicherungsfreundlichen Tendenz grundsätzlich abgelehnt und nicht in die Beweiswürdigung einbezogen.

Darüber hinaus ist der – leider auch in der Rechtsprechung raumgreifende - Trend nicht zu übersehen, dass die Befunde der behandelnden Ärzte als rein subjektiv, von den Aussagen des Patienten geprägt und daher als nicht maßgebend angesehen werden. Dieser Auffassung hat das OLG Brandenburg bereits in einer Entscheidung v. 15.01.2004 widersprochen und festgehalten, dass der hausärztlichen Diagnose eines HWS-Schleudertraumas durchaus ein gewisser Beweiswert zukomme, wenn das Unfallopfer vorher beschwerdefrei war und die Diagnose unverzüglich nach dem Unfall gestellt worden ist.

Schließlich sind bereits vor dem Unfall vorhandene – ggf. degenerative - Schädigungen des Unfallopfers immer wieder Gegenstand der Auseinandersetzungen, wie auch im vorliegenden Fall. Der BGH hatte bereits in einer Entscheidung vom 05.11.1996 darauf hingewiesen, dass auch bei vorgeschädigten Unfallopfern dann eine Kürzung des Schmerzensgeldes nicht in Betracht kommt, wenn diese vor dem Unfall bereits längere Zeit beschwerdefrei waren. Wenn das OLG Brandenburg letztendlich im „Fahrwasser“ dieser Entscheidung, ist dem voll und ganz zuzustimmen.

Die Entscheidung bestätigt aber auch einmal mehr, wie wichtig es ist, sich bereits unmittelbar nach dem Unfall juristisch kompetent beraten zu lassen. Inwieweit der Nachweis eines Schleudertraumas im Nachhinein, ggf. auch vor Gericht, geführt werden kann, hängt u.a. ganz wesentlich davon ab, welche medizinische Befundlage nach dem Unfall gesichert wird. Ob diese hinreichend anzusehen ist, kann nicht allein der Arzt entscheiden, sondern nur der medizinisch und versicherungsrechtlich geschulte Fachanwalt!


Seite drucken