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SG Berlin Kostenübernahme für eine Mammareduktionsplastik wegen Gigantomastie der weiblichen Brüste

SG Berlin, Urteil vom 4. Juli 2023 – S 122 KR 1852/21

 

Führen regelmäßig wiederkehrende entzündliche Hautveränderungen, hervorgerufen durch eine Gigontomastie der weiblichen Brüste bei der Versicherten zu einer ständigen Hautreizung mit Pilzbefall und erweist sich diese Erkrankung dauerhaft als therapieresistent, so hat die Versicherte als ultima ratio Anspruch auf Kostenübernahme für eine Mammareduktionsplastik gegenüber der Krankenkasse nach § 27 Abs. 1 SGB 5, wenn die konservativen Behandlungsmethoden erschöpft sind.

In einem solchen Fall ist die operative Brustverkleinerung medizinisch notwendig.

Tenor

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 21. September 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07. Oktober 2021 verurteilt, der Klägerin eine Mammareduktionsplastik unter stationären Bedingungen als Sachleistung zu gewähren.
Die Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Kostenübernahme für eine Mamareduktionsplastik.

Die Klägerin, geb. 1956, unterzog sich im September 2019 einer Magenbypass-OP und reduzierte ihr Körpergewicht bei einer Größe von 170 cm von 156 kg auf aktuell 108 kg.

Am 24. August 2020 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Kostenübernahme für eine Mamareduktionsplastik. Sie schilderte, dass sich ihre Lebensqualität nach der Gewichtsabnahme verbessert habe, allerdings die großen hängenden Brüste zu Beeinträchtigungen führen würden. Sie beschrieb, dass trotz täglicher und ausgiebiger Pflege es nicht möglich sei, eine Geruchsbildung zu verhindern. Es entstehe immer wieder ein feuchtes Milieu unterhalb der Brust.

Sie kämpfe täglich gegen Hautentzündungen an. Bedingt durch das Gewicht der Brüste würden deutliche BH Trägerfurchen und Druckstellen entstehen. Sie nehme wahr, dass die Brüste Schmerzen im Brust-, Rücken-, und Nackenbereich verursachen und auch ihren Schlaf beeinträchtigen würden. Beigefügt war dem Antrag die ärztliche Stellungnahme des plastischen Chirurgen M. der S.-Klinik vom 18. Juni 2020. Aufgezeigt wurde eine ausgeprägte Makromastie mit intertriginösem Exzem und starken Schmerzen im HWS und BWS Bereich. Zudem war beigefügt ein ärztliches Attest der Dermatologin R. vom 11. August 2020. Sie legte dar, dass sich die Klägerin seit 2014 bei ihr in regelmäßiger Behandlung mit rezidivierendem Intertrigo submammär befände. Die Klägerin leide unter Juckreiz, Brennen, nässenden und schmerzenden Erosionen, zum Teil begleitet durch Fötor. Bisher habe eine Linderung durch Clotrimazolhaltige Externa verschafft werden können, jedoch ohne langfristigen Erfolg. Vorbeugende Maßnahmen, wie z.B. das Trockenhalten / - legen submammär, seien aufgrund der Anatomie nach Ansicht von Frau Dr. R. zwecklos.

Nach Vorlage einer Fotodokumentation erstellte der Medizinische Dienst (MD) am 16. September 2020 ein Gutachten nach Aktenlage. Festgestellt wurde eine Ptosis mammae III. Grades. Eine Krankheit im Sinnes des SGB V läge nicht vor. BH-Trägerschurfwunden seien belegt. Der MD empfahl Stütz-BH mit überbreiten gepolsterten Trägern bzw. Gel Pads, eine orthopädische Mitbehandlung und eine weitere Gewichtsreduktion, da bei einer OP ein erhöhtes Risiko für die Klägerin aufgrund des Gewichtes bestünde.

Die Beklagte lehnte den Antrag auf Kostenübernahme aufgrund der MD Stellungnahme durch Bescheid vom 21. September 2020 ab.

In ihrem Widerspruch hiergegen führte die Klägerin aus, dass der plastische Chirurg durchaus eine Indikation für die begehrte OP sah und sie entlastende BHs in der Vergangenheit bereits erfolglos erprobt habe.

Im Widerspruchsverfahren reichte die Klägerin ein ärztliches Attest des behandelnden Orthopäden P. vom 07. Dezember 2020 ein, der aus orthopädischer Sicht eine Mammareduktion empfahl, da mit konservativen Behandlungsmaßnahmen das Schmerzsyndrom nicht ausreichend kausal behandelt werden könne. Dieser Empfehlung schloss sich auch die Physiotherapiepraxis G. an.

Es erfolgte eine erneute Vorlage an den MD, dieser gelangte in seinem Gutachten nach

Aktenlage am 17. Februar 2021 zu dem Ergebnis, dass die Mammareduktionsplastik medizinisch nicht zwingend notwendig sei. Eine intertriginöse Hautentzündung sei anhand der Fotodokumentation belegt. Allein das rezidivierende Auftreten intertriginöser Entzündungen begründe die Durchführung einer Mammareduktionsplastik in der Hochrisikosituation aufgrund des Gewichtes Klägerin nicht.

Die Klägerin reichte sodann ein Attest des Internisten Dr. Z. bei der Beklagten ein, worin er bekundete, dass die Klägerin mit einer Körbchengröße von 110 G unter rezidivierenden submammären Pilzinfektionen der Haut und Rückenschmerzen leide.

Es erfolgte eine erneute Vorlage an den MD, dieser erklärte nach Aktenlage in seinem Gutachten vom 28. April 2021, dass die Klägerin unter einer krankheitswertigen Makromastie leide, aufgrund der Adipositas III. Grades jedoch eine Mammareduktionsplastik aktuell nicht die vorrangige Therapie sei, sondern eine Gewichtsreduktion von ca. 30 kg angestrebt werden sollte. Der Befund sei prinzipiell operationswürdig, da die Makromastie und die Ptosis ausgeprägt seien, die erschlafften und hängenden Brüste würden bis zu den Beckenkämmen herabreichen.

Mit Widerspruchsbescheid vom 07. Oktober 2021 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück und führte aus, dass der Befund grundsätzlich operationswürdig sei, jedoch zunächst eine Gewichtsreduktion auf einen BMI kleiner/gleich 30 kg/m² angestrebt werden sollte.

Hiergegen hat die Klägerin am 08. November 2021 Klage bei dem Sozialgericht Berlin erhoben.

Der Prozessbevollmächtigte der Klägerin meint, die bariatrische OP sei erfolgreich gewesen, der BMI habe erheblich auf einen BMI von 34 kg/m² reduziert werden können. Die Klägerin meint, sie leide unter Schmerzen im HWS und Schulterbereich sowie Rückenschmerzen. Die regelmäßige Physiotherapie sei angenehm, dass Gefühl halte über die reine Therapiezeit hinaus nicht an. Die Haut unterhalb der Brust müsse täglich gepflegt und mit Clotrimazol. behandelt werden, sie sei regelmäßig in dermatologischer Behandlung.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 21. September 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07. Oktober 2021 zu verurteilen, der Klägerin eine Mammareduktionsplastik unter stationären Bedingungen als Sachleistung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte verweist auf ihre Ausführungen im Widerspruchsbescheid.

Das Gericht hat Befundberichte eingeholt. Auf den internistischen Befundbericht vom 06. Januar 2022, den orthopädischen Befundbericht vom 10. Januar 2022 und den dermatologischen Befundbericht vom 30. März 2022 wird Bezug genommen. Frau Dr. R. hat aus dermatologischer Sicht insbesondere ausgeführt, dass ein rezidivierendes Wundreiben im Unterbrustbereich mit nachfolgender Besiedlung von Hefepilz feststellbar sei. Durch eine Verkleinerung der Brüste könne die Auflagefläche zwischen Brust und Bauch verringert werden und eine Verringerung des Wundreibens und Infektion mit Pilz eintreten.

Das Gericht hat ein orthopädisches Gutachten von Frau Dr. T. eingeholt. Die Begutachtung ist nach Untersuchung der Klägerin am 19. September 2022 erfolgt. Die Gutachterin hat eine deutliche Ptosis der Brust festgestellt und ein Gewicht der Brust rechts von 3,2 kg und links von 3,3 kg ermittelt. Das Körpergewicht der Klägerin am Tag der Begutachtung habe 108,3 kg betragen. Zudem hat die Gutachterin festgestellt, dass die Haut unterhalb der Brust fleckig und z.T. konfluierend gerötet sei. Offene Hautläsionen mit Flüssigkeitsabsonderung hat die Gutachterin nicht festgestellt, hingegen eine leicht bräunliche Hyperpigmentierung unter der Brust, die für einen chronisch rezidivierenden Verlauf spreche. Zudem ist ein breiter Hautkontakt der Brust zum Brustkorb und Bauch festgestellt worden.

Hinsichtlich der HWS und LWS Beschwerden hat die Gutachterin dargelegt, dass es wissenschaftlich keine allgemein anerkannten Studien gebe, die für einen Ursachenzusammenhang zwischen großer / schwerer Brust und einem Sehnenverschleiß an der Schulter sprechen würden. Die attestierte Therapieresistenz durch den Orthopäden könne nicht nachvollzogen werden. Eine weiterführende Diagnostik für die BWS sei erforderlich. Eine OP-Indikation könne nicht einfach auf Schmerzen gestützt werden. Das Brustgewicht mache 6 Prozent des Gesamtkörpergewichtes der Klägerin aus. Eine weitere Körpergewichtsreduktion von ca. 30 Kg (Normalgewicht/ Idealgewicht) wäre eine deutlich bessere Entlastung des Halte- und Bewegungsapparates als eine operative Brustverkleinerung. Die Bauchmuskulatur sei unzureichend ausgebildet, Krankengymnastik und Physiotherapie könnten der Linderung der orthopädischen Beschwerden dienen. Die Mammareduktionsplastik sei keine geeignete Therapie zur Behandlung von rezidivierenden muskulären Verspannungen an der Wirbelsäule bzw. von nicht spezifischen Kreuz- und Nackenschmerzen. Die Gutachterin hat eine Fotodokumentation angefertigt.

Hinsichtlich der weiteren Sach- und Rechtslage wird auf die Gerichtsakten sowie die Verwaltungsakte der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren und dem Gericht bei seiner Entscheidung vorlagen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage gemäß § 54 Abs.1 und Abs. 2 Sozialgerichtsgesetzt (SGG) zulässig und begründet.

Der Bescheid vom 21. September 2020 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07. Oktober 2021 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat einen Sachleistungsanspruch auf eine beidseitige Mammareduktionsplastik unter stationären Bedingungen.

Nach § 27 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) haben Versicherte Anspruch auf Krankenbehandlung, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Krankheit im Sinne dieser Norm ist ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder - zugleich oder ausschließlich - Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat. Krankheitswert im Rechtssinne kommt nicht jeder körperlichen Unregelmäßigkeit zu. Erforderlich ist vielmehr, dass Versicherte in ihren Körperfunktionen beeinträchtigt sind oder dass sie an einer Abweichung vom Regelfall leiden, die entstellend wirkt (vgl. BSG, Urteil v. 28.02.2008 - B 1 KR 19/07 R - juris).

Eine entstellende Wirkung hat die Kammer nach Würdigung der Fotodokumentationen vom entkleideten Oberkörper der Klägerin und nach Inaugenscheinnahme der Klägerin im bekleideten Zustand in der mündlichen Verhandlung nicht festgestellt.

Um eine behandlungsbedürftige Entstellung annehmen zu können, genügt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts, der sich die Kammer nach eigener Prüfung anschließt, nicht jede körperliche Abnormität. Vielmehr muss es sich objektiv um eine erhebliche Auffälligkeit handeln, die naheliegende Reaktionen der Mitmenschen wie Neugier oder Betroffenheit hervorruft und damit zugleich erwarten lässt, dass der Betroffene ständig viele Blicke auf sich zieht, zum Objekt besonderer Beachtung wird und sich deshalb aus dem Leben in der Gemeinschaft zurückzuziehen und zu vereinsamen droht, so dass die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft gefährdet ist. Um eine Auffälligkeit eines solchen Ausmaßes zu erreichen, muss eine beachtliche Erheblichkeitsschwelle überschritten sein: Es genügt nicht allein ein markantes Gesicht oder generell die ungewöhnliche Ausgestaltung von Organen, etwa die Ausbildung eines sechsten Fingers an einer Hand. Vielmehr muss die körperliche Auffälligkeit in einer solchen Ausprägung vorhanden sein, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi „im Vorbeigehen“ bemerkbar macht und regelmäßig zur Fixierung des Interesses anderer auf den Betroffenen führt. Dies gilt gerade auch vor dem Hintergrund, dass die Rechtsordnung im Interesse der Eingliederung behinderter Menschen fordert, dass Nichtbehinderte ihre Wahrnehmung von Behinderung korrigieren müssen (Bundessozialgericht, Urteil vom 08. März 2016 – B 1 KR 35/15 R, juris RdNr 14). Ausgehend vom objektiven Krankheitsbegriff kommt es für die Bewertung der Entstellung nicht auf eine subjektive oder persönliche Einschätzung der Betroffenen an. Die Feststellung, dass im Einzelfall Versicherte wegen einer körperlichen Abnormität entstellt sind, ist anhand eines objektiven Maßstabes zu beurteilen und in erster Linie Tatfrage.

Bislang wurde in der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts danach allein darauf abgestellt, dass die körperliche Auffälligkeit in einer solchen Ausprägung vorhanden sein muss, dass sie sich schon bei flüchtiger Begegnung in alltäglichen Situationen quasi "im Vorbeigehen" bemerkbar macht. Die Rechtsprechung hat als Beispiele für eine Entstellung das Fehlen natürlichen Kopfhaares bei einer Frau, eine Wangenatrophie oder Narben im Lippenbereich angenommen oder erörtert. Dagegen hat das Bundessozialgericht bei der Fehlanlage eines Hodens eine Entstellung nicht einmal für erörterungswürdig angesehen und eine Entstellung bei fehlender oder wenig ausgeprägter Brustanlage sowie bei Asymmetrie der Brüste unter Berücksichtigung der außerordentlichen Vielfalt in Form und Größe der weiblichen Brust revisionsrechtlich abgelehnt. In diesem Zusammenhang hat das Bundessozialgericht ausdrücklich auch nicht beanstandet, die Verneinung der entstellenden Wirkung einer Asymmetrie der Brüste entscheidend darauf zu stützen, dass sich diese im Alltag durch vorhandene Prothesen, die auch unter einem Badeanzug getragen werden können, verdecken lässt. Hieran hat das Bundessozialgericht auch später im Grundsatz festgehalten, aber seine Rechtsprechung fortentwickelt (vgl hierzu im Einzelnen: Bundessozialgericht, Urteil vom 10. März 2022 – B 1 KR 3/21 R, juris RdNr 18). Danach kann eine Entstellung in eng begrenzten Ausnahmefällen auch an üblicherweise von Kleidung bedeckten Körperstellen möglich sein.

Da die gesellschaftliche Teilhabe ganz überwiegend im bekleideten Zustand erfolgt, ist die Erheblichkeitsschwelle jedoch bei Auffälligkeiten im Gesichtsbereich deutlich eher überschritten, als an sonstigen, regelmäßig durch Kleidungsstücke verdeckten Bereichen des Körpers. In diesen Bereichen müssen die Auffälligkeiten deshalb besonders schwerwiegend sein. Erforderlich ist, dass selbst die Offenbarung im privaten Bereich die Teilhabe, etwa im Rahmen der Sexualität, nahezu ausschließen würde. Hierbei ist nicht das subjektive Empfinden der Betroffenen maßgeblich, sondern allein die objektiv zu erwartende Reaktion. Die Auffälligkeit muss evident abstoßend wirken. Diese Erheblichkeitsschwelle wird bei der Klägerin aufgrund des Erscheinungsbildes der Brüste nicht erreicht.

Eine unmittelbare Funktionseinschränkung der Brust liegt nach den Feststellungen der Kammer ebenfalls nicht vor. Die Klägerin berichtete zwar, dass sie nach den Geburten ihrer Kinder keinen Milcheinschuss hatte und die Brust sich vergrößerte, eine Krankheitsursache wurde hierfür jedoch nie festgestellt. Fortlaufende Mammographien waren nach Auskunft der Klägerin unauffällig.

Auch allein die Brustgröße und die festgestellte erhebliche beidseitige Ptosis, stellt keine Krankheit dar. Die orthopädische Gutachterin Dr. T hat bei der Klägerin rechts ein Brustgewicht von 3,2 kg und links von 3,3 kg ermittelt.

Damit liegt bei der Klägerin eine Gigantomastie vor. Nach der wissenschaftlichen Literatur entspricht ein einseitiges Brustgewicht bei einer mitteleuropäischen Frau ab 30 g bis ca. 400 g der Normvarianz. Ein Mehrgewicht bis 600 g wird als moderate Hypertrophie interpretiert. Darüber hinausgehende Brustvergrößerungen bis zu 1,5 kg je Brust werden als Makromastie bezeichnet. Bei noch höherem Brustgewicht spricht man von einer Gigantomastie (Prof. C. Carstens, Dr. F. Schröter Die Mammareduktionsplastik – orthopädische Aspekte MedSach 2/2015 S.76).

Eine Mammahypertrophie als solche hat jedoch keinen behandlungsbedürftigen Krankheitswert (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 14. Januar 2011 - L 1 KR 197/08, juris Rn. 28, 14 sowie Urteil vom 01.03.2022 - L 26 KR 227/19, juris Rn. 39; LSG Schleswig-Holstein, Urteil vom 25. März 2010 - L 5 KR 118/08, juris Rn. 26; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 23. Februar 2010 - L 11 KR 4761/09, juris Rn. 27, LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 17. September 2013 - L 1 KR 625/11, juris Rn. 19 f.).

Soweit es hier darum geht, mittelbar durch die Mammareduktionsplastik andere Funktionsbeeinträchtigung zu beeinflussen, kann eine solche mittelbare Therapie grundsätzlich vom Leistungsanspruch umfasst sein (vgl. BSG, Urteil vom 19.2.2003 - B 1 KR 1/02 R, juris). Da durch die begehrte Operation dabei jedoch in ein funktionell intaktes Organ eingegriffen und dieses regelwidrig verändert wird, bedarf diese mittelbare Behandlung einer speziellen Rechtfertigung, wobei die Art und Schwere der Erkrankung, die Dringlichkeit der Intervention, die Risiken und der zu erwartende Nutzen der Therapie sowie etwaige Folgekosten für die Krankenversicherung gegeneinander abzuwägen sind (BSG, Urteil vom 19.2.2003 - B 1 KR 1/02 R, LSG Schleswig-Holst., Urteil vom 25.3.2010 - L 5 KR 118/08). Deshalb darf eine chirurgische Behandlung in Form der Brustverkleinerung nur die ultima ratio sein, zumal ein operativer Eingriff stets mit einem erheblichen Risiko (Narkose, Operationsfolgen wie z.B. Entzündungen, Thrombose bzw. Lungenembolie, operationsspezifische Komplikationen) verbunden ist. Eine Bewilligung wäre daher nur dann vertretbar, wenn mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit feststünde, dass die Maßnahme tatsächlich auch den gewünschten Behandlungserfolg bringt.

Diese Voraussetzungen liegen im Fall der Klägerin hier vor.

Die Versorgung der Klägerin mit einer stationär durchzuführenden, beidseitigen Mammareduktionsplastik ist nach umfassender Würdigung der medizinischen Ermittlungsergebnisse zur Linderung der langjährig bestehenden dermatologischen Gesundheitsbeeinträchtigungen im Sinne des § 27 Abs. 1 Satz 1 SGB V notwendig.

Nach den vorliegenden medizinischen Unterlagen unter Einbeziehung der Ausführungen der orthopädischen Gutachterin sowie den glaubhaften Schilderungen der Klägerin, ist die Klägerin in ihren Körperfunktionen wesentlich beeinträchtigt. Es bestehen regelmäßig wiederkehrende entzündliche Hautveränderungen im Bereich der großflächigen Auflageflächen und Hautumschlagsfalten unter beiden Brüsten, die auch bei sorgfältigster Hautpflege nicht zu vermeiden sind und stetig wiederkehrender dermatologischer Behandlung bedürfen. Zu beachten war dabei insbesondere die Größe des stetigen Haut-auf-Haut-Kontaktes. Die Gutachterin bestätigte eine Hautauflagefläche der Brust zum Brustkorb und Bauch. Der Fotodokumentation konnte die Kammer entnehmen, dass die Brüste der Klägerin bis über die Höhe des Bauchnabels hängen und in dieser Fläche am Oberkörper aufliegen. Der MD sprach sogar von einem Hängen der Brüste bis zu den Beckenkämmen.

Diese permanente Auflagefläche führt nachvollziehbar zu einer ständigen Hautreizung mit Pilzbefall. Die behandelnde Dermatologin Dr. R. hat im Befundbericht ausgeführt, dass sie bei der Klägerin über ein rezidivierendes Wundreiben im Unterbrustbereich mit nachfolgender Besiedlung von Hefepilz berichten kann. Im ärztlichen Attest vom 11. August 2020 legte die Dermatologin dar, dass sich die Klägerin seit 2014 bei ihr in regelmäßiger Behandlung mit rezidivierendem Intertrigo submammär befindet. Die Klägerin leidet mithin mindestens seit 9 Jahren unter Juckreiz, Brennen, nässenden und schmerzenden Erosionen, zum Teil begleitet durch Fötor hierunter ist die von der Klägerin glaubhaft beschriebene Geruchsbildung zu verstehen. Eine Linderung der Beschwerden konnte durch clotrimazolhaltige Salbe verschafft werden, jedoch ohne langfristigen Erfolg. Vorbeugende Maßnahmen, wie z.B. das Trockenhalten / Trockenlegen unterhalb der Brust sind anatomisch nach Ansicht der Dermatologin zwecklos und nach Überzeugung der Kammer weder praktikabel noch zumutbar.

Die Klägerin berichtete in der mündlichen Verhandlung, dass sie Küchentücher und Mullbinden unter die Brust legt und teilweise Babypuder zur Trocknung aufträgt.

Die Kammer gewann den Eindruck, dass die Klägerin durch tägliches Duschen, tägliche Hautpflege und das tägliche Verwenden der clotrimazolhaltigen Salbe alles tut, um die gereizte Haut zu behandeln. Trotz dieses täglichen Aufwandes ergeben sich ständig Hautentzündungen. Für die Kammer war nachvollziehbar, dass sich diese nicht vermeiden lassen, denn die Haut liegt großflächig auf dem Brust- und Bauchraum auf. Auch ein spezieller Stütz-BH vermag schon aus physikalischen Gründen die Auflagefläche von Brüsten mit jeweils über 3 kg pro Seite nicht zu verringern.

Der dermatologische Befund wurde durch die orthopädische Gutachterin ebenfalls dokumentiert. Sie konnte im Zeitpunkt der Untersuchung zwar keine Geruchsbildung und keine offen Hautlässionen mit Flüssigkeitsabsonderungen feststellen, aber dokumentierte, dass die Haut unterhalb der Brust fleckig und z.T. konfluierend gerötet war. Die zudem ebenfalls festgestellte leicht bräunliche Hyperpigmentierung unter der Brust ist ein Zeichen für einen chronisch rezidivierenden Verlauf.

Hierbei handelt sich um mittelbare Funktionsbeeinträchtigungen, d.h. die Funktionsbeeinträch-tigung geht zwar von den Brüsten aus, betrifft aber die Haut.

Diese dermatologische Erkrankung ist grundsätzlich mit den Mitteln dieser Fachrichtung zu behandeln. Nur wenn mit diesen Mitteln kein dauerhafter Erfolg erzielt werden kann, ist im Anschluss zu prüfen, ob als ultima ratio ein operativer Eingriff notwendig ist. Eine operative Entfernung aus dermatologischen Gründen kommt nur in Betracht, wenn durch den Hautüberschuss bzw. wie hier durch die Hautauflagefläche ständige Hautreizungen wie Pilzbefall, Sekretionen oder entzündliche Veränderungen auftreten, die sich als dauerhaft therapieresistent erweisen (Bayrisches LSG Urteil vom 04.12.2018, L 20 KR 406/18, juris Rn. 64 m.w.N.).

Aus Sicht der Kammer waren die konservativen Behandlungsmethoden zur Behandlung der Haut erschöpft. Die Kammer ist der Auffassung, dass die permanente Notwendigkeit des Aufbringens einer Antipilzsalbe und die regelmäßige dermatologische Fachbehandlung auf Dauer unzumutbar sind. Auch die Verwendung anderer Salben könnte die Ursache der Hauterkrankung nicht beheben, denn diese liegt in dem großflächigen Haut-auf-Haut-Kontakt.

Die Auflagefläche und Belüftung der Haut kann nur durch eine chirurgische Mammareduktion erreicht werden.

Die behandelnde Dermatologin Dr. R. bestätigte in dem Befundbericht, dass durch eine Verkleinerung der Brüste die Auflagefläche zwischen Brust und Bauch verringert werden und eine Verringerung des Wundreibens sowie die Infektion mit einem Pilz erreicht werden kann.

Die letzte MD-Stellungnahme vom 28. April 2021 steht diesen Feststellungen auch nicht entgegen. Letztlich hat auch der MD einen grundsätzlich operationswürdigen Befund bei der Klägerin gesehen, dies jedoch nicht konkret an dem Krankheitsbegriff begründet.

Inwieweit über die dermatologische Funktionseinschränkung auch eine orthopädische Funktionseinschränkung vorliegt, konnte die Kammer offenlassen, obgleich die Kammer Zweifel an der Feststellung der orthopädischen Gutachterin hatte, dass es wissenschaftlich keine allgemein anerkannten Studien gebe, die für einen Ursachenzusammenhang zwischen großer / schwerer Brust und einem Sehnenverschleiß an der Schulter sprechen würden. Die Kammer kann, aufgrund des hier in diesem Einzelfall vorliegenden erheblichen ständigen Zuggewichtes von beidseitig ca. je 3 kg, durchaus die von der Klägerin geschilderten Schmerzen im HWS und Schulterbereich nachvollziehen. Prof. Carstens und Dr. Schröter haben sich in ihrem Aufsatz (Die Mammareduktionsplastik – orthopädische Aspekte, MedSach 2/2015 S.77, 78) unter konkreter Benennung von Studien zusammenfassend so geäußert, dass keine Rede davon sein kann, dass keinerlei prospektive randomisierte Studien mit entsprechender Fallzahl und Validität vorliegen würden, die einen Zusammenhang zwischen Brustgewicht und geklagten Beschwerden beweisen würden.

Dafür, dass die Schmerzen in einem Zusammenhang mit dem Brustgewicht der Kläger stehen könnten, spricht aus Sicht der Kammer jedenfalls die typische Beschreibung der Klägerin, dass die Physiotherapie durchaus angenehm ist, die Entlastungswirkung jedoch nie über die eigentliche Therapiezeit hinaus andauerte. Dies ist insoweit nachvollziehbar, als dass durch die Physiotherapie die Durchblutung der Muskulatur während der therapeutischen Einwirkung verbessert wird, nach der Therapie jedoch die gleichförmige Mehrbelastung der betroffenen Muskelgruppen durch die Zugkraft der Brüste erneut einsetzt. Soweit die Gutachterin feststellte, dass die Bauchmuskulatur der Klägerin unzureichend ausgebildet ist und Krankengymnastik und Physiotherapie zu einer Linderung der orthopädischen Beschwerden dienen könnten, vermochte die Kammer sich nicht hinreichend vorzustellen, wie die Klägerin effektive Übungen zur Stärkung der Bauchmuskulatur mit einer Gewichtsbelastung von beidseitig 3kg durch die stark hängenden Brüste durchführen kann

Letztlich konnte die Kammer die Beurteilung der orthopädischen Beeinträchtigungen und den etwaigen Zusammenhang mit der Gigantomastie offenlassen.

Die alleinige dermatologische Funktionseinschränkung ist zur Begründung des Sachleistungsanspruchs ausreichend, weitere medizinische Ermittlungen waren nicht geboten.

Die operative Brustverkleinerung ist auch medizinisch notwendig. Durch die beantragte Operation können die entzündlichen Hautveränderungen durch die Reduzierung der Auflageflächen und Umschlagfalten gebessert werden, so dass insgesamt eine kausale und wahrscheinlich dauerhafte Behebung der Störung erzielt werden kann. Durch konservative Behandlungsmethoden kann dies nicht erreicht werden.

Soweit der MD meint, vor der Durchführung der Brustverkleinerungs-OP sei eine weitere Gewichtsreduktion der Klägerin erforderlich, um das Operationsrisiko zu senken, folgt die Kammer diesen Bedenken nicht.

Die bariatrische OP der Klägerin war erfolgreich, die Klägerin hat einen maximalen Gewichtsverlust bei einer Körpergröße von 170 cm von ursprünglich 156 kg auf derzeit 108 kg erreicht.

Die Mammareduktionsplastik kann nicht verweigert werden, weil die 1956 geborene Klägerin aktuell kein Idealgewicht erreicht hat. Auch bei einer weiteren Gewichtsreduktion würde der breite Haut-zu-Haut-Kontakt durch die hängenden Brüste vorhanden bleiben.

Die Beurteilung des Operationsrisikos obliegt dem Operateur im Zeitpunkt vor der Durchführung der Operation. Der plastische Chirurg M. sah bereits bei einem Körpergewicht von 117 kg keine Kontraindikation für die Durchführung der OP. Die Klägerin legte zudem in der mündlichen Verhandlung eine aktuelle Verordnung zur Krankenhausbehandlung durch Herrn P. zwecks Durchführung einer Mammareduktionsplastik vom 21. Juni 2023 vor.

Mithin sah auch der behandelnde Arzt P.

keine entgegenstehenden Gründe zur Durchführung der Operation.

Aus den genannten Gründen war der Klage zu entsprechen.

Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 SGG und folgt dem Ausgang des Rechtsstreits in der Hauptsache.
 


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