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BGH: zur Leistungskürzung der Invaliditätsabrechnung bei Mitwirkung von Krankheiten und Gebrechen (Vorschaden)

BGH, Urteil vom 15.12.1999 (IV ZR 264/98)

Die Klägerin nahm die Beklagte (Private Unfallversicherung) auf Leistungen aus einer Unfallversicherung in Anspruch (Invaliditätsentschädigung nach einer Versicherungssumme von

158.000 DM, Krankenhaustagegeld und Genesungsgeld für je elf Tage in Höhe von 81 DM pro Tag). Dem Vertrag lagen die AUB 61, zzgl. progressive Invaliditätsstaffel zugrunde. Nach dieser berechnete sich die Invaliditätsentschädigung bei einem 25 %, nicht aber 50 % übersteigenden Invaliditätsgrad nach der doppelten Versicherungssumme.

Am 5. 5. 1993 prallte die Kl. beim Squashspielen mit der rechten Schulter und dem Kopf gegen die Wand. Dadurch kam es zu einer Bandscheibenruptur im Bereich der Halswirbelsäule und als Folge davon zu einer dauernden Gebrauchsbeeinträchtigung des ganzen linken Arms von 50 %. Daraus ergab sich nach der Gliedertaxe des § 8 II Nr. 2 a AUB 61 ein Invaliditätsgrad von 35 %. Ihren Beruf als Masseurin gab die Kl. auf. Die Parteien stritten jetzt noch darum, in welchem Umfang eine degenerative Vorschädigung der Halswirbelsäule bei der Höhe der geltend gemachten Ansprüche zu berücksichtigen sei. Die Bekl. meinte, bei der Invaliditätsentschädigung sei nach § 10 Nr. 4 AUB 61 eine Vorinvalidität von 10 % abzuziehen. Die deshalb nach einem Invaliditätsgrad von 25 % zu bemessende Entschädigung und die übrigen Leistungen seien nach § 10 Nr. 1 AUB 61 um einen auf die Vorschädigung entfallenden Mitwirkungsanteil von einem Drittel zu kürzen.

Das LG hat der Klage teilweise stattgegeben. Die mit einer Klageerhöhung auf 104 482 DM verbundene Berufung der Kl. hat Erfolg gehabt. Die mit dem Ziel der Klagabweisung eingelegte Berufung der Bekl. ist zurückgewiesen worden. Mit der Revision erstrebte die Bekl. die Abweisung der Klage, soweit sie zur Zahlung von mehr als 27 521,33 DM nebst Zinsen verurteilt worden war.

Die Revision der Bekl. führte im beantragten Umfang zur Aufhebung und Zurückverweisung.

Aus den Gründen:

Das Berufungsgericht hat von der zugrunde gelegten Gesamtinvalidität keinen Abzug wegen Vorinvalidität nach § 10 Nr. 4 AUB 61 und keine Kürzung der Leistungen nach § 10 Nr. 1 AUB 61 vorgenommen. Beides wird von der Revision zu Recht beanstandet. Außerdem hat das Berufungsgericht die progressive Invaliditätsstaffel falsch angewendet.

1. Nach den bisherigen Feststellungen kann ein Abzug wegen Vorinvalidität nach § 10 Nr. 4 AUB 61 nicht verneint werden.

a) Das Berufungsgericht, das keinen Beweis erhoben hat, hat sich nicht hinreichend mit den im Verfahren vor dem LG erstatteten Gutachten der Sachverständigen Dr. L. auseinandergesetzt. Diese kommt in ihrem schriftlichen Gutachten vom August 1997 zu dem Ergebnis, bei der Kl. habe vor dem Unfall aufgrund einer degenerativen Schädigung der Halswirbelsäule eine dauerhafte Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 10 % vorgelegen. In der mündlichen Verhandlung hat sie ausgeführt, die Gebrauchsfähigkeit des linken Arms bis zum Schultergelenk sei zur Hälfte beeinträchtigt, woraus sich nach der Gliedertaxe ein Invaliditätsgrad von 35 % ergebe. Ein Drittel davon sei als Vorschädigung anzurechnen. Insgesamt sei eine MdE von 30 % anzunehmen, wovon 10 Prozentpunkte auf die Vorschädigung entfielen. Auf diese Feststellungen der Sachverständigen ist das Berufungsgericht bei den Ausführungen zu § 10 Nr. 4 AUB 61 nicht eingegangen.

b) Eine abschließende Beurteilung dieser Frage ist erst nach weiterer Sachaufklärung möglich. Die Äußerungen der Sachverständigen zur Gesamtinvalidität von 30 % und der Vorinvalidität sind widersprüchlich, zumindest unklar. Ihnen ist nicht zu entnehmen, ob die MdE von 30 % den Dauerschaden am linken Arm einschließt. Das wäre nicht richtig. Die Gebrauchsbeeinträchtigung des Arms zu 50 % ist nach der Gliedertaxe gem. § 8 II Nr. 2 und 3 AUB 61 zu bemessen und ergibt allein schon einen Invaliditätsgrad von 35 %. Dem wäre eine daneben bestehende dauernde Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit (§ 8 II Nr. 5 AUB 61 und nicht, wie im Beweisbeschluss des LG und dem Gutachten offenbar zugrunde gelegt, der normalen Leistungsfähigkeit i. S. v. § 7 I Nr. 2 c AUB 88) durch chronische Schmerzen im Bereich der Halswirbelsäule und des Kopfes hinzuzurechnen (vgl. zur Ermittlung der Invaliditätsentschädigung in einem solchen Fall BGH vom 17. 10. 1990 - IV ZR 178/89 - VersR 1991, 57 unter 3).

Die Sachverständige hat solche Beeinträchtigungen ersichtlich in ihre Beurteilung einbezogen. Allerdings wird nicht deutlich, ob allein diese eine MdE von 30 % ergeben und ob sich die Vorinvalidität nur darauf bezieht. Dass auch die Gebrauchsfähigkeit des linken Arms vor dem Unfall dauerhaft eingeschränkt war, lässt sich den Ausführungen der Sachverständigen nicht hinreichend entnehmen. Im schriftlichen Gutachten sind solche Einschränkungen nicht beschrieben. Im mündlichen Gutachten ist zwar von einer Vorschädigung des linken Arms von einem Drittel die Rede. Aus dem Zusammenhang mit dem schriftlichen Gutachten ergibt sich aber, dass damit gemeint sein soll, die degenerative Vorschädigung der Halswirbelsäule habe bei der nach dem Unfall eingetretenen hälftigen Gebrauchsunfähigkeit des linken Arms zu einem Drittel mitgewirkt. Wie dies zu beurteilen wäre, ist nicht in § 10 Nr. 4, sondern in § 10 Nr. 1 AUB 61 geregelt.

Wenn sich nicht feststellen lässt, dass die Gebrauchsfähigkeit des linken Arms vor dem Unfall dauerhaft eingeschränkt war, ist ein Abzug nach § 10 Nr. 4 AUB 61 nicht möglich. Denn die Kl. stützt ihren Anspruch nur auf die nach der Gliedertaxe zu bemessende teilweise Gebrauchsunfähigkeit des linken Arms und nicht auf sonstige Beeinträchtigungen der Arbeitsfähigkeit aufgrund der unfallbedingten Schädigung der Halswirbelsäule.

2. Auch eine Kürzung der Leistungen gem. § 10 Nr. 1 AUB 61 kommt in Betracht. Nach dieser Bestimmung ist, wenn bei den Unfallfolgen Krankheiten oder Gebrechen mitgewirkt haben, die Leistung entsprechend dem Anteil der Krankheit oder des Gebrechens zu kürzen, sofern dieser Anteil mindestens 25 % beträgt.

a) Das Berufungsgericht hat eine Kürzung abgelehnt, weil der von ihm angenommene Mitwirkungsanteil von einem Drittel die Grenze von 25 % nicht erreiche. Ausgehend von dem in der Gliedertaxe für den Verlust eines ganzen Arms enthaltene Invaliditätsgrad von 70 % ergebe die Mitwirkung von einem Drittel nur 23,33 %. Noch deutlicher werde die Grenzunterschreitung in Bezug auf den begutachteten Invaliditätsgrad von 35 %.

b) aa) Dies beruht auf einem fehlerhaften Verständnis der Regelung des § 10 Nr. 1 AUB 61. Danach kommt es nicht auf eine prozentuale Minderung des nach § 8 II Nr. 2 bis 5 AUB 61 denkbaren oder des tatsächlich vorhandenen Invaliditätsgrades an. Ausgangspunkt ist vielmehr die Versicherungsleistung, die nach Abzug einer etwaigen Vorinvalidität gem. § 10 Nr. 4 AUB 61 dem festgestellten Invaliditätsgrad entspricht. Bei Vereinbarung einer progressiven Invaliditätsstaffel ist die Leistung dementsprechend zu bemessen. Die so ermittelte Leistung ist um den Anteil zu kürzen, der auf mitwirkende Krankheiten oder Gebrechen entfällt (vgl. dazu OLG Saarbrücken VersR 1998, 836 unter 2 b).

bb) Nach den Ausführungen der Sachverständigen ist die teilweise Gebrauchsunfähigkeit des linken Arms auf zwei Ursachen zurückzuführen, auf das Unfallereignis und die das normale Maß übersteigende wesentliche degenerative Vorschädigung der Halswirbelsäule. Nur durch das Zusammenwirken beider Umstände sei es zu der Bandscheibenruptur und der dadurch verursachten dauernden Gebrauchsbeeinträchtigung des Arms gekommen.

Daraus entnimmt die Kl., die Vorschädigung habe nicht oder nur zu einem geringen Teil bei der Invalidität als Unfallfolge mitgewirkt, sondern - jedenfalls in erster Linie - bei der Unfallverletzung selbst. Diese falle nicht unter den Begriff der Unfallfolgen i. S. v. § 10 Nr. 1 AUB 61.

cc) Die Kl. kann sich für ihre Auffassung auf Grimm berufen (Unfallversicherung 1. Aufl. § 10 Rdn. 1 bis 7, anders wohl 2. Aufl. § 8 Rdn. 5 und 6). Er hat in der ersten Auflage die Ansicht vertreten, eine Kürzung sei ausgeschlossen, wenn bei einem Unfall eine Krankheit oder ein Gebrechen die Gesundheitsschädigung im Sinne der Unfalldefinition des § 2 Nr. 1 AUB 61 ermöglicht oder verstärkt habe. Die übrige Literatur und die Rechtsprechung der OLG zählen zu den Unfallfolgen auch die Gesundheitsschädigung im Sinne des Unfallbegriffs, also die Unfallereignisfolge (u. a. Wussow/Pürckhauer, AUB 5. Aufl. § 10 Anm. 1 und 2, 6. Aufl. § 8 Rdn. 11; Knappmann in Prölss/Martin, VVG 26. Aufl. § 8 AUB 88 Rdn. 1 und 2; OLG Saarbrücken VersR 1998, 836 vor 1 und unter 2 b; OLG Düsseldorf VersR 1997, 174 unter 5; OLG Schleswig VersR 1995, 825 unter 2; OLG Braunschweig VersR 1995, 823).

Der BGH hat bisher nur entschieden, dass eine Mitwirkung von Krankheiten und Gebrechen beim Unfallereignis selbst nach § 10 Nr. 1 AUB 61 außer Betracht bleibt (Senat vom 7. 6. 1989 - IV a ZR 137/88 - VersR 1989, 902). Ob dies auch für die Gesundheitsschädigung im Sinne des Unfallbegriffs gilt, hat er in diesem Urteil und den Urteilen vom 19. 12. 1990 (IV ZR 255/89 - NJW-RR 1991, 539), vom 23. 11. 1988 (IV a ZR 38/88 - VersR 1989, 73) und vom 19. 4. 1972 (IV ZR 50/71 - VersR 1972, 582) nicht entschieden.

dd) § 10 Nr. 1 AUB 61 ist dahin gehend auszulegen, dass eine Leistungskürzung auch insoweit vorzunehmen ist, als Krankheiten und Gebrechen bei der Gesundheitsschädigung i. S. v. § 2 Nr. 1 AUB 61 mitgewirkt haben. Schon die (erste) Gesundheitsschädigung ist eine Unfallfolge i. S. v. § 10 Nr. 1 AUB 61.

Der durchschnittliche VN, auf dessen Verständnis es bei der Auslegung von AVB ankommt (BGHZ 123, 83 [85] = VersR 1993, 957 [958]), wird bei natürlicher Betrachtung zu den Unfallfolgen alle Verletzungen seines Körpers und alle weiteren Gesundheitsschäden rechnen, die durch das Unfallereignis herbeigeführt worden sind. Ihm ist wohl geläufig, dass es Unfallfolgen unterschiedlicher Art gibt, etwa vorübergehende und dauernde Folgen, sofort und erst später eintretende Folgen. Dass die durch das Unfallereignis sofort bewirkte erste Beeinträchtigung seiner körperlichen Unversehrtheit keine Unfallfolge sein soll, wird ihm mit Recht lebensfremd und gekünstelt erscheinen, insbesondere dann, wenn das Unfallereignis sogleich zu einem Dauerschaden (z. B. dem Verlust eines Körpergliedes) führt.

Dem entspricht es, dass der durch § 1 AUB 61 gewährte Versicherungsschutz gegen die Folgen von Unfällen nach allgemeiner Auffassung die (erste) Gesundheitsschädigung mit umfasst. So kommt es für die Leistungspflicht wegen Invalidität nach § 8 II AUB 61, die einen dauernden Gesundheitsschaden voraussetzt (BGHZ 130, 171 [177 f.], insoweit in VersR 1995, 1179 nicht abgedr.), darauf an, ob dieser Gesundheitsschaden Folge des Unfallereignisses ist (vgl. BGH vom 8. 7. 1981 - IV a ZR 192/80 - VersR 1981, 1151 unter II 1; vom 4. 4. 1984 - IV a ZR 17/83 - VersR 1984, 576 unter I und vom 6. 11. 1996 - IV ZR 215/95 - VersR 1997, 442 unter II; Wussow/Pürckhauer aaO 5. Aufl. § 2 Anm. 4 a. E.; Wagner in Bruck/Möller/Wagner, VVG 8. Aufl. Bd. VI 1 G 7, 65, 309; Knappmann aaO § 7 AUB 88 Rdn. 2; Grimm aaO 1. Aufl. § 8 Rdn. 19 und 2. Aufl. § 7 Rdn. 10 und 11). Dann ist es nahe liegend, unter Unfallfolgen i. S. v. § 10 Nr. 1 AUB 61 ebenfalls die Folgen des Unfallereignisses zu verstehen.

Aus § 2 Nr. 1 AUB 61 kann nicht entnommen werden, dass die (erste) Gesundheitsschädigung keine Unfallfolge sein soll. Diese Bestimmung hat nicht die Funktion, die durch das Unfallereignis verursachten gesundheitlichen Beeinträchtigungen im Hinblick auf das Leistungsversprechen nach §§ 1, 8 AUB 61 und seine Einschränkung nach § 10 AUB 61 in eine erste Gesundheitsschädigung und weitere, danach eintretende Gesundheitsschäden aufzuspalten. Der Begriff der Gesundheitsschädigung dient vielmehr nur der Definition des Versicherungsfalls (vgl. BGH vom 23. 9. 1992 - IV ZR 157/91 - VersR 1992, 1503 unter 1). Darauf weist auch die Überschrift "Unfallbegriff und Grenzfälle" von § 2 AUB 61 hin.

ee) Die Leistungskürzung nach § 10 Nr. 1 AUB 61 ist entsprechend dem Mitwirkungsanteil der Vorschädigung bei allen von der Kl. geltend gemachten Leistungen vorzunehmen (vgl. Knappmann aaO § 8 AUB 88 Rdn. 1; Wussow/Pürckhauer aaO 5. Aufl. § 10 Anm. 1).

3. Bei der Ermittlung der Invaliditätsentschädigung für den 25 % übersteigenden Invaliditätsgrad von 10 % hat das Berufungsgericht nicht nur, wie es in der progressiven Invaliditätsstaffel vorgesehen ist, die doppelte Invaliditätsfallsumme zugrunde gelegt, sondern auch den Invaliditätsgrad auf 20 % verdoppelt. Das führt zu einer nicht gerechtfertigten Vervierfachung der Leistung. Die entsprechende Berechnung der Kl. im Berufungsverfahren war nicht schlüssig, sodass es einer Beanstandung durch die Bekl. nicht bedurfte.

Anmerkung Dr. Büchner:

Das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) beschäftigt sich mit der Frage der sog. Mitwirkung von Vorschäden am Unfallereignis. Regelmäßig wird das Argument der Vorschädigung von Versicherungen eingewandt, wenn es darum geht, den Invaliditätsgrad nach dem Unfall nach unten zu korrigieren.

Bei den Vorschäden kann es sich zum einen um sog. degenerative Vorschädigungen oder aber um Schäden durch bereits stattgehabte vorherige Unfallereignisse bzw. sonstige krankhafte Prozesse handeln. Bei den degenerativen Vorschädigungen ist zu beachten, dass diese – solange sie altersentsprechend sind – bei der Invaliditätsbemessung zu keinerlei Abzügen führen dürfen. Lediglich wenn der Vorschaden als über altersentsprechend, d.h. krankhaft  oder auch pathologisch anzusehen ist, kann er als Mitwirkung anzurechnen sein, je nachdem, was in den Bedingungswerken dazu geregelt ist. Aber auch in diesem Fällen bleibt die Unfallversicherung voll beweispflichtig für den Vorschaden und dessen Anrechnung!

Die gängige Praxis in der Unfallregulierung ist allerdings eine andere. In aller Regel behauptet ein von der Versicherung mit der Invaliditätsbemessung beauftragter Gutachter einen Mitwirkungsanteil mehr oder weniger ins Blaue hinein, was dann zum Abzug in der Abrechnung und empfindlichen finanziellen Einbußen führt.

Derartige Abrechnungen – egal ob gutachterlich unterlegt oder nicht – sollten keinesfalls ungeprüft akzeptiert werden!


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