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OLG München: Bei Rotatorenmanschettenruptur mit Abriss einer langen Bizepssehne ( Glatteisunfall ) ist ein Schmerzensgeld von 23 500 Euro angemessen.

OLG München, Urteil vom 27.03.2003

1. Eine Firma, deren Tätigkeitsbereich u. a. die Durchführung von Winterdiensten wie Schneeräumen und Streuen umfasst, hat bei Eisregen zulässige Auftaumittel einzusetzen, sofern mit diesen eine wirkungsvolle Bekämpfung des Glatteises möglich ist.

2. Ein Fußgänger, der auf dem Weg von seinem Auto zu seinem Arbeitsplatz extreme Eisglätte festgestellt hat, muss sich auch dann ein Mitverschulden von einem Drittel anrechnen lassen, wenn er ohne zwingenden Grund zu seinem Auto zurückgeht und trotz vorsichtiger Gehweise stürzt.

3. Für eine äußerst schmerzhafte Rotatorenmanschettenruptur mit Abriss einer langen Bizepssehne des Schultergelenks, die trotz einer Operation zu einer starken Einschränkung der Kraft und der Motorik des verletzten Arms geführt hat, ist unter Berücksichtigung eines Mitverschuldensanteils von einem Drittel ein Schmerzensgeld von 23 500 Euro angemessen.

OLG München, Urteil vom 27.3.2003 (19 U 5318/02)

Tatbestand

Der Kl., ein gelernter Heizungsbauer, parkte am 23. 12. 1996 um 7.45 Uhr seinen Pkw auf einem Gewerbegrundstück in einem Vorort von München. Auf dem Weg von seinem Auto zur Betriebsstätte seines Arbeitgebers stellte er fest, dass es eisglatt war. Nachdem er sich im Büro gemeldet hatte, ging er ohne zwingenden Grund zu seinem Pkw zurück. Trotz vorsichtiger Gehweise stürzte er, wobei er sich eine äußerst schmerzhafte Rotatorenmanschettenruptur links sowie einen Abriss der langen Bizepssehne des linken Schultergelenks zuzog. Aufgrund dieser Verletzung sind die Kraft und die Motorik des linken Arms so eingeschränkt, dass der zum Unfallzeitpunkt fast 55 Jahre alte Kl. seinen erlernten Beruf aufgeben musste. Die Bekl., deren Tätigkeitsbereich u. a. die Durchführung von Winterdiensten umfasste, war zum Eigentümer des Gewerbegrundstücks beauftragt worden, die erforderlichen Räum- und Streudienste durchzuführen. In der Nacht vom 22. auf den 23. 12. 1996 betrugen die Temperaturen zwischen -1 °C und-4 °C. Die Bekl., die wusste, dass auf diesem Gewerbegrundstück mehrere Handwerksbetriebe ihren Sitz hatten, war untätig geblieben, da sie wegen des Eisregens eine Streuung für zwecklos gehalten hatte.

Das LG hat der Klage stattgegeben.

Die Berufung der Bekl. hatte teilweise Erfolg.

Aus den Gründen:

Dem Kl. ist ein Mitverschuldensanteil von einem Drittel anzulasten. Er hat gegen die Bekl. Schmerzensgeldansprüche aus § 823 Abs. 1 BGB i. V. m. § 847 Abs. 1 BGB a. F.

Die Bekl., die vom Grundstückseigentümer mit der Durchführung der Räum- und Streuarbeiten beauftragt war, hatte vor dem Unfall nicht gestreut. Trotz des Eisregens wäre ihr ein Streuen zumutbar gewesen, da sie durch den Einsatz von Streusalz das Gefrieren des Regens auf dem Boden hätte verhindern bzw. die bereits vorhandene Eisschicht hätte auftauen können.

Mithilfe von Streusalz kann der Gefrierpunkt auf -15 °C herabgesetzt werden (vgl. Meyers Enzyklopädisches Lexikon Stichwort "Auftaumittel"). Da der Einsatz von Streusalz selbst auf öffentlichem Verkehrsgrund zulässig ist, wenn dies aus Gründen der Verkehrssicherheit geboten ist (vgl. Art. 51 Abs. 1 S. 3 BayStrWG), wäre die Verwendung von Streusalz auch auf dem Privatgrundstück erlaubt gewesen. Durch den Gebrauch von Streusalz hätte sich der Unfall vermeiden lassen, da nach dem Gutachten des Deutschen Wetterdienstes die Temperaturen in der Nacht vom 22. auf den 23. 12. 1996 zwischen-1 °C und -4 °C betragen haben. Die Mitarbeiter der Bekl. hätten das vorgenannte Grundstück anfahren können, da es auch dem Kl. gelungen ist, dieses mit seinem Auto zu erreichen. Die Bekl. hätte spätestens um 6.00 Uhr ihrer vertraglich übernommenen Streupflicht nachkommen müssen, da auf dem vorgenannten Grundstück Handwerksbetriebe - u. a. die frühere Arbeitgeberin des Kl. - ihre Betriebsstätten hatten, bei denen der Arbeitstag spätestens um 7.00 Uhr beginnt.

Im Gegensatz zum LG ist der Senat jedoch der Auffassung, dass dem Kl. gem. § 254 Abs. 1 BGB ein Mitverschulden anzulasten ist. Der Kl. war zwar verpflichtet, seinen Arbeitsplatz aufzusuchen, was - wie oben festgestellt worden ist - möglich war. Ihm ist aber der Vorwurf zu machen, dass er nach dem sicheren Erreichen des Betriebsgeländes seiner früheren Arbeitgeberin trotz der kurz zuvor festgestellten Glätte wieder zu seinem Auto zurückgekehrt ist, um Werkzeug zu entladen. Das Verschulden der Bekl. ist jedoch weit größer als der Mitverschuldensanteil des Kl., da diese ihre vertraglich übernommene Verkehrssicherungspflicht völlig ignoriert hatte. Der Mitverschuldensanteil kann nach der Rechtsprechung des BGH vom erkennenden Gericht nach umfassender Würdigung aller Umstände gem. § 287 Abs. 1 ZPO geschätzt werden (BGHZ 121, 210). Der Senat ist unter Berücksichtigung der oben genannten Umstände der Überzeugung, dass der Mitverschuldensanteil des Kl. nicht mehr als ein Drittel betragen kann.

Der hier zu entscheidende Fall ist nicht mit den Fällen zu vergleichen, die Gegenstand der Urteile des OLG Hamm vom 3. 7. 1995 (VersR 1997, 68) und vom 5. 6. 1998 (VersR 1999, 589) waren, da dort Hauseigentümer verklagt waren. Hier betreibt die Bekl. eine Firma, die u. a. professionelle Durchführung von Räum- und Streuarbeiten gegen Bezahlung übernimmt. Von einer solchen Firma ist zu verlangen, dass sie u. a. Streusalz oder andere geeignete Auftaumittel vorrätig hält, um bei Eisregen die Glätte effektiv bekämpfen zu können. Die Winterdienste der Straßenmeistereien und Stadtwerke sind auch in der Lage, bei Eisregen ihrer Streupflicht nachzukommen.

Bei der Bemessung des Schmerzensgeldes ist Folgendes zu berücksichtigen: Der Kl. hat bei dem Unfall eine äußerst schmerzhafte Rotatorenmanschettenruptur links sowie eine Ruptur der langen Bizepssehne des linken Schultergelenks erlitten. Trotz einer Operation kann der Kl., der zum Unfallzeitpunkt fast 55 Jahre alt war, seinen erlernten Beruf als Kundendiensttechniker im Heizungsbau nicht mehr ausüben. Die Kraft und die Motorik des linken Arms sind unfallbedingt stark eingeschränkt. Eine Besserung dieses Zustands ist nicht zu erwarten. Es ist vielmehr mit einer weiteren Verschlechterung zu rechnen. Die Bekl., die seit mehr als sechs Jahren jede Schadensersatzleistung verweigert, hat den Kl. gezwungen, einen langjährigen Rechtsstreit auf sich zu nehmen. Das Verschulden der Bekl., die eklatant gegen ihre Pflichten verstoßen hat, liegt im oberen Bereich.

Der Senat ist deshalb der Überzeugung, dass unter Berücksichtigung des Mitverschuldensanteils des Kl. ein Schmerzensgeld in Höhe von 23 500 Euro angemessen ist. ...


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