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OLG Köln: Für eine mit einem Tinnitus einhergehende Gleichgewichtsstörung ist ein zusätzlicher Invaliditätsgrad von 10 % anzusetzen.

OLG Köln, Urteil vom 12.1.2000 (5 U 194/98)

Der für den eingetretenen vollständigen Hörverlust auf dem linken Ohr anzusetzende Invaliditätsgrad von 30 % deckt den daneben eingetretenen linksseitigen Tinnitus nicht ab.

Da der Tinnitus aber nur in seinen psychischen Auswirkungen Krankheitscharakter hat und sich nur darüber im Sinne einer Beeinträchtigung der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit auswirkt, stellt er eine psychische Reaktion dar und erfüllt damit den Ausschlusstatbestand nach § 2 IV AUB 88.

Für die mit dem Tinnitus einhergehenden Gleichgewichtsstörungen ist ein zusätzlicher Invaliditätsgrad von 10 % anzusetzen.

Sachverhalt:

Das Gericht hatte festgestellt, dass zu dem für den unstreitig erlittenen vollständigen Hörverlust auf dem linken Ohr gem. § 7 I Nr. 2 a AUB 88 in Ansatz zu bringenden Invaliditätsgrad von 30 % tritt nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme zunächst ein weiterer Invaliditätsgrad von 10 % für die als Unfallfolge eingetretenen dauerhaften Schwindel- bzw. Gleichgewichtsstörungen tritt. Der außerdem unstreitig als Unfallfolge eingetretene linksseitige Tinnitus rechtfertigt dagegen entgegen der Annahme des Kl. nicht die Zuerkennung eines höheren Invaliditätsgrades mit der Folge, dass dem Kl. gegen die Bekl., die ihm gegenüber bereits auf der Basis der Annahme eines 50%igen Invaliditätsgrades Leistungen aus der bestehenden Unfallversicherung erbracht hat, keine weiteren Ansprüche zustehen.

Entgegen der Ansicht der Bekl. unterfällt zwar der beim Kl. eingetretene Tinnitus wegen des zugleich eingetretenen vollständigen Hörverlustes auf dem linken Ohr nicht zugleich der Gliedertaxe gem. § 7 I Nr. 2 a AUB 88; deshalb ist nicht davon auszugehen, dass der für den Verlust des Gehörs nach der Gliedertaxe anzusetzende Invaliditätsgrad von 30 % beides (Hörverlust und Tinnitus) abdeckt. Vielmehr ist der Tinnitus daneben grundsätzlich als eigenständige Funktionsstörung gem. § 7 I Nr. 2 c AUB 88 zu beurteilen mit der Folge, dass insoweit das Vorliegen eines in Betracht kommenden eigenständigen Invaliditätsgrades getrennt zu prüfen ist.

Der in der Gliedertaxe wörtlich und konkret aufgeführte Fall bezieht sich nämlich lediglich auf Verlust oder Funktionsunfähigkeit "des Gehörs auf einem Ohr". Der eingetretene Tinnitus hat indes mit dem Gehör insoweit nichts zu tun, als man diesen Begriff mit der Definition "hören" oder "Hörfähigkeit" gleichsetzen muss, also auf das Hören von außen an das Ohr herangetragener Töne abzustellen hat. Nur in dieser Weise ist die vorgegebene Formulierung nach Auffassung des Senats zu verstehen. Bei dem Tinnitus handelt es sich hingegen um eine Funktionsstörung der Hörsinneszellen oder des Hörnervs, die vorliegend durch die linksseitig erlittene Schädelbasisfraktur hervorgerufen wurde. Der Sachverständige Prof. Dr. M. hat hierzu auch ausdrücklich aufgeführt, dass das Ohrgeräusch unabhängig von der Taubheit und dem Ausfall des Gleichgewichtsorgans ein selbstständiges Symptom dieser Schädigung darstellt. Im Übrigen handelt es sich um eine vom Geschädigten subjektiv als Geräusch empfundene Störung von innen, d. h. aus dem Kopf selbst, und nicht um die Verarbeitung bzw. Sinneswahrnehmung eines von außen an das Ohr herangetragenen Tons.

Der aufgetretene Tinnitus ist schließlich als selbstständige zum Hörverlust hinzutretende Unfallfolge auch den daneben eingetretenen Gleichgewichtsstörungen vergleichbar, hinsichtlich deren die Bekl. selbst die eigenständige Bewertungsmöglichkeit eines Invaliditätsgrades gem. § 7 I Nr. 2 c AUB 88 nicht infrage stellt. Auch der Gleichgewichtssinn wird nämlich maßgeblich "vom Ohr" bestimmt, ohne dass Anlass besteht, die insoweit eingetretene Funktionsstörung als Verlust bzw. Funktionsunfähigkeit des Gehörs i. S. v. § 7 I Nr. 2 a AUB 88 einzuordnen. Dieser Vergleich macht deshalb evident, dass der Tinnitus - neben dem erlittenen Verlust des Gehörs auf dem betreffenden Ohr - eine eigenständige Funktionsbeeinträchtigung eines Sinnesorgans darstellt, deren gesonderte Bemessung und Abgeltung grundsätzlich in Betracht kommt.

Eine Invaliditätsentschädigung für den beim Kl. eingetretenen Tinnitus kommt aber gleichwohl nicht in Betracht, weil die geltend gemachten dadurch bedingten krankhaften Störungen sich als psychische Reaktionen darstellen, ihre Entschädigung mithin gem. § 2 IV AUB 88 ausgeschlossen ist. Der dort genannte Ausschlusstatbestand ist nämlich erfüllt, obwohl der Tinnitus als solcher nicht ausschließlich auf einer psychischen Reaktion beruht, sondern durchaus als unmittelbare Folge des in Rede stehenden Unfallereignisses in Form einer traumatischen Organschädigung eingetreten ist. Das hat der Sachverständige überzeugend dargelegt.

Der Tinnitus bedingt für sich gesehen aber noch keine dauernde Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit gemäß dem in § 7 I Nr. 1 S. 1 AUB 88 definierten Invaliditätsbegriff. Davon ist aufgrund der getroffenen Feststellungen des vom Senat mit der Erstattung eines Ergänzungsgutachtens beauftragten Sachverständigen Prof. Dr. M. vom 10. 8. 1999 auszugehen, der als Leitender Oberarzt der Hals-Nasen-Ohren-Klinik der Universität X. durch besondere Sachkunde ausgewiesen und dem Senat seit längerem als mit der einschlägigen medizinischen Materie bestens vertrauter und erfahrener Fachmann bekannt ist.

Prof. Dr. M. hat ausdrücklich festgestellt, dass die krankhafte Störung "Tinnitus" für sich allein genommen abstrakt keine Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Leistungsfähigkeit bedingt. Vielmehr bezieht der Tinnitus seinen überzeugenden Ausführungen zufolge nur aus seinen psychischen Auswirkungen seinen Krankheitscharakter und wirkt sich lediglich darüber im Sinne einer Beeinträchtigung auf die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit aus. Ohrgeräusche bedeuten seinen Feststellungen zufolge ein gänzlich subjektives Empfinden eines tatsächlich nicht vorhandenen Geräusches. Zwar ist dieses nicht aus sich selbst heraus als psychische Reaktion zu werten, der Grad der dadurch bedingten Behinderung in Form einer Einschränkung der Lebensqualität oder der Möglichkeit der "normalen" Lebensführung orientiert sich aber ausschließlich am individuell zu bemessenden "Belästigungscharakter" des subjektiv ganz unterschiedlich als belastend empfundenen Geräuschs.

Viele Betroffene schildern keine oder eine nur unwesentlich empfundene damit einhergehende Belastung. Erst die individuelle psychische Reaktion des Betroffenen auf das Geräusch lässt unter Umständen eine subjektiv empfundene Beeinträchtigung entstehen, die Krankheitscharakter erlangen kann. Gegebenenfalls kann der subjektiv als besonders stark empfundene Belästigungscharakter des Tinnitus zu einer Dekompensation mit der vom Kl. durchaus glaubhaft geschilderten Symptomatik führen; Dekompensation bedeutet aber in diesem Zusammenhang nichts anderes als eine psychische Reaktion.

Daraus folgt, dass lediglich die vom Sachverständigen nachvollziehbar dargelegte psychische Komponente, die die vom Betroffenen als Folge des Tinnitus individuell empfundene Belastung erst ausmacht, die gesundheitliche Beeinträchtigung entstehen lassen kann. Allein der vorhandene Tinnitus führt dagegen nicht zu einer (Teil)invalidität. Diese kann vielmehr nur ausgelöst werden durch eine individuell verschiedene, gelegentlich wie vorliegend stark ausgeprägte psychische Reaktion auf das Ohrgeräusch mit der Folge, dass der Ausschlusstatbestand des § 2 IV AUB 88 vorliegt.

Die Ausführungen des Kl. im nicht nachgelassenen Schriftsatz vom 15. 12. 1999 geben zu einer anderen Bewertung der gutachterlichen Feststellungen keinen Anlass. Weder rechtfertigen sie die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung noch die ergänzende Befragung des Sachverständigen. Entgegen der Annahme des Kl. hat der Gutachter klargestellt, dass zum Krankheitsbild des Tinnitus keineswegs zwingend Krankheitscharakter erlangende psychische Begleiterscheinungen gehören. Der vom Kl. herangezogene Begriff der "schweren Ausprägung eines Tinnitusschadens" ergibt sich eben erst infolge der - vorliegend sicher gegebenen - psychischen Dekompensation. Der Kl. kann deshalb im Ergebnis aus dem aufgetretenen Tinnitus und seinen Folgen keinen eigenständigen dem unstreitig vorliegenden 30%igen Invaliditätsgrad wegen des Hörverlustes hinzuzurechnenden Invaliditätsgrad herleiten.

Soweit der Sachverständige auf eine pauschale Bewertung der auf einen Tinnitus entfallenden Minderung der Erwerbsfähigkeit mit 5 bis 10 % als gängige Praxis der gesetzlichen Unfallversicherungen hingewiesen hat, kann dieser Umstand vorliegend nicht zu einer entsprechenden Handhabung führen, weil sich ein Vergleich der Regelungen innerhalb der gesetzlichen Sozialversicherung mit privatrechtlich abgeschlossenen Unfallversicherungen als systemwidrig verbietet. Darüber hinaus bliebe der Ausschlusstatbestand unberücksichtigt. Im Übrigen wäre, selbst wenn man dem Kl. entsprechend dieser Handhabung pauschal einen sich bis auf 10 % belaufenden Invaliditätsgrad infolge des Tinnitus zubilligen wollte, eine solche Ausgleichszahlung durch die bereits erfolgte Leistung der Bekl. schon mit abgegolten.

Der Kl. kann allerdings entgegen der Annahme der Bekl. einen 10%igen Invaliditätsgrad für die als Unfallfolge aufgetretenen Gleichgewichtsstörungen für sich in Anspruch nehmen. Dies ergibt sich nach Auffassung des Senats eindeutig aus den hierzu vom Sachverständigen Prof. Dr. M. ebenfalls nachvollziehbar und überzeugend getroffenen Feststellungen, wobei, der Gutachter bei seiner Bewertung die subjektiv geklagten Beschwerden des Kl. durchaus im Sinne des Einwands der Bekl. als nicht sonderlich maßgebend für die abschließende Beurteilung des Invaliditätsgrades angesehen hat.

Daraus resultiert indes kein weiter gehender Zahlungsanspruch des Kl., weil die Bekl. ihren bereits erbrachten Leistungen neben dem allein durch den Hörverlust bedingten Invaliditätsgrad von 30 % bereits einen Invaliditätsgrad von weiteren 20 % für die unfallbedingten Kopfverletzungen im Übrigen zugrunde gelegt hat und mithin ein vom Kl. über die Teilinvalidität infolge des Hörverlustes hinaus berechtigterweise nur noch geltend zu machender Invaliditätsgrad von 10 % für die erlittenen Gleichgewichtsstörungen durch die bereits erfolgte Zahlung mit ausgeglichen ist. Die Bekl. hat denn auch mit Blick hierauf die zunächst begehrte mündliche Anhörung des Sachverständigen zur Bewertung der beim Kl. festgestellten Schwindel- und Gleichgewichtsstörungen nicht aufrechterhalten.

Auch im Hinblick auf das vom LG zuerkannte Krankenhaustagegeld von noch 1800 DM für den weiteren Rehabilitationsaufenthalt des Kl. in einer Klinik im Zeitraum vom 19. 7. bis 13. 9. 1995 hat die Berufung der Bekl. Erfolg. Aus den vorliegenden Unterlagen, insbesondere dem Abschlussbericht der Psychosomatischen Klinik Y. vom 2. 10. 1995, ergibt sich eindeutig, dass anlässlich dieses Aufenthalts eine psychiatrische Behandlung aufgrund der infolge des Tinnitus beim Kl. aufgetretenen schweren depressiven Verstimmung im Mittelpunkt der in Rede stehenden stationären Heilmaßnahme stand. Insoweit verweist die Bekl. auch hier zu Recht auf den Ausschlusstatbestand gem. § 2 IV AUB 88.

Anmerkung Dr. Büchner:

Das Urteil des OLG kommt aufgrund des eingeholten medizinischen Gutachtens zum Ergebnis, dass der unstreitig beim Kläger vorhandene Tinnitus selbst lediglich eine Unfallfolge aufgrund psychischer Reaktion und insofern nicht entschädigungsrelevant sei. Anders soll es sich hingegen bei den mit dem Tinnitus einhergehenden Gleichgewichtsstörungen verhalten, welche wiederum nicht als psychische Reaktion angesehen werden. Insgesamt zeigt das Urteil, wie kompliziert die einzelnen Bewertungstatbestände zu handhaben sind, welche zunächst von Gutachtern und schließlich auch von den damit befassten Gerichten völlig unterschiedlich betrachtet werden. Im Ergebnis kann das Urteil weiterhin nicht als interessengerecht angesehen werden; es bleibt zu beachten:

- dass ausschließlich psychische Schäden als solche, die nicht durch eine durch den Unfall hervorgerufene physische Beeinträchtigung vermittelt werden, dem Ausschluss der sog. „Psychoklausel“ (§ 2 Abs. 4 AUB 94) unterfallen

- Schäden, die auf einer hirnorganisch bedingten Veränderung der Psyche und ihrer Folgen beruhen, in jedem Fall versichert sind!

Das Urteil des OLG Köln ist nicht rechtskräftig; Revision am BGH ist anhängig, so dass abzuwarten bleibt, ob der BGH die Auffassung des OLG in dieser Form bestätigt.

Anmerkung am 29.09.2004: Der BGH hat auf die Revision des Klägers hin das Urteil des OLG Köln aufgehoben und zurückverwiesen (siehe auch BGH, Urteil vom 29.9.2004, Az.IV ZR 233/03)

 


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