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OLG Frankfurt: Bemessung der Invalidität bei vollständiger Einsteifung des Handgelenks und Restfuntionsfähigkeit der Finger

Urteil OLG Frankfurt/M., Urteil vom 16.10.2002 (7 U 117/01)

aus den Gründen:

Nach der zwischen den Parteien vereinbarten Gliedertaxe des § 7 I Nr. 2 AUB 88 bestimmt sich die Höhe der Invaliditätsleistung nach dem Grad der Invalidität und wird zusätzlich durch die besonderen Bedingungen für Mehrleistungen bei Eingreifen der progressiven Invaliditätsstaffel beeinflusst. Die in § 7 I Nr. 2 a AUB 88 vereinbarte Gliedertaxe legt unter Zugrundelegung eines abstrakten und generellen Maßstabs bei Verlust oder dem Verlust der Funktionsfähigkeit der aufgeführten Glieder die Höhe des Invaliditätsgrades fest. Dabei lässt sich der Systematik der erwähnten Bestimmung entnehmen, dass die jeweils festgelegten Invaliditätsgrade mit Rumpfnähe des Teilglieds steigen. Voraussetzung für die Bestimmung eines Invaliditätsgrades von 55 % wegen des von dem Kl. erlittenen Schadens im Handgelenkbereich war danach entweder der Verlust der Hand oder die vollständige Funktionsbeeinträchtigung.
Der Senat geht davon aus, dass eine vollständige Einsteifung des Handgelenks nicht ausreicht, von einer vollständigen Funktionsuntüchtigkeit und damit einem Invaliditätsgrad von 55 % gem. § 7 I Nr. 2 a AUB 88 auszugehen, wenn - wie hier - eine Restgebrauchsfähigkeit der Hand noch gegeben ist. Das ergibt die Auslegung der angeführten Bestimmung der Gliedertaxe, die der Senat in der Weise vorgenommen hat, wie ein durchschnittlicher VN ohne versicherungsrechtliche Spezialkenntnisse nach aufmerksamem Lesen der Bedingungen und verständiger Würdigung diese verstehen musste (vgl. BGH VersR 1999, 1224 = NJW-RR 1999, 1473). Danach ist erkennbar, dass die Gliedertaxe nach einem abstrakten und generellen Maßstab feste Invaliditätsgrade bei Verlust oder dem Verlust gleichgestellter Funktionsunfähigkeit der in ihr benannten Glieder festlegt. Weiterhin kann danach die Annahme eines höheren oder geringeren Invaliditätsgrades nicht aus konkreten Beeinträchtigungen hergeleitet und bei teilweisem Verlust oder Teilfunktionsunfähigkeit eines Gliedes der Invaliditätsgrad abstrakt nur unter Ansetzung des jeweiligen Prozentsatzes bestimmt werden. Die Gleichstellung der Fälle des totalen Verlustes mit der vollständigen Funktionsunfähigkeit und die Erwähnung einer Teilfunktionsunfähigkeit sprechen dafür, dass bei noch vorhandenen Restfunktionen bei der Bestimmung des Invaliditätsgrades diese mit entsprechenden Bruchteilen zu bewerten sind.
Der Senat geht davon aus, dass trotz einer vollständigen Einsteifung des Handgelenks verbleibenden Restfunktionen der Hand bei der Bestimmung des Invaliditätsgrades dadurch Rechnung zu tragen ist, dass diese mit einem Abschlag zu berücksichtigen sind. Ein durchschnittlicher VN müsste bei aufmerksamem Durchlesen der Versicherungsbedingungen und deren verständiger Würdigung zu der Auffassung gelangen, dass bestehende Restfunktionen der Hand es nicht rechtfertigen, bei vollständiger Einsteifung des Handgelenks von deren vollständiger Funktionsunfähigkeit auszugehen (a. A. OLG Hamm VersR 2002, 747). Entgegen der Ansicht des Kl. ergibt sich nichts anderes daraus, dass Ausstrahlungen des Teilgliedverlustes oder der Teilgliedfunktionsunfähigkeit auf das Restglied bei dem für das Teilglied bestimmten Invaliditätsgrad bereits mitberücksichtigt und deshalb nicht anzusetzen sind (vgl. BGH VersR 2001, 360; 1991, 57; 1990, 964).
Diese Konstellation liegt nicht vor, da es gerade nicht darum geht, dass die Einsteifung des Handgelenks des Kl. negative Ausstrahlungen auf körperfernere Teilglieder, die Finger, gehabt hat, sondern gerade davon auszugehen ist, dass körperfernere Teilglieder, die Finger, noch eine Restfunktionsfähigkeit haben. Da nach den nicht zu beanstandenden Feststellungen des Sachverständigen Prof. Dr. R. die Finger weiterhin bewegt werden können, lediglich Daumen und Kleinfinger und geringgradig auch der Zeigefinger in der Beweglichkeit eingeschränkt sind, der dritte und vierte Finger frei beweglich sind, liegen gerade keine negativen Ausstrahlungen der Teilgliedfunktionsunfähigkeit des Handgelenks vor, sodass die erwähnte Abgeltungsfunktion nicht eingreift. Da die körperferneren Teilglieder danach noch weitgehend funktionsfähig sind, ist dem Rechnung zu tragen und lediglich von einer Teilfunktionsunfähigkeit der Hand auszugehen. Die Gliedertaxe erlaubt lediglich zur Vermeidung der Kumulierung von Invaliditätsgraden die Mitberücksichtigung von ausstrahlenden Funktionsunfähigkeitsstörungen, nicht dagegen das Unterbleiben einer Berücksichtigung noch fortbestehender Funktionsfähigkeit in körperferneren Teilen, denen gerade bei der Bemessung des Invaliditätsgrades gem. § 7 I Nr. 2 b AUB 88 Rechnung zu tragen ist.
Dieses Auslegungsergebnis entspricht auch den Verständnismöglichkeiten eines durchschnittlichen, die nachvollziehbaren Regelungen der Gliedertaxe berücksichtigenden VN. Diesen lässt sich entnehmen, dass die Gebrauchsfähigkeit eines Gliedes an seiner noch fortbestehenden Funktion gemessen wird und es nicht auf den Sitz der Verletzung, sondern auf den Umfang der Auswirkungen des Unfallereignisses ankommt. Der Begriff der Funktionsunfähigkeit ist damit nicht auf das Handgelenk bezogen, sondern auf die Hand insgesamt, bezeichnet damit erkennbar nur die "anatomische Lokalisation" (Reichenbach/Lehmann VersR 2002, 301 [302]), sodass es verfehlt wäre, bei Versteifung des Handgelenks, aber sonst erhaltenen Funktionen der Hand den gleichen Invaliditätsgrad zugrunde zu legen, wie beim Verlust der Hand im Handgelenk (Senat OLGR 2001, 1). Die danach bestimmte Ermittlung des Invaliditätsgrades von 35 % unter Berücksichtigung von 1/2 Handwert ist von dem LG fehlerfrei ermittelt worden (wird ausgeführt).
Das LG hat weiterhin zutreffend erkannt, dass unter Berücksichtigung des § 5 AGBG nicht von einer Unwirksamkeit der Besonderen Bedingungen hinsichtlich der Bemessung der Invaliditätsentschädigung ausgegangen werden kann. Dass der dort enthaltene Passus "vollständige Funktionsunfähigkeit im Handgelenk" von einem durchschnittlichen VN dahin verstanden werden konnte, bereits die Versteifung des Handgelenks bei bleibender Resttauglichkeit einzelner Finger löse den gesteigerten Satz des Invaliditätsgrades aus, ist wegen der Verknüpfung der besonderen Bedingungen mit den AUB 88 aus den oben angeführten Gründen nicht anzunehmen. Auch die Besonderen Bedingungen knüpften an den Verlust oder die Funktionsunfähigkeit der Hand an und verstanden das Wort "im" als Grenze für das betroffene Gliedmaß. Zu diesem Auslegungsergebnis musste ein durchschnittlicher VN bei verständigem Durchlesen der Versicherungsbedingungen und deren Würdigung gelangen, sodass auch diese Bestimmung nicht unklar ist. Unter Berücksichtigung der Bewertung des Teilverlustes der Funktionsfähigkeit der Hand und unter Anwendung der modifizierten Gliedertaxe der Besonderen Bedingungen ist damit bei einer Grundversicherungssumme von 150 000 DM ein Ersatz von 55 %, damit 82 500 DM, als geschuldete Versicherungsleistung zugrunde zu legen. Hieraus folgt, dass der Kl., der bereits 160 000 DM als Versicherungsentschädigung erhalten hat, weitere Zahlungen nicht beanspruchen kann und in Höhe von 77 500 DM überzahlt ist. Diesen mit der Widerklage von der Bekl. geforderten Betrag hat der Kl. der Bekl. zurückzuzahlen.

Anmerkung Dr. Büchner:

Das rechtskräftig gewordene Urteil des OLG Frankfurt berücksichtigt im Gegensatz zu dem ebenfalls vorgestellten Urteil des OLG Hamm die Restfunktionsfähigkeit der Hand, beurteilt also nicht die nach Gliedertaxe beschriebene Funktionsunfähigkeit der Hand im Handgelenk.

Diese Entscheidung des OLG Frankfurt wird nach wie vor regelmäßig durch einige Versicherer zitiert, jedoch ändert dies nichts daran, daß der BGH im Urteil vom 9.7.2003 (IV ZR 74/02) entschieden hat, daß bei auslegungsbedürftigen Bedingungen - wie vorliegend - im Zweifel zu Lasten desVerwenders (also der Versicherung) zu entscheiden ist.


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