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Invaliditätsentschädigung bei Verlust des Auges

BGH, Entscheidung vom 15.06.94 (IV ZR 126/93, KG)

Verliert der Versicherte durch einen Unfall die Sehkraft des einen Auges ganz und des zweiten Auges teilweise, so ist der Invaliditätsgrad für den Verlust des einen Auges mit 30 % und der für das zweite Auge mit einem entsprechenden Teil von 70 % zu bewerten.

BGH, Entscheidung vom  24.01.96 (IV ZR 258/94, Bremen)

Der Kl. verlangte von der Bekl. Zahlung von Versicherungsleistungen aus zwei Unfallversicherungsverträgen. Der zwischen den Parteien am 21. 10. 1986 geschlossene Vertrag Nr... ./3 über 100 000 DM enthielt eine Verdoppelungsklausel für den Fall, daß beim Versicherten ein Invaliditätsgrad ab 90 % eintrat. Der Vertrag Nr... ./8 gleichen Datums über 80 000 DM enthielt eine solche Klausel nicht. Beiden Verträgen lagen die AUB 61 zugrunde.

Der Kl. erlitt am 7. 3. 1988 einen schweren Verkehrsunfall, nach dem er mehrere Monate im Krankenhaus bleiben und aufgrund dessen er den Beruf als Kfz-Lackierer aufgeben mußte. In dem Bescheid des Versorgungsamts vom 16. 10. 1989, durch den der Grad der Behinderung mit 100 % anerkannt wurde, hieß es:

"1. Vielfachverletzung nach Schädelhirntrauma mit Hirnblutung, Verlust des Geruchssinns, Lungenprellung, Beckenringbruch mit Sprengung der Schambeinfuge, Bruch des zweiten und dritten Lendenwirbelkörpers, Kniebinnenschaden beiderseits, Schädigung des Ischiasnervs und des Peronäusnervs rechts, Ellenbogenprellung links;

2. Sehnervenschwund beiderseits, links mit Visusminderung und hochgradiger Gesichtsfeldeinengung, quadrantenförmiger Gesichtsdefekt, rechts schläfenwärts oben".

Die Bekl. zahlte nach Anerkennung eines Invaliditätsgrads von 70 % vor Klageerhebung 126 000 DM. Der Kl. behauptete, seine Invalidität habe einen Grad von mindestens 90 % erreicht. Durch die Verdoppelungsklausel im Vertrag Nr... ./3 ergebe sich eine Versicherungsleistung der Bekl. von 180 000 DM.

Aus der Versicherung Nr... ./8 komme eine Leistung von 72 000 DM hinzu. Nach Abzug der erhaltenen Leistungen beantragte der Kl., die Bekl. zu verurteilen, an ihn weitere 126 000 DM nebst Zinsen zu zahlen.

Das LG hat der Klage stattgegeben. Das Berufungsgericht hat das Urteil insoweit aufgehoben, als die Bekl. zur Zahlung von mehr als 20 700 DM nebst Zinsen verurteilt worden ist.

Die Revision des Kl. führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.

Aus den Gründen:

1. Das Berufungsgericht hat für die Minderung der Gebrauchsfähigkeit des rechten Beins auf chirurgischem Gebiet 17,5 % und unter neurologischer Sicht weitere 3,5 % Invalidität festgesetzt. Die Minderung der Gebrauchsfähigkeit des linken Beins hat es mit 7 % und des linken Arms mit 3,5 % bewertet. Aus dem Bereich der Hals-, Nasen-, Ohrenmedizin hat das Berufungsgericht den Verlust des Gehörsinns mit 10 % festgesetzt. Entsprechend der Gliedertaxe hat es für die Erblindung des linken Auges nach § 8 II Nr. 2 c AUB 61 30 % angesetzt. Die Ausführungen des Berufungsgerichts hierzu enthalten keine Rechtsfehler und werden von der Revision auch nicht angegriffen.

2. a) Den teilweisen Verlust der Sehkraft des rechten Auges hat das Berufungsgericht mit weiteren 10 % bewertet. Es stützt sich dabei auf ein Sachverständigengutachten, in dem die Gesamtinvalidität für das erblindete Auge und für den Gesichtsausfall des rechten Auges mit 40 % angenommen wurde, wobei 10 % auf das rechte Auge entfallen. Das greift die Revision mit Recht an.

b) Auszugehen ist von den Regelungen der Gliedertaxe. § 8 II Nr. 2 c AUB 61 regelt drei Fallvarianten für den Verlust von Sehkraft. Der Verlust von beiden Augen ist mit einem Invaliditätsgrad von 100 % und der Verlust eines Auges mit 30 % angegeben. Sofern jedoch das andere Auge vor Eintritt des Versicherungsfalls bereits verloren war, ist der Verlust des zweiten Auges mit 70 % zu bewerten. Den vorliegenden Sachverhalt des Teilverlusts der Sehkraft eines Auges neben dem vollen Verlust der Sehkraft des anderen Auges regelt die Bestimmung nicht. Dennoch ist durch Auslegung der von der Gliedertaxe vorgegebenen Regelung auch in den Fällen des Teilverlusts der Sehkraft der entsprechende Invaliditätsgrad zu bestimmen, der der Zielsetzung der Regelung entspricht. Nur so bleiben die von der Sache her gebotene Gleichbehandlung der betroffenen VN und die erforderliche Ausgewogenheit der Versicherungsbedingungen gewahrt. Die Auslegung verlangt deshalb, eine in den AUB 61 für die Feststellung der Invalidität bei Verlust oder Behinderung der Sehkraft einmal gewählte Berechnungsart beizubehalten (vgl. BGH vom 8. 7. 1987 - IV a ZR 95/86 - VersR 1987, 930 unter II).

Der in § 8 II Nr. 2 c AUB 61 bei Teilverlusten der Funktionsfähigkeit paariger Sinnesorgane gewählte Berechnungsmodus gewichtet die unterschiedliche Betroffenheit des VN durch Teilschädigungen der Sehkraft differenzierend mit einem Verhältnis von 30 % zu 70 %, ausgerichtet an dem Invaliditätsgrad von 100 % bei völligem Verlust der Sehkraft. Die mit diesem Berechnungsmodus verwirklichte Zielvorstellung der Versicherer beruht auf der zutreffenden Erkenntnis, daß der gänzliche wie der teilweise Verlust nur eines von paarigen Sinnesorganen den VN unterschiedlich hart treffen kann. Entscheidend ins Gewicht fällt nämlich stets, ob das zweite der paarigen Sinnesorgane eine Ausgleichsfunktion ungeschmälert wahrnehmen kann oder ob es ebenfalls geschädigt ist (vgl. BGH aaO unter II 3 zu Teilschädigungen des Gehörs).

Für den Fall, bei dem der Verlust oder die Beeinträchtigung der Sehkraft beider Augen zu bewerten ist, muß für das zweite Auge grundsätzlich von dem für diesen Fall bestimmten höheren Invaliditätsgrad von 70 % ausgegangen werden (BGH vom 24. 4. 1974 - IV ZR 54/73 - VersR 1974, 664 (665]. Das gilt auch für den vorliegenden Fall. Der Verlust des ersten Auges ist mit einem Invaliditätsgrad von 30 % zu bewerten. Da das erste Auge voll verloren ist, hätte der volle Verlust auch des zweiten Auges einen Invaliditätsgrad von weiteren 70 % zur Folge. Ist jedoch die Sehkraft des zweiten Auges nur teilweise beeinträchtigt, so ist dies mit einem entsprechenden Teil von 70 % zu bewerten. So führt etwa der hälftige Verlust der Funktionsfähigkeit des zweiten Auges zu einem Invaliditätsgrad von (1/2 von 70 % =) 35 %, die zu den 30 % für den vollen Verlust des ersten Auges hinzutreten.

3. a) Welcher Invaliditätsgrad für das zweite, das rechte Auge zu ermitteln ist, hängt also von dem Prozentsatz ab, zu dem die Funktionsfähigkeit dieses Auges verlorengegangen ist. Dazu hat das Berufungsgericht keine Feststellungen getroffen. Das war von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig, nach dem die Grundsätze der Entscheidung des BGH vom 24. 4. 1974 (aaO) auf den vorliegenden Fall nicht anwendbar seien. Als Begründung hat das Berufungsgericht ausgeführt, die Einschränkung des Gesichtsfelds - wie im vorliegenden Fall - sei mit dem Fall der erheblichen Verminderung der Sehkraft - wie im Fall jener Entscheidung - nicht vergleichbar. Darauf kommt es indessen nicht an. Auch wenn die Beeinträchtigung des zweiten, teilweise noch funktionsfähigen Auges kein erhebliches Ausmaß hat, bleiben die in der Entscheidung des BGH vom 24. 4. 1974 aufgestellten Grundsätze anwendbar.

b) Die Revision geht davon aus, daß der aufgrund des medizinischen Gutachtens vom Berufungsgericht festgestellte prozentuale Gesichtsausfall von 50 % des intakten Gesichtsfelds mit einem hälftigen Verlust der Sehkraft des Auges gleichzusetzen sei. Die Revision meint deshalb, der Invaliditätsgrad für das rechte Auge sei mit 35 % (1/2 von 70 %) zu bewerten. Das wäre richtig, wenn feststünde, daß ein 50%iger Gesichtsausfall mit einem hälftigen Verlust der gesamten Funktionsfähigkeit eines Auges gleichzusetzen ist. Das läßt sich aber den Ausführungen des Berufungsgerichts und dem Sachverständigengutachten nicht entnehmen. Die Sache muß deshalb zur Feststellung des Prozentsatzes für den Verlust der Sehkraft des rechten Auges an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden, weil ohne eine solche Feststellung der nach der Zielsetzung der Gliedertaxe zu berechnende Invaliditätsgrad nicht ermittelt werden kann.

4. Die Zurückverweisung erübrigt sich nicht deshalb, weil das Berufungsgericht für die Schädigung beider Augen zusammen aufgrund des Sachverständigengutachtens insgesamt einen Invaliditätsgrad von 40 % angenommen hat und diese Annahme auf die Empfehlungen der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft und des Berufsverbands der Augenärzte Deutschlands e. V. (DOG-BVA-Empfehlungen) gestützt hat. Solche Empfehlungen dienen zwar auch der gebotenen Gleichbehandlung der betroffenen VN. Ihre unmittelbare Anwendung ist aber erst dann berechtigt, wenn eine Berechnung des Invaliditätsgrads nach der Zielsetzung der Gliedertaxe, die Vertragsbestandteil ist, aus tatsächlichen, etwa medizinischen Gründen unmöglich oder jedenfalls nicht sinnvoll ist. Dies schließt nicht aus, daß die DOG-BVA-Empfehlungen mittelbar dadurch angewandt werden, daß sie einer Berechnung nach der Gliedertaxe zugrunde gelegt werden. Mit diesen Fragen hat sich das Berufungsgericht nicht befaßt.

Darüber hinaus ist nicht sicher, ob der hier in Betracht kommende Teil der DOG-BVA- Empfehlungen richtig angewandt worden ist oder ob er auf den vorliegenden Fall überhaupt nicht angewandt werden darf. Nach der Tabelle 9 der Empfehlungen, auf die das Berufungsgericht als dem Gutachten zugrundeliegend Bezug nimmt, ist der Ausfall des Gesichtsfelds bei einem Drittel mit 20 % Invaliditätsgrad und bei zwei Dritteln mit 50 % Invaliditätsgrad bewertet. Zwischenwerte sind vom Gutachter zu schätzen. Dementsprechendhat der Gutachter Prof. Dr. S. in seinem Schreiben vom 23. 9. 1993 sein Gutachten vom 8. 2. 1990 dahin erläutert, daß nach dem ausgefallenen Gesichtsfeldanteil des verbliebenen Auges ein Invaliditätsgrad von 40 % adäquat erscheine. Das ist der Invaliditätsgrad, den das Berufungsgericht in Übereinstimmung mit dem Gutachten für den Verlust der Sehkraft beider Augen angesetzt hat. In der Tabelle 9 heißt es, bewertet würden große Skotome im 50-Gesichtsfeld ... , wenn sie beidäugig bestünden oder "ein Auge fehlt". Damit stellt sich die Frage, ob die nachfolgenden Bewertungen mit 20 % und 50 % Invaliditätsgrad je nur für ein Auge oder für beide Augen insgesamt zu verstehen sind.

Sollte die Tabelle so zu verstehen sein, daß die angegebenen Invaliditätsgrade beide geschädigten Augen erfassen, wäre die Tabelle für solche Privatversicherungsverhältnisse unanwendbar, denen § 8 II Nr. 2 c AUB 61 zugrunde liegt. Denn wenn nach der Gliedertaxe der Verlust eines Auges schon mit 30 % Invalidität zu bewerten ist, dürfen nicht nur 20 % Invalidität angesetzt werden, wenn ein Auge fehlt und das weitere Auge einen Gesichtsfeldausfall vom einem Drittel hat. Auch dies bedarf der Klärung.

Ansprechpartner Dezernat Personenversicherung

Dr. Jörg Büchner

Fachanwalt für Versicherungsrecht

Fachanwalt für Medizinrecht

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