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BGH: Entschädigung für Teilgliedverlust in der Privaten Unfallversicherung

BGH, Urteil vom 17.1.2001 (IV ZR 32/00)

Steht ein in der Gliedertaxe benannter Teilbereich eines Glieds durch einen Unfall verloren oder ist das Teilglied wegen eines unfallbedingten Dauerschadens vollständig funktionsunfähig, steht der Invaliditätsgrad nach der Gliedertaxe unverrückbar fest. Die Ausstrahlungen des Teilgliedverlustes oder der Teilgliedfunktionsunfähigkeit auf das Restglied sind bei dem für das Teilglied bestimmten Invaliditätsgrad bereits mitberücksichtigt.


Die Parteien stritten um die Bemessung einer Invaliditätsentschädigung. Der Kl. unterhielt bei der Bekl. eine Unfallversicherung, der die AUB 88, Besondere Bedingungen für die Unfallversicherung mit progressiver Invaliditätsstaffel (225 %) und Besondere Bedingungen zur Unfallversicherung für Werbegrafiker pp. (verbesserte Gliedertaxe) zugrunde lagen; die Versicherungssumme bei Invalidität betrug 300 000 DM.
Am 31. 12. 1993 erlitt der Kl. einen Verrenkungsbruch des rechten Fußgelenks. Als Unfallfolge verblieben eine Versteifung des oberen und unteren Fußgelenks und eine Muskelminderung des rechten Ober- und Unterschenkels. Die Bekl. leistete als Invaliditätsentschädigung 129 000 DM.
Der Kl. verlangte Zahlung weiterer 188 250 DM. Die Versteifung am rechten Fußgelenk sei gem. § 7 I Abs. 2 a AUB 88 (Gliedertaxe) mit einem Invaliditätsgrad von 40 % zu bemessen; dieser erhöhe sich nach Maßgabe der vereinbarten verbesserten Gliedertaxe auf 50 %, sodass schließlich unter Anwendung der progressiven Invaliditätsstaffel ein Invaliditätsgrad von 75 % für die Entschädigungsberechnung maßgeblich sei, die sich danach auf 225 000 DM belaufe. Die weitere Beeinträchtigung des Beins sei mit 3/7 Beinwert zu bemessen; daraus errechne sich unter Berücksichtigung der Invaliditätsstaffel eine weitere Entschädigung von 92 250 DM. Die Bekl. vertrat demgegenüber die Auffassung, dass bei der Entschädigungsberechnung lediglich von einem Invaliditätsgrad von 3/7 Beinwert (30 %) auszugehen sei, der sich über die Invaliditätsstaffel auf 35 % erhöhe.
Das LG hat der Klage in Höhe eines Betrags von 96 000 DM nebst Zinsen stattgegeben, im Übrigen hat es sie abgewiesen. Auf die Berufung der Bekl. hat das Berufungsgericht die Klage insgesamt abgewiesen.
Die Revision des Kl. führte zur Wiederherstellung des Urteils des LG.

Aus den Gründen:


Der Kl. hat wegen des erlittenen Dauerschadens am rechten Fußgelenk Anspruch auf eine Invaliditätsentschädigung von 225 000 DM, sodass die Bekl. - über die geleisteten 129 000 DM hinaus - an ihn weitere 96 000 DM zu zahlen hat.
1. Das Berufungsgericht geht davon aus, dass die unfallbedingte Schädigung des Kl. in seinem Bein zu lokalisieren sei. Das folge aus dem in erster Instanz eingeholten Sachverständigengutachten, wonach der Kl. eine Sprunggelenkrollenfraktur erlitten habe, in deren Folge eine nahezu vollständige Versteifung des rechten oberen und unteren Sprunggelenks verblieben sei. Diese Schädigung sei als teilweise Gebrauchsunfähigkeit des rechten Beins zu bewerten. Dem stehe nicht entgegen, dass nach Feststellung des Sachverständigen die Funktionsfähigkeit des Fußes des Kl. im Fußgelenk zu 100 % aufgehoben sei. Denn diese Einschätzung des Sachverständigen beruhe auf einer funktionellen Betrachtungsweise, die diesen andererseits gerade dazu veranlasst habe, den Schaden dem Bein und nicht dem Fuß zuzuordnen.
Es sei zwar einzuräumen, dass die Feststellung des Sachverständigen es nahe lege, die Schädigung nach der Gliedertaxe (§ 7 I Abs. 2 a AUB 88) unter "Verlust oder Funktionsunfähigkeit eines Fußes im Fußgelenk" zu subsumieren. Die Schädigung des Kl. sei jedoch nicht auf die Funktionsfähigkeit des Fußes beschränkt, sie stelle vielmehr eine Funktionsbeeinträchtigung des gesamten Beins dar. Diese sei mit einem Invaliditätsgrad von 3/7 Beinwert zu bemessen, sodass sich unter Einbeziehung der Invaliditätsstaffel eine Entschädigungsleistung von 105 000 DM errechne. Dem folgt der Senat nicht.
2. a) Die mit § 7 I Abs. 2 a AUB 88 vereinbarte Gliedertaxe bestimmt - nach einem abstrakten und generellen Maßstab (Grimm, Unfallversicherung 3. Aufl. § 7 Rdn. 18) - feste Invaliditätsgrade bei Verlust oder - dem Verlust gleichgestellt - Funktionsunfähigkeit der mit ihr benannten Glieder. Gleiches gilt bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit eines durch die Gliedertaxe abgegrenzten Teilbereichs eines Glieds. Demgemäß beschreibt § 7 I Abs. 2 a AUB 88 u. a. abgegrenzte Teilbereiche des Beins und ordnet jedem Teilbereich einen festen Invaliditätsgrad zu, der mit Rumpfnähe des Teilglieds steigt. So bestimmt die Gliedertaxe bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit des abgegrenzten Teilbereichs des Beins "Fuß im Fußgelenk" einen Invaliditätsgrad von 40 %. Geht der Fuß im Fußgelenk durch einen Unfall verloren oder ist der Fuß im Fußgelenk wegen eines unfallbedingten Dauerschadens vollständig funktionsunfähig, steht der Invaliditätsgrad nach der Gliedertaxe unverrückbar fest.
Jedenfalls kommt ein geringerer Invaliditätsgrad nicht mehr in Betracht, insbesondere nicht unter Rückgriff auf eine bloße Bewertung der Auswirkungen der Funktionsunfähigkeit des Fußes im Fußgelenk auf das Restglied. Denn damit würde die von der Gliedertaxe vorgegebene Aufteilung des Glieds in Teilbereiche mit daran geknüpftem festen Invaliditätsgrad bei Verlust oder Funktionsunfähigkeit unterlaufen. Die Ausstrahlungen eines Teilgliedverlustes oder einer Teilgliedfunktionsunfähigkeit auf das Restglied sind vielmehr bei dem für das Teilglied bestimmten Invaliditätsgrad bereits mitberücksichtigt (vgl. Senat vom 30. 5. 1990 - IV ZR 143/89 - VersR 1990, 964 unter 2 a; vom 17. 10. 1990 - IV ZR 178/89 - VersR 1991, 57 unter 3 b). Diese Grundsätze hat das Berufungsgericht nicht ausreichend beachtet.
b) Nach dem Gutachten des Sachverständigen, dessen Beurteilung des Gesundheitszustands des Kl. das Berufungsgericht folgt, ist beim Kl. auf Dauer Funktionsunfähigkeit (100 %) im rechten Fußgelenk eingetreten. Es sei zu einer Versteifung des oberen und unteren Sprunggelenks gekommen; funktionell sei davon auszugehen, dass die für den Abrollvorgang des Fußes notwendigen Funktionen im oberen und unteren Fußgelenk vollständig aufgehoben seien. Dass es dagegen unabhängig von dieser unfallbedingten Schädigung des Fußes im Fußgelenk zu einer weiteren Schädigung des Restglieds gekommen ist, stellt weder der Sachverständige noch das Berufungsgericht fest. Die vom Sachverständigen festgestellte Schonungsverschmächtigung der Muskulatur des rechten Ober- und Unterschenkels hat vielmehr auch das Berufungsgericht als Ausstrahlung der Versteifung des Sprunggelenks angesehen; die Beeinträchtigung des Restglieds in seiner Gebrauchsfähigkeit stellt sich danach als Ausstrahlung der Funktionsunfähigkeit im rechten Fußgelenk dar.
c) Auf der Grundlage dieser Feststellungen war davon auszugehen, dass beim Kl. unfallbedingt vollständige Funktionsunfähigkeit des rechten "Fußes im Fußgelenk" (§ 7 I Abs. 2 a AUB 88) eingetreten ist. Dass der Sachverständige - wie das Berufungsgericht anführt - insoweit eine funktionelle Betrachtung angestellt hat, steht dieser Einordnung weder entgegen, noch kann sie eine Bemessung der Invalidität nach dem Beinwert begründen. Vielmehr war gerade diese Betrachtung geboten, weil es im vorliegenden Fall nicht um den Verlust, sondern um die Beurteilung des Ausmaßes der Funktionsfähigkeit des Fußes im Fußgelenk ging.
Das gilt gleichermaßen, soweit das Berufungsgericht darauf abstellen will, dass nach den Ausführungen des Sachverständigen Restfunktionen des Fußes noch erhalten geblieben seien, sodass schon deshalb nicht von vollständiger Funktionsunfähigkeit des Fußes ausgegangen werden könne. Denn nach der Gliedertaxe ist insoweit allein entscheidend, dass nach sachverständiger Beurteilung die Funktionen des Fußes im Fußgelenk vollständig aufgehoben sind; eine klinisch noch feststellbare Mikrobeweglichkeit hat der Sachverständige im Übrigen als funktionell unwirksam bzw. eher kontraproduktiv eingeordnet. Dass der Fuß unterhalb des Fußgelenks noch vorhanden ist, bleibt - wie die Revision mit Recht anmerkt - nach der Gliedertaxe unbeachtlich, da diese die Funktionsunfähigkeit eines Fußes im Fußgelenk dem Verlust gleichstellt.
Hat sich danach der unfallbedingte Dauerschaden in einer Funktionsunfähigkeit des Fußes im Fußgelenk konkretisiert, wird der Invaliditätsgrad durch den in der Gliedertaxe für diesen Teilbereich des Glieds bezeichneten Prozentsatz festgelegt. Mangels Feststellung einer davon unabhängigen Gebrauchsbeeinträchtigung des Restglieds kommt die vom Sachverständigen erwogene und vom Berufungsgericht für zutreffend erachtete Anknüpfung an den Beinwert ("Verlust oder Funktionsunfähigkeit eines Beins über der Mitte des Oberschenkels") nicht in Betracht.
Erst recht gibt die Gliedertaxe keine Grundlage dafür, wegen der Ausstrahlungen des Teilgliedverlusts oder der Teilgliedfunktionsunfähigkeit auf die Bewertung der Invalidität für das Restglied Bein abzustellen und dort wegen einer (dann nur noch) Teilfunktionsunfähigkeit zu einem Invaliditätsgrad zu gelangen, der den für den Verlust oder die Funktionsunfähigkeit des Teilglieds vorgesehenen noch unterschreitet. Vielmehr sind die vom Berufungsgericht als solche erkannten Ausstrahlungen der Funktionsunfähigkeit des Fußes im Fußgelenk auf das rumpfnähere Restglied bei dem dafür in der Gliedertaxe vorgesehenen Invaliditätsgrad von 40 % bereits mitberücksichtigt.
d) Auf dieser Grundlage errechnet sich unter Berücksichtigung der vereinbarten verbesserten Gliedertaxe und der progressiven Invaliditätsstaffel ein für die Entschädigungsleistung maßgeblicher Prozentsatz von 75 % und damit eine Invaliditätsentschädigung von 225 000 DM. Das hat das LG zutreffend erkannt, sodass dessen Urteil wiederherzustellen war.

Anmerkung Dr. Büchner:

Die hier vom BGH entschiedene Situation berührt eine in der Praxis immer wieder vorkommende Problematik. Es passiert regelmäßig, dass ein Unfallgeschehen sowohl Auswirkungen auf einen abgrenzbaren Bereich (hier das Fußgelenk) als auch darüber hinaus auf weitere Teilbereiche (hier die Unterschenkelmuskulatur des Beines in Form von Verschmächtigungen) hat. Da die Invaliditätsbemessung bezogen auf das gesamte Bein letztlich geringer ausfiel als die Bemessung nur für das Fußgelenk, war die Unfallversicherung natürlich versucht, eine Bewertung des gesamten Beines vorzunehmen und ist darin noch von der Berufungsinstanz bestätigt worden.

Auch wenn der BGH diese rechtswidrige Praxis im vorliegenden Fall letztlich korrigiert hat, sind derartig falsche Abrechnungen bis heute an der Tagesordnung. Sie beruhen häufig bereits auf einer fehlerhaften Beurteilung durch die von den Unfallversicherungen beauftragten Gutachter bzw. darauf, dass die Fehleinschätzungen der Glutachter von den jeweiligen Sachbearbeitern nicht hinterfragt werden.

Für den Versicherungsnehmer ist es ohne fachkundige Unterstützung letztlich unmöglich, solch eine fehlerhafte Bewertung zu erkennen. Die Abrechnung der Unfallversicherung erscheint vielmehr – wenn sie sich auf ein ärztliches Gutachten stützt – zunächst plausibel; gleichwohl ist es immer geboten, diese anwaltlich prüfen zu lassen.


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