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SG Augsburg: Merkzeichen „G“ und „B“ auch bei Angststörung mit Panikattacken

 

Sozialgericht Augsburg - S 8 SB 301/13 - Urteil vom 31.07.2014 

Eine Angststörung mit Panikattacken, die bei allen Wegen außer Haus auftreten, ist als psychogene Gangstörung zu werten und einem Anfallsleiden gleichzustellen. Daraus folgt, dass dann auch die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme der Nachteilsausgleiche "G" (erhebliche Gehbehinderung) und "B" (ständige Begleitung) erfüllt sind.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Merkzeichen "G" (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und "B" (Berechtigung für eine ständige Begleitung).

Bei der 1991 geborenen Klägerin hatte der Beklagte mit Teilabhilfebescheid vom 21. Januar 2010 einen Grad der Behinderung (GdB) von 50 und das Merkzeichen "G" aufgrund einer seelischen Störung festgestellt.

Im November 2012 leitete das zuständige Versorgungsamt eine Nachprüfung ein. Die versorgungsärztliche Bewertung ergab dabei, dass nur mehr ein GdB von 30 vorliege, weil eine kürzlich absolvierte stationäre Behandlung einige Besserungen erzielen habe können. Im Rahmen der folgenden Anhörung beantragt die Klägerin neben der Beibehaltung des Merkzeichens "G" am 11. Januar 2013 zudem die Zuerkennung des Merkzeichens "B". Sie könne das Haus nicht alleine verlassen, weil sonst Angstzustände mit Panikattacken aufträten. Deswegen habe sie eine Begleitperson zur Verfügung gestellt bekommen, die sie beruhige.

Der Beklagte setzte den GdB dennoch mit Bescheid vom 20. März 2013 auf 30 herab, entzog das Merkzeichen "G" und lehnte die Feststellung des Merkzeichens "B" ab.

Im Widerspruchsverfahren ergab eine erneute versorgungsärztliche Prüfung, dass die seelische Störung gravierend und deshalb der GdB von 50 weiter gerechtfertigt sei. Dass die Klägerin außer Haus eine Begleitung benötige, erfülle aber nicht die Kriterien des Merkzeichens "B", weil sie nicht zwingend auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sei.

Daraufhin wurde mit Widerspruchsbescheid vom 16. Mai 2013 wieder ein GdB von 50 aufgrund einer seelischen Störung festgestellt und der Widerspruch im Übrigen zurückgewiesen.

Dagegen hat die Klägerin am 17. Juni 2013 durch ihren Prozessbevollmächtigten Klage zum Sozialgericht Augsburg erhoben.

Das Gericht hat Befundunterlagen über die Klägerin eingeholt und danach den Neurologen und Psychiater Dr. F. mit der Begutachtung der Klägerin beauftragt. Der Sachverständige hat in seinem Gutachten vom 17. Februar 2014 ausgeführt, die Klägerin leide an einer Agoraphobie mit Panikstörung und einer Anpassungsstörung. Dagegen liege eine posttraumatische Belastungsstörung nicht vor, ebenso keine Epilepsie. Die seelische Störung sei erheblich und daher mit einem GdB von 50 einzustufen. Die Panikattacken träten auf bei allen Wegen außer Haus. Aufgrund dieser Anfälle könne die Klägerin fast alle Wege außer Haus nur in Begleitung zurücklegen. Nur der Weg zur Arbeit mit kurzem Fußweg und folgender Fahrt mit Bus und Tram sei ihr mittlerweile alleine mit erhöhtem Zeitbedarf für den Fußweg möglich. Eine Einschränkung des Gehvermögens, so Dr. F. weiter, aufgrund einer körperlichen Krankheit oder durch hirnorganische Anfälle bestehe nicht, auch keine Störung der Orientierungsfähigkeit. Jedoch könne die Klägerin übliche Wege im Straßenverkehr infolge der Angsterkrankung nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten zurücklegen. Bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel sei die Klägerin nicht regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen, da sie auf dem Weg zur Arbeit fast täglich Bus und Tram alleine benutze.

Klägerseits ist noch ein Bericht der behandelnden Psychologin vom 28. Juli 2014 vorgelegt worden, wonach sich anhand von drei Test-Wegstrecken im Zeitraum 18. bis 25. Juli 2014 ergeben habe, dass die Klägerin nur vertraute Strecken ohne Zeitdruck bewältigen könne, nicht aber zur Bushaltestelle gelangen oder eine unvertraute Wegstrecke mit Zeitdruck schaffen könne.

Für die Klägerin wird beantragt:

Der Beklagte wird verpflichtet, bei der Klägerin ab dem 11. Januar 2013 das Merkzeichen "B" und das Merkzeichen "G" über den 24. März 2013 hinaus festzustellen.

Für den Beklagten wird beantragt,

die Klage abzuweisen.

Zur Ergänzung des Tatbestands wird auf den Inhalt der Gerichts- und Behördenakten und die Niederschrift über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage hat in der Sache zum Teil Erfolg.

Die Klägerin hat auch über den 24. März 2013 hinaus Anspruch auf das Merkzeichen "G" und ab 25. Juli 2014 zudem Anspruch auf das Merkzeichen "B". Soweit der Bescheid des Beklagten vom 20. März 2013 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 16. Mai 2013 dies versagt, ist er rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, so dass er abzuändern ist.

Nach § 69 Abs. 1 des Neunten Buches Sozialgesetzbuch - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden auf Antrag das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Gemäß § 69 Abs. 4 SGB IX sind im Verfahren zur Feststellung des GdB auch die erforderlichen Feststellungen zu treffen, wenn daneben weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind.

Zum Merkzeichen "G": Wie § 145 Abs. 1 Satz 1 SGB IX regelt, werden schwerbehinderte Menschen, die infolge ihrer Behinderung in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt oder hilflos oder gehörlos sind, gegen Vorzeigen eines entsprechend gekennzeichneten Ausweises nach § 69 Abs. 5 SGB IX im Nahverkehr im Sinn des § 147 Abs. 1 SGB IX unentgeltlich befördert. Liegt eine erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr vor, ist im Schwerbehindertenausweis nach § 3 Abs. 2 der Schwerbehindertenausweisverordnung auch das Merkzeichen "G" einzutragen.

§ 146 Abs. 1 Satz 1 SGB IX bestimmt, dass in seiner Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr erheblich beeinträchtigt ist, wer infolge einer Einschränkung des Gehvermögens (auch durch innere Leiden oder infolge von Anfällen oder von Störungen der Orientierungsfähigkeit) nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten oder nicht ohne Gefahren für sich oder andere Wegstrecken im Ortsverkehr zurückzulegen vermag, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden. Als Wegstrecken im Ortsverkehr, die üblicherweise noch zu Fuß zurückgelegt werden, gelten 2 km in 30 Minuten (VMG Teil D. 1. Buchstabe b; vgl. auch BSG, Urteil vom 24. April 2008, B 9/9a SB 7/06 R, und Urteil vom 10. Dezember 1987, 9a RVS 11/87).

Weitere Regelungen zum Vorliegen einer erheblichen Bewegungseinschränkung im Straßenverkehr enthalten die VMG, welche als Anlage Teil der Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) sind, die auf der Grundlage des § 30 Abs. 7 des Bundesversorgungsgesetzes erlassen wurde und gemäß § 69 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 4 SGB IX auch zur Bestimmung der Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" heranzuziehen ist. Nach den VMG Teil D. Nr. 1. Buchstabe d sind die Voraussetzungen für die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr infolge einer behinderungsbedingten Einschränkungen des Gehvermögens als erfüllt anzusehen, wenn auf die Gehfähigkeit sich auswirkende Funktionsstörungen der unteren Gliedmaßen und/oder der Lendenwirbelsäule bestehen, die für sich einen GdB von wenigstens 50 bedingen. Darüber hinaus können die Voraussetzungen bei Behinderungen an den unteren Gliedmaßen mit einem GdB unter 50 gegeben sein, wenn diese Behinderungen sich auf die Gehfähigkeit besonders auswirken, zum Beispiel bei Versteifung des Hüftgelenks, Versteifung des Knie- oder Fußgelenks in ungünstiger Stellung oder arteriellen Verschlusskrankheiten mit einem GdB von 40.

Störungen der Orientierungsfähigkeit, die zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit führen, sind bei allen Sehbehinderungen mit einem GdB von wenigstens 70 und bei Sehbehinderungen, die einen GdB von 50 oder 60 bedingen, nur in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion (z.B. hochgradige Schwerhörigkeit beiderseits, geistige Behinderung) anzunehmen. Bei Hörbehinderungen ist die Annahme solcher Störungen nur bei Taubheit oder an Taubheit grenzender Schwerhörigkeit im Kindesalter (in der Regel bis zum 16. Lebensjahr) oder im Erwachsenenalter bei diesen Hörstörungen in Kombination mit erheblichen Störungen der Ausgleichsfunktion (z.B. Sehbehinderung, geistige Behinderung) gerechtfertigt.

Demnach ist die Klägerin in ihrer Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr auch über den 24. März 2013 hinaus erheblich beeinträchtigt.

Die Klägerin hat nach der Beurteilung durch den Sachverständigen Dr. F. kein Anfallsleiden und auch keine Störung der Orientierungsfähigkeit. Allerdings leidet sie an einer Angststörung mit Panikattacken, welche bei allen Wegen außer Haus auftreten. Das Gericht geht aufgrund dieser psychischen Störung von einer psychogenen Gangstörung aus, die sich in einer ganz erheblich verlangsamten Bewältigung auch üblicher Wegstrecken äußert, so wie es bereits die versorgungsärztliche Bewertung vom 14. Januar 2010 ergeben hat. Mit dem Sachverständigen ist davon auszugehen, dass sich insofern keine Änderung gegenüber der früheren Feststellung ergeben hat. Dr. F. hat keinen Zweifel daran gelassen, dass er die Gehfähigkeit der Klägerin infolge der Angsterkrankung für erheblich beeinträchtigt hält.

Zum Merkzeichen "B": § 146 Abs. 2 Satz 1 SGB IX regelt, dass schwerbehinderte Menschen zur Mitnahme einer Begleitperson berechtigt sind, wenn sie bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf Hilfe angewiesen sind. Liegen diese Voraussetzungen vor, enthält der Schwerbehindertenausweis nach § 1 Abs. 2, § 3 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 der Schwerbehindertenausweisverordnung das Merkzeichen "B". Zu prüfen ist, ob bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig fremde Hilfe beim Ein- oder Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels notwendig ist oder bereit sein muss. Des Weiteren muss eine "ständige" Begleitung des Schwerbehinderten erforderlich sein, so dass neben dem Element der Regelmäßigkeit als weitere Voraussetzung ein Element der Dauer vorliegen muss (vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 9. Oktober 2008, L 11 SB 158/08).

Nähere Maßstäbe dazu, wann ein Schwerbehinderter zur Mitnahme einer Begleitperson berechtigt ist, sind gemäß § 69 Abs. 1 Satz 5 und Abs. 4 SGB IX der Versorgungsmedizin-Verordnung zu entnehmen. Diese enthält als Anlage die Versorgungsmedizinischen Grundsätze (VMG). Dort bestimmt Teil D. 2. zum Merkzeichen "B": Eine Berechtigung für eine ständige Begleitung ist bei schwerbehinderten Menschen (bei denen die Voraussetzungen für die Merkzeichen "G", "Gl" oder "H" vorliegen) gegeben, die bei der Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln infolge ihrer Behinderung regelmäßig auf fremde Hilfe angewiesen sind. Dementsprechend ist zu beachten, ob sie bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel regelmäßig auf fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen oder während der Fahrt des Verkehrsmittels angewiesen sind oder ob Hilfen zum Ausgleich von Orientierungsstörungen (z.B. bei Sehbehinderung, geistiger Behinderung) erforderlich sind. Die Berechtigung für eine ständige Begleitung ist anzunehmen bei - Querschnittsgelähmten, - Ohnhändern, - Blinden und - Sehbehinderten, Hörbehinderten, geistig behinderten Menschen und Anfalls- kranken, bei denen die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr gerechtfertigt ist. Die zuletzt genannten Anforderungen entsprechen den Voraussetzungen für das Merkzeichen "G".

Nach diesen Grundsätzen ist bei der Klägerin die Berechtigung für eine ständige Begleitung (Merkzeichen "B") ab 25. Juli 2014 gegeben.

Die Klägerin ist nicht seh- und hörbehindert, nicht geistig behindert und hat kein Anfallsleiden. Sie ist aber schwerbehindert mit einem GdB von 50 und ihr steht auch das Merkzeichen "G" zu, wie eben gesehen. Aufgrund der vorliegenden Befunde und der Feststellungen des Sachverständigen geht das Gericht davon aus, dass der psychische Zustand der Klägerin im streitgegenständlichen Zeitraum bis Juli 2014 so weit stabilisiert war, dass sie nicht regelmäßig bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel auf fremde Hilfe angewiesen war. So konnte sie noch zur Zeit der Begutachtung durch Dr. F. bestimmte Wege alleine zurücklegen, insbesondere den Weg zur Arbeit, wobei sie sogar umgestiegen ist.

In der Zeit danach ist es - vielleicht infolge der Kündigung ihres Arbeitsverhältnisses im März 2014 - zu einer psychischen Destabilisierung gekommen. Das belegt der Bericht der Psychologin R. vom 28. Juli 2014 und das haben auch die Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung untermauert. Das wirkt sich auch dahingehend aus, dass die Klägerin nun infolge ihrer Angsterkrankung nicht mehr in der Lage ist, öffentliche Verkehrsmittel ohne fremde Hilfe zu nutzen. Sie benötigt vielmehr fremde Hilfe beim Ein- und Aussteigen. Die Angsterkrankung der Klägerin hält das Gericht im Hinblick auf die Folgen für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel für vergleichbar mit der Situation bei einem Anfallsleiden. Beides behindert den Betreffenden zumindest potenziell regelmäßig. Mit der erheblichen Einschränkung der Gehfähigkeit ist der behinderungsbedingte Zustand der Klägerin daher für das Gericht so präsent, dass es von einem regelmäßigen Angewiesensein auf fremde Hilfe ausgeht. Dieser Zustand ist für das Gericht sicher belegt ab dem Ende der Tests, welche die Psychologin der Klägerin laut des erwähnten Berichts vom 18. bis 25. Juli 2014 durchgeführt hat.

Das Gericht verkennt nicht, dass die psychische Situation der Klägerin (therapeutisch) verbesserbar sein mag. Allerdings ist derzeit eine Besserung nicht absehbar, weswegen zur Zeit von einem dauerhaften Zustand auszugehen ist. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Klägerin weiterhin die Voraussetzungen des Merkzeichens "G" erfüllt. Mithin ist die Problematik, Wege außer Haus - auch mit Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel - zurückzulegen, auf Dauer akut.

Daher ist der Klage im oben ersichtlichem Umfang stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 183, 193 SGG. Einer vollen Kostenerstattung steht entgegen, dass das Merkzeichen "B" erst deutlich später als mit Antragstellung zuerkannt wurde und seine Bedeutung für die Klägerin geringer einzuschätzen ist als die des Merkzeichens "G. 

 


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