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OLG Stuttgart: Einstellung der BU-Rente im Nachprüfungsverfahren durch Allianz war rechtswidrig. Beschwerdevalidierungstests (BVT) sind für den Nachweis von Berufsunfähigkeit aufgrund einer Depression nicht zwingend erforderlich.

Oberlandesgericht Stuttgart, Urteil vom 14.04.2016 – 7 U 175/15 (rechtskräftig seit 21.05.2016)

Sachverhalt

Unser Mandant ist bei der Allianz Lebensversicherungs-AG gegen Berufsunfähigkeit versichert. Seit 2001 war er als selbständiger Versicherungsvertreter in einer Generalagentur der Allianz tätig. Im Jahr 2007 wurde bei ihm eine Immunschwächekrankheit diagnostiziert, die zu einer Depression führte, so dass unser Mandant seiner beruflichen Tätigkeit nicht mehr nachgehen konnte. Im Jahr 2008 erkannte die Allianz Lebensversicherungs-AG ihre Leistungspflicht an und erbrachte die Versicherungsleistungen (Rentenzahlung und Prämienbefreiung). Ein von der Allianz im Jahr 2010 durchgeführtes Nachprüfungsverfahren bestätigte die fortwährende mindestens 50%ige Berufsunfähigkeit unseres Mandanten. Im Jahr 2012 führte die Allianz ein weiteres Nachprüfungsverfahren durch und beauftragte insoweit die Neurologin und Psychiaterin Dr. Kischkel-Röhraus Regensburg. Diese kam in ihrem Gutachten zu dem Ergebnis, somatisch-neurologisch bedingte Leistungseinschränkungen unseres Mandanten würden nicht bestehen, die Depression sei gut kompensiert, er sei wieder zu weit mehr als 50% berufsfähig. Daraufhin stellte die Allianz die BU-Versicherungsleistungen zum 30.11.2012 ein. Die behandelnden Ärzte unseres Mandanten teilten die Auffassung der Privatgutachterin der Allianz nicht sondern bescheinigten vielmehr, dass keine Besserung der Beschwerdesymptomatik eingetreten war. So musste sich unser Mandant wegen der fortbestehenden depressiven Erkrankung einer akut-stationären Behandlung in einer Fachklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie unterziehen. Dennoch blieb die Allianz bei ihrer Leistungseinstellung, so dass wir eine Klage erheben mussten.

Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart

Das Landgericht Stuttgart hat der Klage nach Einholung eines internistischen und eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens stattgegeben und die Allianz Lebensversicherungs-AG verurteilt, unserem Mandanten die BU-Versicherungsleistungen über den 30.11.2012 hinaus längstens bis zum Ablauf des Versicherungsvertrages zu erbringen. Die gegen dieses Urteil von der Allianz erhobene Berufung wurde vom Oberlandesgericht Stuttgart zurückgewiesen.

Das Oberlandesgericht Stuttgart hat in seinem Urteil ausgeführt, eine Leistungseinstellung des Versicherers nach einem erklärten Leistungsanerkenntnis setze im hier zu entscheidenden Fall nach den Versicherungsbedingungen voraus, dass bei dem Versicherten eine gesundheitliche Verbesserung eingetreten ist, so dass er wieder in der Lage ist, seinen alten Beruf zu mehr als 50% auszuüben. Der Versicherer trage die Beweislast dafür, dass sich die gesundheitliche Situation so verbessert hat, dass eine Wiedergewinnung der Berufsfähigkeit vorliegt. Die Allianz Lebensversicherungs-AG habe einen entsprechenden Beweis nicht erbringen können. Im Gegenteil sei bewiesen, dass unser Mandant zu weit mehr als 50% berufsunfähig ist. Dies ergebe sich aus den detaillierten, überzeugenden und nachvollziehbaren Ausführungen der gerichtlich beauftragten psychiatrischen Sachverständigen Priv. Doz. Dr. med. Künzel (LMU Klinikum der Universität München).

Hinsichtlich des Einwandes der Allianz, die Feststellungen der Sachverständigen beruhten vorrangig auf subjektiven Angaben des Klägers und nicht auf einer objektiven Befunderhebung wies die Sachverständige Priv. Doz. Dr. med. Künzel darauf hin, dass der von ihr erhobene psychopathologische Befund sowohl Beschreibungen und Aussagen durch den Kläger selbst als auch beobachtete Emotionen und Affekte während der Untersuchung beinhaltete. In ihrer persönlichen Anhörung erläuterte die Sachverständige, dass sie sich in gewissem Umfang auf die klägerischen Angaben stützen müsse, da sie den Kläger im Rahmen der Begutachtung nicht stationär aufnehmen könne.

Dieses Vorgehen begründet nach Auffassung des Oberlandesgerichts Stuttgart keine Bedenken. Da es in der psychiatrisch-psychotherapeutischen Diagnostik keine verlässliche Methode gibt, Störungen von Befinden und Erleben durch bestimmte Messergebnisse zu objektivieren, kommt es zur Beurteilung der Berufsunfähigkeit des Versicherten wegen einer psychischen Erkrankung wesentlich auf seinen psychischen Befund an, der sich aus den Angaben des Versicherten zu seinem Erleben und Befinden sowie aus der Beobachtung des Verhaltens ergibt, wobei sich der Begutachtende zu einem erheblichen Teil auf subjektive Beschwerdeschilderungen und – in gewissem Rahmen vom Betroffenen steuerbare – Testresultate verlassen muss.

Zum Einwand der Allianz, zur weiteren Abklärung eines Aggravationsverdachts hätte die Sachverständige Beschwerde- bzw. Symptomvalidierungstests mit dem Kläger durchführen müssen erklärte die Sachverständige nachvollziehbar, sie habe auf weitere derartige Tests verzichtet, nachdem solche Testungen bereits in der Vergangenheit durchgeführt wurden. Auch dort hätten sich keine Hinweise für eine Simulation oder Aggravation des Klägers ergeben. Auch sie selbst habe bei ihrer klinischen Untersuchung des Klägers keine Hinweise für eine Aggravation oder gar Simulation des Klägers finden können.

Auch dies hat das Oberlandesgericht Stuttgart überzeugt. Zu sehen ist, dass gemäß der Sk2 – Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen (AWMF – Registernr. 051/029) auffällige Werte in Beschwerdevalidierungstests zwar als Hinweise auf bewusstseinsnah verzerrende oder verfälschende Tendenzen im mentalen Leistungsverhalten zu bewerten sind, sie allein begründen aber keine generalisierende Aussage über die Aggravation oder Simulation von psychischen Beschwerden oder beschwerdebedingten Beeinträchtigungen.

Anmerkungen RA Zeitler, Fachanwalt für Versicherungs- und Medizinrecht

Das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart ist deshalb so bemerkenswert, weil es klar Stellung bezieht zu zwei Problemkomplexen aus psychiatrischen Begutachtungen, die bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit eines Versicherten aufgrund einer psychischen Erkrankung immer wieder zu Streit zwischen Versicherten und Versicherern führen.

1. Zunächst geht es um die Befunderhebung bei einer Depression. Versicherer und die von ihnen beauftragten Privatgutachter behaupten hier regelmäßig, die Beschwerdeschilderung des Versicherten sei unbeachtlich, sie spiele im Rahmen der Befunderhebung keine Rolle, vielmehr seien die Beschwerden des Versicherten zu „objektivieren“, insbesondere durch testpsychologische Untersuchungen. Mit dieser Legende räumt das Oberlandesgericht Stuttgart mit erfreulicher Deutlichkeit auf und schließt sich dabei dem Bundesgerichtshof (Urteil vom 14.04.1999 – IV ZR 289/97), dem Hanseatischen Oberlandesgericht Bremen (Urteil vom 25.06.2010 – 3 U 60/09) und dem Saarländischen Oberlandesgericht Saarbrücken (Urteil vom 25.02.2015 – 5 U 31/14) an. Auch diese Gerichte haben bereits entschieden, dass es bei der psychiatrisch-psychotherapeutischen Diagnostik keine verlässliche Methode gibt, Störungen von Befinden und Erleben durch bestimmte Messergebnisse zu objektivieren. Vielmehr kommt es bei der Beurteilung der Berufsunfähigkeit eines Versicherten wegen einer psychischen Erkrankung wesentlich auf seinen psychischen Befund an, der sich:

·        aus den Angaben des Versicherten zu seinem Erleben und Befinden sowie

·        aus der Beobachtung seines Verhaltens

ergibt. Beschwerdeschilderung durch den Probanden und Verhaltensbeobachtung durch den Untersucher sind also die wesentlichen Parameter einer Befunderhebung auf psychiatrischem Fachgebiet, auch wenn Versicherer das erfahrungsgemäß nicht wahrhaben wollen. 

 

2. Das Oberlandesgericht Stuttgart hat auch dem Einwand der Allianz eine klare Absage erteilt, die gerichtlich beauftragte Sachverständige Priv. Doz. Dr. Künzel habe keine Beschwerde- bzw. Symptomvalidierungstests mit dem Kläger durchgeführt, um eine Aggravation und Simulation auszuschließen.

Beschwerdevalidierungstests (BVT) sind spezielle testpsychologische Untersuchungen, mit denen nach Aussage der Versicherer und der für sie arbeitenden Gutachter herausgefunden werden kann, ob ein Proband seine Beschwerden wahrheitsgemäß darstellt oder aber ob er sie bewusst und willentlich übertreibt (sog. Aggravation) oder gar vortäuscht (sog. Simulation).

Die Anwendung und die Aussagekraft derartiger Tests sind jedoch hoch umstritten. Während sie von der Versicherungswirtschaft und von den für sie arbeitenden Gutachtern als zwingend erforderlicher Bestandteil einer jeden Begutachtung einer psychischen Erkrankung eines Probanden angesehen werden, wird von Seiten der medizinischen Wissenschaft deutliche Kritik an diesen Tests vorgebracht. So weist z.B. die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) in ihrer Stellungnahme Nr. 3 / 28.01.2011 zur Anwendung von Beschwerdevalidierungstests in der psychiatrischen Begutachtung darauf hin, dass die meisten der zur Verfügung stehenden Beschwerdevalidierungstests von neuropsychologischer Seite entwickelt wurden, um die Authentizität kognitiver Störungen nach Schädel-Hirn-Verletzungen zu überprüfen. Nahezu alle dieser Beschwerdevalidierungstests untersuchen neurokognitive Störungen. Werden bei psychiatrischen Begutachtungen von den Probanden keine derartigen Probleme geltend gemacht, versagen die Test zwangsläufig von vorneherein.

Unabhängig davon kann allein mit Beschwerdevalidierungstests weder Aggravation noch Simulation objektiv nachgewiesen werden. Findet sich in einem Beschwerdevalidierungstest ein auffälliges Ergebnis, so kann dies durch ganz unterschiedliche Faktoren verursacht worden sein. Neben Simulation oder Aggravation gehören hierzu vor allem somatoforme und depressive Störungen, jedoch auch Nebenwirkungen psychotroper Substanzen. Eine Unterscheidung zwischen vorgetäuschten Hirnfunktionsstörungen und neuropsychologischen Störungen, die sich z.B. im Zuge einer Konversionsstörung entwickelt haben, ist gleichermaßen nicht möglich. Grundsätzlich sind auch immer situative Faktoren sowie Interaktionen zwischen Gutachter und Proband zu beachten, da eine zunehmende Verdeutlichungstendenz während der Begutachtung mit einem desinteressierten oder unfreundlichen Untersucher zusammenhängen kann. Keinesfalls darf ein auffälliger Befund in einem Beschwerdevalidierungstest von vornherein mit Aggravation oder Simulation gleichgesetzt werden.

 

So wird sowohl in der Sk2 – Leitlinie zur Begutachtung psychischer und psychosomatischer Erkrankungen AWMF – Registernr. 051/029 als auch in der Stellungnahme Nr. 3 / 28.01.2011 der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde darauf hingewiesen, dass Beschwerdevalidierungstests allenfalls ergänzende Indizien dafür liefern können, ob eine Aggravation oder gar Simulation des Probanden vorliegt. Kern einer Beschwerdevalidierung ist vielmehr eine sorgfältige Verhaltensbeobachtung und Exploration durch den Untersucher, bei der folgenden Hinweisen auf eine Aggravation und / oder Simulation nachzugehen ist:

·        Die subjektiv geschilderte Intensität der Beschwerden steht in einem Missverhältnis zur Vagheit der Schilderung der Symptomatik

·        Angaben zum Krankheitsverlauf sind nicht präzisierbar

·        Das Ausmaß der geschilderten Beschwerden steht nicht in Übereinstimmung mit einer entsprechenden Inanspruchnahme therapeutischer Hilfe

·        Trotz der Angabe schwerer subjektiver Beeinträchtigungen ist das psychosoziale Funktionsniveau des Betroffenen bei der Alltagsbewältigung weitgehend intakt

·        Zwischen der massiven subjektiven Beschwerdeschilderung und dem Verhalten in der Untersuchungssituation besteht eine auffällige Diskrepanz

·        Das Vorbringen der Klagen wirkt appellativ, demonstrativ oder theatralisch

·        Es entsteht die Empfindung des Unechten beim Untersucher

Vgl. zur Problematik der Berufsunfähigkeit bei psychischen Erkrankungen auch die auf unserer Internetseite besprochenen Entscheidungen des Landgerichts Berlin vom 07.09.2015 (7 O 250/13), vom 26.06.2015 (23 O 87/14), vom 29.05.2015 (23 O 236/13) und des Landgerichts Potsdam vom 11.08.2015 (12 O 265/14).

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