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OLG Stuttgart: Degenerativer Vorschaden des Schultergelenks berechtigt die Signal-Iduna Unfallversicherung nicht zur Kürzung der Unfall - Invaliditätsentschädigung

Ist ein Unfall ursächlich für eine dauerhafte Schädigung im Schultergelenk, berechtigen degenerative Vorschäden des Schultergelenks, die vor dem Unfall weder behandlungsbedürftig waren noch zu einer Funktionsbeeinträchtigung geführt hatten, nicht zur Kürzung der Invaliditätsentschädigung.

Urteil OLG Stuttgart v. 07.08.2014

Der Kläger macht gegenüber der Beklagten Ansprüche aus einer Unfallversicherung auf Zahlung von weiterem Krankentagegeld und einer weiteren Invaliditätsleistung geltend.

Am 03.02.2011 rutschte der Kläger beim Entladen von Ware aus seinem vor seiner Gaststätte abgestellten Pkw auf einer vereisten Stelle aus und fiel auf die rechte Schulter. Nach einer kernspintomografischen Untersuchung wurde wegen des Verdachts auf eine Rotatorenmanschettenruptur an der rechten Schulter am 28.02.2011 eine Operation durchgeführt, bei der ein Defekt der Rotatorenmanschette zum Teil operativ verschlossen und die lange Bizepssehne durchtrennt wurde. Der Raum unter dem Schulterdach wurde erweitert. Nachfolgend kam es zu einer postoperativen Infektion und es erfolgten Revisionseingriffe.

Da eine dauerhafte Funktionsbeeinträchtigung vorlag, beantragte der Kläger bei der Beklagten, bei der er seit 1979 eine Unfallversicherung unterhielt, Leistungen aufgrund von Invalidität und ein Krankentagegeld. Die Beklagte ließ im Juli 2011 ein fachorthopädisch-unfallchirurgisches Sachverständigengutachten durch sowie im Juli 2012 ein unfallchirurgisch/orthopädisches Gutachten durch erstellen. Sie leistete sodann entsprechend dem Abrechnungsschreiben vom 02.08.2012 an den Kläger Krankentagegeld in Höhe von 3.308,80 € und eine Invaliditätsleistung aufgrund eines Invaliditätsgrades von 11,2 % in Höhe von 17.920,00 €. Hierbei nahm die Beklagte eine Herabsetzung des Prozentsatzes des Invaliditätsgrades sowie eine teilweise Leistungskürzung beim Tagegeld vor und berief sich auf die Feststellungen der Sachverständigen und die Bestimmung in Ziffer 3 der im Vertragsverhältnis der Parteien vereinbarten „Allgemeinen Unfallversicherungs-Bedingungen … - im Folgenden: AUB 2008.

Dort heißt es wie folgt:

„Welche Auswirkungen haben Krankheiten und Gebrechen?

Als Unfallversicherer leisten wir für Unfallfolgen. Haben Krankheiten oder Gebrechen bei einer durch ein Unfallereignis verursachten Gesundheitsschädigung oder deren Folgen mitgewirkt, mindert sich- im Falle einer Invalidität der Prozentsatz des Invaliditätsgrades,- im Todesfall und, soweit nichts anderes bestimmt ist, in allen anderen Fällen die Leistung

entsprechend dem Anteil der Krankheit oder des Gebrechens.

Beträgt der Mitwirkungsanteil weniger als 25 %, unterbleibt die Minderung.“

Die Beklagte hat mit Schreiben vom 24.08.2012 weitere Leistungen abgelehnt.

Der Kläger ist der Auffassung, eine Kürzung der Versicherungsleistung aufgrund eines Vorschadens scheide aus. Er habe bis zum Unfalltag keine Einschränkungen oder andauernde Funktionsbeeinträchtigungen an der rechten Schulter verspürt. Etwaige Vorschädigungen seien normale Verschleißerscheinungen und altersentsprechend. Ausgehend vom Abrechnungsschreiben der Beklagten vom 02.08.2012 trägt er vor, dass für die eingetretene Invalidität eine Gesamtzahlung in Höhe von 44.800,00 € abzüglich der von der Beklagten hierauf geleisteten Zahlung in Höhe von 17.920,00 € sowie hinsichtlich des Krankentagegelds eine weitere Zahlung in Höhe von 3.283,20 € begründet seien.

Die Beklagte ist der Auffassung, dass eine Kürzung ihrer Leistungen gemäß Ziff. 3 der zwischen den Parteien vereinbarten AUB 2008 zu Recht erfolgt sei. Die Vorschädigung der rechten Schulter des Klägers habe deutlich über dem altersgerechten Verschleiß gelegen. Der unfallfreie Mitwirkungsanteil liege weit oberhalb von 25 %.

Das Landgericht Heilbronn hat nach Einholung eines Gutachtens vom 08.07.2013 die Klage abgewiesen.

Mit der Berufung verfolgt der Kläger seine erstinstanzlichen Anträge weiter; er wiederholt und vertieft sein erstinstanzliches Vorbringen. Er verweist ergänzend auf den Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 08.07.2009 - IV ZR 216/07 (VersR 2009, 1525).

Der Kläger ist der Ansicht, bei der Beurteilung degenerativer Veränderungen sei auf einen individuellen Maßstab abzustellen, insbesondere auf die konkreten Belastungen und Beanspruchungen des Klägers.

Die zulässige Berufung des Klägers ist begründet.

Der Kläger hat aufgrund des mit der Beklagten abgeschlossenen Unfallversicherungsvertrages Anspruch auf Zahlung von weiteren 3.283,20 € Krankentagegeld und einer weiteren Invaliditätsleistung von 26.880,00 € sowie auf Zahlung der geltend gemachten Nebenforderungen.

Soweit sich die Beklagte auf die Kürzung ihres Leistungsanspruches gemäß Ziff. 3 der AUB 2008 beruft, hat sie den ihr obliegenden Nachweis (vgl. § 182 VVG) des Mitwirkens von Krankheiten oder Gebrechen an der verursachten Gesundheitsschädigung oder deren Folgen nicht erbracht.

a) Gemäß § 182 VVG hat der Versicherer die Voraussetzungen für einen Wegfall oder eine Minderung des Anspruchs nachzuweisen. Dafür gelten die Regeln des Strengbeweises. Zweifel am Vorliegen einer mitwirkenden Krankheit oder eines mitwirkenden Gebrechens gehen daher zu Lasten der Beklagten.

b) Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist zwar davon auszugehen, dass bei dem Kläger nicht unerhebliche, über das geschlechts- noch altersentsprechende Maß hinausgehende, degenerative Vorschädigungen im Bereich des rechten Schultergelenks vorgelegen haben. Es lässt sich aber nicht feststellen, dass es sich dabei um „Krankheiten oder Gebrechen“ im Sinne von Ziff. 3 AUB 2008 handelte.

c) Für die Abgrenzung der beiden Begriffe sind folgende Definitionen allgemein anerkannt (vgl. Bruck/Möller, 9.A., § 182 VVG, Rn. 6 m. w. N.):

Unter Krankheit ist ein regelwidriger - in der Regel heilbarer - Körper- oder Geisteszustand von einer gewissen (eher vorübergehenden) zeitlichen Dauer zu verstehen, der eine ärztliche Behandlung erfordert.

Als Gebrechen wird ein dauernder abnormer Gesundheitszustand verstanden, der die Ausübung normaler Körperfunktionen jedenfalls teilweise behindert (vgl. z.B. BGH NJW-RR 2010, 39).

d) Die Beweisaufnahme, insbesondere die mündliche Anhörung des Sachverständigen durch den Senat, hat nicht ergeben, dass der Kläger hinsichtlich seiner Vorschädigung behandlungsbedürftig gewesen wäre oder unter irgendwelchen Funktionseinschränkungen vor dem Unfall gelitten hätte.

Weder anhand der im Rechtsstreit vorgelegten bzw. des vom Landgericht eingeholten schriftlichen Sachverständigengutachtens und der hierfür herangezogenen schriftlichen Unterlagen noch anhand der weiteren Befragung des Sachverständigen … durch den Senat lassen sich ausreichende Tatsachen für das Vorliegen einer Krankheit oder eines Gebrechens feststellen.

aa) Die Beklagte hat weder dazu vorgetragen noch liegen sonst Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger vor dem Unfallereignis vom 03.02.2011 wegen degenerativen Vorschädigungen am rechten Schultergelenk in ärztlicher Behandlung gewesen war.

Der vom Senat angehörte Sachverständige … erklärte, dass es zahllose Menschen gebe, die nachweisbar eine solche degenerative Vorschädigung wie der Kläger aufweisen und nichts davon spüren und nicht eingeschränkt seien. Deshalb sei plausibel, wenn jemand trotz ausgeprägter degenerativer Vorschäden angebe, keine Beschwerden zu haben. In diesen Fällen sei eine ärztliche Behandlung auch nicht angezeigt und würde selbst dann nicht erfolgen, wenn eine entsprechende Diagnose bekannt wäre. Erst wenn Beschwerden auftreten, sei es angezeigt, diese zu lindern.

Diesen Ausführungen schließt sich der Senat auch unter Berücksichtigung des Inhalts der vorgelegten vorgerichtlichen Gutachten, die sich zu diesem Aspekt nicht äußern, an. Ein behandlungsbedürftiger regelwidriger Körperzustand kann daher beim Kläger nicht festgestellt werden.

bb) Es kann auch nicht festgestellt werden, dass an der rechten Schulter des Klägers vor dem Unfall ein Gebrechen vorgelegen hätte.

Der Sachverständige … hat insoweit ausgeführt, trotz des objektiven klinischen Erscheinungsbildes sei es häufig so, dass solche Vorschädigungen klinisch stumm verliefen und die Betroffenen keinerlei Symptome verspüren und keinerlei Einschränkung des Schultergelenks bestehe.

Anhaltspunkte dafür, dass dies beim Kläger anders gewesen sei, lassen sich nicht feststellen. Die Beklagte hat nicht geltend gemacht, dass der Kläger vor dem Unfallereignis vom 03.02.2011 an der Ausübung normaler Körperfunktionen im Bereich der rechten Schulter teilweise behindert gewesen wäre.

Es lässt sich somit nicht feststellen, dass beim Kläger vor dem Unfall ein dauernder abnormer Gesundheitszustand, welcher eine einwandfreie Ausübung normaler Körperfunktionen nicht mehr zugelassen hätte, bereits vorgelegen hat. Den ihr obliegenden Nachweis für die Voraussetzungen einer Leistungsminderung gemäß Ziff. 3 AUB 2008 hat die Beklagte damit nicht erbracht.

Anmerkung Rechtsanwalt Dr. Büchner, Fachanwalt für Versicherungs- und Medizinrecht

Das Urteil ist zu begrüßen, da es sich mit der durch den BGH in der Entscheidung v. 08.07.2009 - IV ZR 216/07 (VersR 2009, 1525) gefunden Auslegung des Begriffs des Gebrechens auseinandersetzt, welche von den Instanzgerichten verschiedentlich als Erweiterung der ursprünglichen Gebrechensdefinition interpretiert worden ist – was allerdings bezweifelt werden darf!

Da Versicherer beim Versuch, die Invalidität herunterzureden,  im Bereich der altersentsprechenden degenerativen Mitwirkung über den Krankheitsbegriff regelmäßig nicht weiterkommen, wurde seit der BGH-Entscheidung zunehmend über den Gebrechensbegriff argumentiert, welcher vom Wortlaut her eine derartige Auslegung nicht zulässt. Das OLG Stuttgart ist diesem Versuch nunmehr zu Recht entgegengetreten. Man kann im Grunde nur hoffen, dass diese Entscheidung erneut zum BGH gelangt, so dass dieser die Gelegenheit bekommt, ggf. seine Entscheidung aus dem Jahre 2009 noch einmal zu erläutern.

Wichtig für alle Versicherungsnehmer ist in allen Fällen, in denen eine Unfallversicherung Kürzungen wegen angeblicher mitwirkender Vorerkrankungen oder Gebrechen vornimmt, diese Entscheidung durch den auf privates Unfallversicherungsrecht spezialisierten Fachanwalt prüfen zu lassen. Wie die Entscheidung einmal mehr verdeutlicht geht es in der Regel um sehr viel Geld.

Beim Kläger lag aufgrund der eingetretenen Funktionsbeeinträchtigung des rechten Armes bei einer ein Invaliditätsgrad von 28 % vor, was bei der versicherten Invaliditätssumme von 160.000,00 € einen Anspruch in Höhe von 44.800,00 € bedeutet hat. Die Beklagte hatte jedoch die Entschädigung aufgrund der behaupteten Mitwirkung  um 60% gekürzt und  lediglich 17.920,00 € ausbezahlt, sodass dem Kläger noch weitere 26.880,00 € zugesprochen worden sind.

Anmerkung v. 02.05.2016: Unterdessen ist die Nichtzulassungsbeschwerde der Signal-Iduna Unfallversicherung durch Beschluss des Bundesgerichtshofes vom 27.01.2016 endgültig zurückgewiesen worden, so dass das Urteil des OLG Stuttgart rechtskräftig ist.


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