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Langericht Berlin: Kreissägenverletzung war keine Selbstverstümmelung; Arag – Unfallversicherung wird verurteilt lebenslange Unfallrente i.H.v. € 545,00 nebst einer weiteren Invaliditätsentschädigung i.H.v. € 26.160,00 zu zahlen.

Urteil Landgericht Berlin v. 27.07.2006, Az. 7 O 534/04

Tatbestand

Zwischen den Parteien besteht ein Unfallversicherungsvertrag, nach dem sich die Beklagte verpflichtete, dem Kläger bei einer unfallbedingten Invalidität von 33 % bis unter 66 % eine monatliche Rente von 545,00 € zahlen. Nach § 9 (3) der einbezogenen AURB-98 gilt als fester Invaliditätsgrad bei Verlust oder Funktionslosigkeit des Daumens 20 %, des Zeigefingers 10 % und der übrigen Finger jeweils 5 %.

Am 8.12.2000 verletzte sich der Kläger beim Zersägen von Holzlatten den Daumen und sämtliche Finger mit Ausnahme des kleinen Fingers der rechten Hand. Am 18.12.2000 stellte der behandelnde Arzt im Urban-Krankenhaus eine komplexe Verletzung der rechten Hand d 1 - d 4, eine traumatische (Teil-) Amputation d 3, Gelenkversteifungen d 1 und d 2 sowie bezüglich der Mittelhand FX MC II fest. Im Rahmen ihrer Leistungsprüfung holte die Beklagte zwei Gutachten ein. Der Dr. med. Büscher kam in seinem Gutachten vom 27.12.2001 zu dem Ergebnis, der Unfall habe an der rechten Hand Dauerschäden mit einem Invaliditätsgrad von 31 % hinterlassen. Dr. med. Eisenschenk stellte in seinem Gutachten vom 28.10.2002 einen Invaliditätsgrad von 32,5 % fest. Wegen der Einzelheiten wird insoweit Bezug genommen auf die Anlagen K 6 und K 8.

Der Kläger, der Rechtshänder ist, hatte zu dem Unfallhergang zunächst vorgetragen, er habe sich die Verletzungen zugezogen, weil er mit einer Kettensäge abgerutscht sei. Nachdem die Beklagte daraufhin die Unfreiwilligkeit des Unfallereignisses in Frage gestellt hatte, trägt der Kläger nunmehr vor, er sei mit der rechten Hand in das Sägeblatt einer Tischsäge geraten, als er einen Holzscheit habe durchsägen wollen. Im Übrigen behauptet er, aufgrund der bei diesem Unfall erlittenen Verletzungen sei bei ihm eine Invalidität von mehr als 33 % eingetreten.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte aus dem zwischen den Parteien bestehenden Unfallversicherungsvertrag einen Anspruch auf Zahlung einer Invaliditätsrente in Höhe der vereinbarten 545,00 € und zwar gemäß § 9 1.1 a AURB rückwirkend ab 1.12.2000.

Soweit die Beklagte einen bedingungsgemäßen Unfall im Sinne des § 1 III. AURB bestreitet, ist dies unbeachtlich. Der Kläger hatte zwar zunächst vorgetragen, er habe sich die Verletzungen an der rechten Hand zugezogen, weil er mit einer Kettensäge abgerutscht sei. Insoweit ist der Beklagten zuzugestehen, dass dieser Geschehensablauf für eine freiwillige Herbeiführung der Verletzungen spricht, weil der Kläger Rechtshänder ist und davon auszugehen ist, dass er eine solche Säge mit normalerweise mit der rechten Hand geführt hätte. Diesen Vortrag hat der Kläger jedoch mit der Begründung, dass es sich dabei um ein Missverständnis handelt, insoweit richtig gestellt, als er nunmehr vorträgt, er sei tatsächlich mit der rechten Hand in eine Tischsäge geraten. Diesen Vortrag bestreitet die Beklagte nicht, so dass dieser gemäß § 138 Abs. 3 ZPO als zugestanden anzusehen ist.

Für dieses Unfallereignis wird gemäß § 180 a WG die Unfreiwilligkeit vermutet, so dass die Beklagte als Versicherer darlegungs- und beweispflichtig für eine freiwillige Herbeiführung der Verletzungen ist (vgl. BGH VersR 98,1231). Ob der Kläger gegebenenfalls grob fahrlässig gehandelt hat, weil er beim Zersägen der Holzlatten keine entsprechenden Schutzmaßnahmen getroffen hat, kann ebenfalls dahinstehen. Denn eine freiwillige Gesundheitsschädigung ist nur dann anzunehmen, wenn der Versicherte mit bedingtem Vorsatz aktiv die Gesundheitsschädigung herbeiführt oder passiv ein Ereignis auf sich einwirken lässt und somit die Gesundheitsschädigung duldet. Eine bewusste Fahrlässigkeit reicht zur Annahme der Freiwilligkeit ebenso wenig aus, wie eine etwaig grob fahrlässige Herbeiführung des Versicherungsfalles. Denn § 61 WG, wonach der Versicherer von der Verpflichtung zur Leistung frei wird, wenn der Versicherungsnehmer den Versicherungsfall vorsätzlich oder durch grobe Fahrlässigkeit herbeiführt, gilt nur für die Schadensversicherung, nicht aber für die Unfallversicherung als Summenversicherung (BGH NVersZ 99, 36, OLG Hamm r + s 87, 33).

Dass der Kläger den von ihm zuletzt geschilderten Unfall danach zumindest bedingt vorsätzlich herbeigeführt hat, dafür hat die Beklagte nichts unter Beweisantritt vorgetragen.

Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme steht zur Überzeugung des Gerichts auch fest, dass der Kläger durch die unfallbedingten Verletzungen dauerhaft zu 38 % invalid geworden ist, so dass die Beklagte verpflichtet ist, ihm die vertraglich vereinbarte Rente bei einem Invaliditätsgrad von 33 % bis unter 66 % zu zahlen.

Der Sachverständige hat im Einklang mit den von der Beklagten eingeholten Gutachten festgestellt, dass der Daumen funktionell vollständig wegen der Einsteifung im Unter- und Endgelenk sowie dem kompletten Verlust der Sensibilität vollständig wertlos ist. Bezüglich der Finger ist den von den beiden von der Beklagten vorgelegten Gutachten abweichenden Einschätzung des Sachverständigen ebenfalls zu folgen. Da danach die Beweglichkeit des End- und Mittelgelenks des rechten Zeigefingers aufgehoben ist und ein kompletter Verlust der Sensibilität vorliegt, ist insoweit im Gegensatz zu den nicht weiter begründeten Einschätzungen der Dres. Büscher und Eisenschenk mit dem Sachverständigen von einer völligen Funktionslosigkeit dieses Fingers auszugehen. Bezüglich des Mittelfingers hat der Sachverständige festgestellt, dass die Amputation nicht im Mittelgelenk erfolgte sondern körpernah, so dass wegen der Kürze des Grundgliedstumpfes und dessen stark eingeschränkten Beweglichkeit eine Beeinträchtigung von 8/10 anzunehmen ist. Hinsichtlich des Ringfingers hat der Sachverständige festgestellt, dass dessen Sensibilität reduziert, das Endgelenk komplett eingesteift und das Grund- sowie Mittelgelenk in der Beweglichkeit eingeschränkt ist, so dass auch insoweit der Einschätzung des Sachverständigen, dass dieser Finger zu 8/10 funktionsbeeinträchtigt ist, zu folgen ist.

Unter Berücksichtigung der Gliedertaxe des § 9 (3) AURB steht damit eine Invalidität bezüglich des Daumens von 20 %, des Zeigefingers von 10 % und des Mittel- sowie Ringfingers von jeweils 4 % fest, so dass der für die Gewährung der Invaliditätsrente erforderliche Invaliditätsgrad von mindestens 33 % erreicht ist.

Anmerkung Rechtsanwalt Dr. Büchner, Fachanwalt für Versicherungsrecht und Medizinrecht

Die Arag – Unfallversicherung unterstellte von Beginn an, dass unser Mandant sich die Verletzungen absichtlich selbst beigebracht habe und behauptete das auch im Prozess weiter. Da man sich jedoch nicht sicher war, ob die Unterstellung einer Selbstverstümmelung vor Gericht halten würde, bot die Arag im Vorfeld eine Abfindung auf Basis einer Invalidität nach Gliedertaxe in Höhe von 32,5% an, was einer weiteren Zahlung i.H.v. 10.000 € entsprochen hätte. Die eingeforderte Unfallrente wäre nicht zu leisten gewesen.

Die von der Arag zunächst beauftragten Gutachter rechtfertigten das interessengerechte Ergebnis mit folgenden Berechnungen:

Gutachten Krankenhaus Am Urban v. 27.12.2001

10/10 Daumen                 20%

7/10 Zeigefinger                 7%

5/10  Mittelfinger              2,5%

5/10  Ringfinger                2,5%

Gesamtinvalidität           32%

 

Gutachten Unfallkrankenhaus Berlin v. 28.10.2002 (PD Dr. Eisenschenk)

 

10/10 Daumen                 20%

8/10 Zeigefinger                 8%

6/10  Mittelfinger                3%

3/10  Ringfinger                1,5%

Gesamtinvalidität          32,5%

 

Der gerichtliche Gutachter kam zu folgender Bewertung:

10/10 Daumen                 20%

10/10 Zeigefinger             10%

8/10  Mittelfinger                4%

8/10  Ringfinger                  4%

Gesamtinvalidität            38%

Allein die von uns berechnete Invaliditätsentschädigung, welche das Gericht dann auch voll ausgeurteilt hat, lag bei € 26.160,00. Da vertragsgemäß die Unfallrentenzahlung erst bei 33% Invalidität beginnt, nahm es nicht Wunder, dass die Gutachter der Arag Unfallversicherung bei ihrer Berechnung der Gesamtinvalidität 0,5 % unter dem erforderlichen Wert bleiben, so dass wir unserem Mandanten unter keinen Umständen raten konnten, das „Angebot“ der Arag anzunehmen.

Der hier vorgestellte Sachverhalt ist typisch für Regulierungen privater Unfallversicherungen, wenn einer Unfallrente zu zahlen ist. Rein zufällig bleiben die von den Versicherungen beauftragten „Gutachter“ immer ganz knapp unter dem Invaliditätswert, welcher die Zahlung einer lebenslangen Unfallrente bedingt. Hier kamen sogar zwei Gutachter zu dem nahezu gleichen Ergebnis, nämlich dass eine Invalidität i.H.v. 32% bzw. 32,5% vorgelegen haben soll, so dass die Grenze von 33% nicht erreicht war.

Der gerichtliche Gutachter kam mit 38% zu einem deutlich abweichendem Ergebnis, so dass die Arag Unfallversicherung schließlich verurteilt wurde, unserem Mandanten eine lebenslange monatliche Unfallrente i.H.v. 545 € zu zahlen.

 

Wir können Unfallopfern in dieser Situation nur dingend raten, einen auf private Unfallversicherung spezialisierten Fachanwalt für Versicherungsrecht zu konsultieren!


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