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BSG: Ein gerichtliches Gutachten welches das Krankheitsbild Generalisierte Tendomyopathie ( Fibromyalgie ) negiert, darf durch ein Sozialgericht nicht Entscheidungsgrundlage verwertet werden.

Urteil BSG v. 09.04.2003

Das Sozialgericht hatte den Antrag der Klägerin auf Erwerbsminderungsrente durch Urteil zunächst abgewiesen. Im Berufungsverfahren hat sie unter Hinweis auf die gutachtliche Stellungnahme eines Psychologen vorgetragen, es müsse abgeklärt werden, ob das vom Gericht eingeholte Gutachten wissenschaftlichen Kriterien entspreche. Als gerichtlich bestellter Sachverständiger hat dann ein Internist und Rheumatologe ein weiteres Gutachten erstattet in dem erstmals die Hauptdiagnose Generalisierte Tendomyopathie (Synonym für Fibromyalgie) gestellt wird. Ungeachtet dieses ganz im Vordergrund stehenden Krankheitsgeschehens hielt der Sachverständige die Klägerin jedoch weiterhin für fähig, leichte Arbeiten vollschichtig auszuüben. Die Klägerin hat im Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem LSG Baden-Württemberg den Antrag gestellt, ein erneutes neurologisch-psychiatrisches Gutachten einholen zu lassen, um die geistig-seelische Belastbarkeit der für leichte vollschichtige Tätigkeit unter Einbeziehung der Diagnosen Fibromyalgie, ´Das LSG hat die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 17.1.2001 zurückgewiesen: Die neurologisch-psychiatrischen Einschränkungen seien, wie vom bereits vorliegenden Gutachten festgestellt, nicht gravierend. Für eine weitere medizinische Sachverhaltsaufklärung bestehe kein Anlass, da das vorliegende neurologisch-psychiatrische Gutachten hinreichend sei. Auch wenn dieses Gutachten die Diagnose einer Fibromyalgie ausdrücklich ausgeschlossen habe, rechtfertige dies nicht die Einholung eines weiteren Gutachtens, denn die aus dieser Diagnose resultierenden Leistungseinschränkungen seien von Dr. B. und Dr. R. umfassend gewürdigt worden.

Die (vom Senat zugelassene) Revision stützt die Klägerin auf eine Verletzung des § 44 SGB VI und des § 103 SGG. Das LSG hätte sich gedrängt fühlen müssen, dem Beweisantrag stattzugeben, denn das bisher vorliegende neurologisch-psychiatrische Gutachten sei - für das LSG erkennbar - von einer unzutreffenden Tatsachengrundlage ausgegangen, d.h. der Unkenntnis der Diagnose Fibromyalgie. Damit aber sei das gesamte Gutachten infrage gestellt und nicht mehr verwertbar.

Anmerkung von Rechtsanwalt Dr. Büchner:

Die Entscheidung des BSG kann zehntausenden von Fibromyalgiepatienten wieder Hoffnung geben, von den Gerichten zumindest ernst genommen zu werden. Das BSG hat nach unserem Dafürhalten einem nicht hinnehmbaren Trend unter medizinischen Gutachtern, Fibromyalgie als Krankheitsbild schlichtweg zu negieren und als „unwissenschaftlich“ abzuqualifizieren, ein Zeichen entgegengesetzt. Der Begriff der „Fibromyalgie“ beruht auf einer Veröffentlichung von Prof. Frederick Wolfe für das American College of Rheumatology aus dem Jahre 1990 und ist seither in der medizinischen Wissenschaft umstritten. Nachdem Wolfe im Jahre 2003 seine ursprünglich aufgestellten diagnostischen Kriterien für das Krankheitsbild zumindest relativiert hatte, wird das Krankheitsbild von einem Teil der medizinischen Literatur offenbar als hinfällig angesehen. Diese Auffassung, welche von Gutachtern gern aufgegriffen wird, dürfte - wie das Bundessozialgericht bestätigt - ebenso undifferenziert wie falsch.

Tatsache ist, daß die diagnostischen Kriterien, welche bisher unter der Diagnose Fibromyalgie zusammengefasst worden sind, auch weiterhin durch die internationale ICD-10 Klassifikation unter Rheumatismus, Fibromyalgie bzw. Fibrositis (B ICD 10 M 79.0) zusammengefasst werden. Auch wenn das Krankheitsbild Fibromyalgie aktuell verstärkt als psychosomatisches Krankheitsbild angesehen wird, heiß das nicht, dass es durch Gutachter nicht ernst genommen oder gar abqualifiziert werden darf. Im Gegenteil, egal ob man die Fibromyalgie grundsätzlich als körperliche oder als psychische Erkrankung begreift, bedarf sie im Rechtsstreit, wenn der Versicherte die entsprechenden Symptome klagt, einer umfassenden Abklärung durch den Sachverständigen, ggf. sind auch unterschiedliche Fachgruppen anzuhören (z.B. Orthopäde, Rheumatologe und Schmerztherapeut)


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